Vom tapfern Königssohn
Es war einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder und hätten doch so gerne einen Sohn oder eine Tochter gehabt. Da ließ der König einen Sterndeuter kommen, der sollte ihm wahrsagen, ob die Königin wohl ein Kind gebären würde. Der Sterndeuter antwortete: »Die Königin wird einen Sohn gebären; wenn er aber erwachsen ist, wird er euch den Kopf abschneiden.« Da erschrak der König und ließ in einer einsamen Gegend einen hohen Thurm bauen ohne Fenster. Als nun die Königin einen Sohn gebar, ließ er ihn mit seiner Amme in den Thurm einsperren. Nun lebte das Kind in dem Thurm und wuchs einen Tag für zwei, und wurde immer stärker und schöner. Er kannte aber nur die Amme und hielt sie für seine Mutter. Nun begab es sich eines Tages, daß er ein Stück Zicklein aß und darin einen spitzen Knochen fand. Den verwahrte er und fing an damit zum Spaß die Mauer aufzukratzen. Das Spiel gefiel ihm und er setzte es fort, bis er ein kleines Loch gebohrt hatte, durch das ein Sonnenstrahl in sein Zimmer fiel. Ganz verwundert grub er weiter und bald war das Loch so groß, daß er den Kopf hinausstecken konnte. Als er nun das schöne Feld mit den tausend Blumen sah und den blauen Himmel und das weite Meer, rief er seine Amme und frug sie, was denn das Alles sei. Da erzählte sie ihm von den großen Ländern, die es gebe und von den schönen Städten, also daß er eine unwiderstehliche Sehnsucht bekam, in das Weite zu ziehen und alle diese Wunder selbst zu sehen. »Liebe Mutter,« sprach er, »ich halte es in dem finstern Thurm nicht mehr aus, wir wollen fort und die Welt besehen.« »Ach mein Sohn,« sprach die Amme, »was willst du in die weite Welt ziehen? Hier haben wir es ja gut, wir wollen lieber hier bleiben.« Er bat sie aber inständigst, sie möchte doch mit ihm gehen, und weil sie ihn so lieb hatte und ihm Nichts abschlagen konnte, so gab sie denn endlich nach, schnürte ihr Bündelchen und zog mit ihm in die weite Welt. Als sie viele Tage lang gewandert waren, kamen sie eines Tages in eine ganz einsame Gegend, wo sie Nichts zu essen fanden. Da sie nun dem Verschmachten nahe waren, sahen sie in der Ferne ein schönes Schloß stehen und gingen darauf zu, um sich etwas Speise zu erbitten. Als sie aber an das Schloß kamen, war weit und breit kein Mensch zu sehen. Sie stiegen die Treppe hinauf und schritten durch alle Zimmer, es war aber Niemand da. In einem Zimmer war ein Tisch mit köstlichen Speisen gedeckt. »Mutter,« sprach der Königssohn, »es ist ja doch Niemand hier. Wir wollen uns hinsetzen und essen.« Also setzten sie sich hin und nahmen von den Speisen, dann betrachteten sie die Zimmer und alle die Reichthümer, die sie enthielten. Auf einmal sah die Amme von Weitem eine Schaar Räuber kommen. »Ach, mein Sohn,« rief sie, »das sind gewiß die Besitzer dieses Schlosses, wenn