Vor vielen, vielen Jahren lebte der Sänger Amahar. Seine Heimat war überall und nirgendwo. Er zog von Ort zu Ort und erfreute die Menschen in einsamen Gegenden oder auf großen Marktplätzen in Städten mit Liedern aus längst vergessenen Zeiten. Lohn für seinen Gesang gab es nur wenig, aber es reichte, um nicht zu verhungern. Sein ganzer Besitz bestand aus einem Rucksack und einem alten Gaul, der mit müden Beinen und hängendem Kopf neben ihm her trottete, jedoch allzeit ein guter Zuhörer war.
Amahars Haar reichte bis zum Gürtel. Aber der Bart erst! Um nicht draufzutreten, trug er ihm um den Hals gewickelt, das war gleichzeitig gut gegen die Kälte, die nun in ihm hochkroch. Der Weg, den er in Gedanken an sein tristes Leben eingeschlagen hatte, führte ihn durch unbekanntes, verschneites Gebirge. Die Dunkelheit rückte näher und ein langer, weiter Weg schien vor ihm zu liegen, da er nicht ein Lichtlein sehen konnte, soweit er seine Augen auch schweifen ließ. Der Rucksack gab noch einen Kanten Brot her, den er mit seinem alten Gaul teilte. Gegen den Durst kauten sie Schnee.
Verzagt blickte der Sänger hinauf zum Felsmassiv. Es schien nur einen Weg durch diese unwirtliche Gegend zu geben. Eigenartigerweise sah er keinen Rückweg mehr, einfach verschwunden, wie nie dagewesen. Was blieb ihm weiter übrig, als voranzuschreiten? Rechts und links des Weges taten sich unvermittelt Schluchten auf. Es galt auf der Hut zu sein, um nicht an besonders engen Stellen abzurutschen und in einen gähnenden, wie auf Opfer wartenden Schlund zu stürzen. Das war das Gebiet von Bardaros, ein Diener des Bösen. Hoch oben im ewigen Eis, wohin kein Mensch freiwillig je einen Fuß setzen würde, hauste er. Seit Wochen hielt Bardaros die schöne Bodofilia, einzige Tochter des Dorfschmieds Udakar gefangen. Die Menschen nannten sie auch Bodofilia, die goldene Stimme im Wind, weil der Wind nie müde wurde, ihre wunderschönen Lieder bis in die tiefsten Täler und über die höchsten Berge zu tragen.
Auch jetzt hörte Amahar lieblichen Gesang. Gleichzeitig erhob sich ein schrecklicher Schneesturm mit heftigen Böen, die versuchten, ihn und sein Pferd in die Tiefe zu stürzen. Es war Bardaros üble Posse. Sein höhnisches Gelächter ließ Amahar erschauern. Ein Glück, dass des Sängers Gaul nicht mehr so leicht zu erschrecken war, denn auch das Tier hatte schon viel erlebt und gemeinsam mit seinem Herrn, der ihn einst vor dem Schlächter bewahrt hatte, durchgestanden. Das Schneegestöber nahm immer mehr zu, sodass Amahar nichts mehr erkennen konnte. Zwischendurch hörte er immer wieder einzelne Töne von Bodofilias Gesang.
Plötzlich teilte sich der Schnee wie ein Vorhang, den man zur Seite schob. Eine dunkle Wolke erschien, in der Funken aufglühten wie zahllosen Augen.
„Fürchte dich nicht, Amahar“, sagte die Wolke mit donnernder Stimme, „ich bin Idefesom, ein guter Geist. Du wirst Bodofilia, die goldene Stimme im Wind aus den Händen von Bardaros zu befreien.“
„Warum ausgerechnet ich?“, schrie Amahar.
