Es war einmal ein armer Mann, der hatte drei Söhne.
Der Älteste war stark und stolz, der Zweite war klug und verschlagen, der Jüngste aber still und von allen gering geachtet.
Als der Vater starb, blieb den Brüdern nichts als ein alter Pflug und ein kleines Häuschen. Da sprachen die beiden Älteren:
„Was sollen wir mit dem dummen Jüngsten? Er kann uns doch nichts nützen. Lass ihn hinaus in die Welt ziehen, so haben wir ein Esser weniger.“
Und sie gaben ihm ein Stück trockenes Brot und jagten ihn davon.
Der Jüngste wanderte traurig durch den Wald. Da kam ein schwarzer Rabe geflogen, setzte sich auf einen Ast und sprach mit menschlicher Stimme:
„Gib mir dein Brot, und ich will dir beistehen in Not.“
Der Bursch teilte ohne Zögern, und der Rabe fraß die Hälfte. Da nickte er und rief:
„Komm, folge mir! Ich will dir Glück bringen.“
Nach langem Flug gelangten sie zu einem Schloss, darin wohnte ein König, dessen Tochter von einer bösen Hexe verzaubert war. Niemand konnte sie erlösen, es sei denn, einer bestünde drei schwere Prüfungen.
Schon viele hatten ihr Leben dabei verloren.
Der König ließ den Jüngsten vortreten und sprach:
„Wer meine Tochter erlöst, soll sie zum Weib und das halbe Reich dazu gewinnen. Misslingt es dir, so kostet es dein Haupt.“
Der Jüngste erschrak, doch der Rabe raunte ihm zu: „Hab keine Furcht, ich helfe dir.“
Die erste Aufgabe war, in einer Nacht hundert Körner goldenen Weizens zu sammeln, die die Hexe über das ganze Schloss verstreut hatte.
Da rief der Rabe tausend Vögel herbei, und im Morgengrauen lag das Maß voll.
Die zweite Aufgabe war, einen Strom aus Milch mit bloßen Händen auszuschöpfen.
Der Bursch verzagte, doch da stürzte sich der Rabe in die Fluten, und tausend Raben folgten ihm. Gemeinsam tranken sie den Strom leer, bis nur noch ein silberner Sandgrund glänzte.
Die dritte Aufgabe war die schwerste: In einem Saal standen drei Jungfrauen, alle gleich an Gestalt und Kleidung. Nur eine war die Königstochter, die anderen waren Blendwerk der Hexe. Wählte er falsch, war er verloren.
Da flog der Rabe zur Rechten, hackte ihr an den Schuh, und der Jüngste wusste: „Dies ist die Wahre!“
Im selben Augenblick zerbrach der Zauber, die Hexe schrie und verschwand in Staub und Rauch. Die Königstochter aber fiel dem Burschen um den Hals und sprach:
„Du hast mich erlöst, nun sei mein Gemahl.“
Da freute sich der König, gab ein großes Fest, und der Jüngste ward zum Prinzen erhoben.
Die beiden älteren Brüder aber irrten noch lange als Bettler in der Welt umher und erfuhren bittere Not.
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.
© 2025 Mario Eberlein