„Nenn es Zufall oder Schicksal! Du hast dich hierher verirrt und trägst einen sehr langen Bart.“
„Was hat mein Bart damit zu tun?“
„Den wirst du brauchen, auch deinen alten Freund! Hörst du? Bodofilia singt!“
„Ich höre nichts mehr!“, schrie Amahar erneut. „Der Sturm braust zu laut!“
„Sie singt für ihren Retter! Aber ich glaube, ich muss dir helfen. Bardaros treibt es gar zu arg. Momentan wütet er hier unten, da kann er nicht oben bei Bodofilia sein. Die Gelegenheit müssen wir nutzen.“ Die Wolke umhüllte Amahar samt Pferd. Beide wurden fortgetragen bis vor das Schloss von Bardaros, in dem das Mädchen gefangengehalten wurde.
„Geh!“, befahl der gute Geist. „Wir haben nicht viel Zeit!“
„Warum kannst du sie nicht befreien?“
„Ganz einfach! Meine Macht endet an der Schwelle zum Reich des Bösen.“
Amahar war kein mutiger Mann. Er zitterte am ganzen Leibe und betrat vorsichtig das Eisschloss. Was er sah, versetzte ihn in Erstaunen, so schön war alles. Es glitzerte und funkelte nur so um ihn herum. Zum Schauen blieb aber keine Zeit, er musste weiter.
„Bodofilia“, rief er leise, dann immer lauter und mutiger. Er bekam keine Antwort. Verzweifelt durchsuchte er sämtliche Räume, bis er endlich ihre Stimme hörte. Das Mädchen stand in einer tiefen Höhle mit glatten Wänden ebenfalls aus Eis, an denen sie keinen Halt fand, um hochzuklettern.
„Wer bist du?“, rief sie hoffnungsvoll nach oben.
„Amahar“, sagte er. „Ich werde dich befreien. Aber wir müssen uns beeilen!“
Er beugte sich über den Rand der Höhle, wickelte flink sein Barthaar vom Hals und ließ es hinunterfallen. „Greif zu und halte dich gut fest. Draußen wacht Idefesom, der gute Geist. Er hilft uns zu entkommen.“
Vorsichtig setzte er sich auf seinen alten Freund, redete ihm gut zu und der Gaul wusste, dass es nun auf ihn ankam. Da Amahars Bart so ungewöhnlich lang war, konnte er ihn sicherheitshalber auch noch dreimal um den Hals des Pferdes winden, damit er nicht aus dem Gesicht und womöglich in der Höhle verschwand. So gut durchdacht, ging alles sehr schnell. Bodofilia griff fest zu und ließ sich nach oben ziehen. Dann beeilten sie sich, aus dem Schloss zu kommen. Idefesom umfing sofort alle gemeinsam und trug sie hinunter ins Tal.
Bardaros hatte in seiner Wut, sich unten auszutoben, die Flucht seiner Gefangenen zu spät bemerkt. Er versuchte, Bodofilia zurückzubekommen, doch gegen den guten Geist kam er letztendlich nicht an.
Amahar brachte Bodofilia sicher zu ihren Eltern zurück, die sie überglücklich in die Arme schlossen.
Drei Tage lang tobte Bardaros um die Schmiede des Udakar. Er rüttelte an Fenster und Türen. Er warf vor Wut mit Dachziegeln und Bäumen um sich. Dann endlich gab er auf.
Der Schmied bot Amahar an, für immer bei ihnen zu bleiben, was dieser nur zu gern annahm. Es freute ihn noch mehr, dass sein alter Freund das Gnadenbrot bis zu seinem Tode in einem warmen Stall erhalten sollte, schließlich war er bei der Rettung des Mädchens außerordentlich hilfreich. Nach einem heißen Bad und einer Rasur fühlte sich der Sänger wie neu geboren. Bodofilia fand Gefallen an dem hübschen Burschen und nahm ihn nach drei Monden zum Manne.
Allabendlich saßen sie vor dem Häuschen der Eltern und sangen sich in die Herzen derer, die vorüberzogen oder gern zuhörten, denn der Wind wurde nicht müde, ihrer beider Stimmen bis in die tiefsten Täler und über die höchsten Berge zu tragen.
Quelle: Marianne Schaefer