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Der kleine Steinbeißer

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Der kleine Steinbeißer lebte seit undenklichen Zeiten ganz allein in einem Wald hinter den grauen Bergen.
Um einen gleichartigen Gefährten zu finden, hätte er lange suchen müssen, aber er wollte seinen Berg nicht verlassen. Darin gab es nämlich eine glitzernde Grotte – einen wundervollen Steinbeißerpalast. Dort verweilte der kleine Geselle am Tag, wenn draußen die Sonne brannte, und knabberte Diamantenbonbons. Davon wurde sein Steinbauch prall wie eine Kugel und seine großen Augen funkelten wie Sterne.
Sobald die Sonne untergegangen war, stampfte er auf seinen kurzen Beinchen zum nahe gelegenen Teich. Dort setzte er sich ans Ufer und blickte hinauf zu seinem Freund, dem Mond. Der grinste freundlich auf den kleinen Gesellen herab und zwinkerte ihm mit dem linken Auge zu.

Eines Abends vernahm der kleine Steinbeißer ein Weinen. Es schien aus dem Teich zu kommen. Neugierig beugte er sich über den Uferrand und plumpste mit lautem Platsch ins Wasser. Glücklicherweise müssen Steinbeißer nicht atmen und können also auch nicht ertrinken.
Der kleine Kerl sank sofort bis auf den Grund hinab.
Dort war es sehr finster, doch seine Diamanten-Funkelaugen durchdrangen die Dunkelheit wie winzige Sonnen. Geschickt wich er den Schlingpflanzen aus, die gierig nach seinen Steinhörnchen angelten, ruderte mit den breiten Steinhänden durchs trübe Wasser und stampfte durch glitschigen Schlick.
Im Wasser klang das Weinen wie Blubbern!
Tatsächlich schwammen dem kleinen Steinbeißer viele Blasen entgegen.
Plötzlich glitt aus dem Dunkel ein fischiges, graues Ungeheuer heraus. Es hatte einen flachen Kopf und ein großes Maul voll scharfer Zähne. Der kleine Kerl fürchtete sich trotzdem kein bisschen, denn scharfe Zähne besaß er auch.
Das Ungeheuer hielt ihn für einen gewöhnlichen Felsbrocken und schoss an ihm vorbei.
Als das Wasser wieder klarer wurde, bemerkte der Steinbeißer einen Käfig aus spitzen Dornen.
Dahinter bewegte sich etwas und von dort kam auch das Weinen.
„Ist da jemand?“, fragte er vorsichtig.
Seine Frage quetschte sich in zitternden Bläschen zwischen den Dornen hindurch.
„Hilfe …!“, drang es in großen Angstblasen aus dem Käfig. „Hilf mir heraus! Ich bin Aqua, die Nixe vom großen See. Der graue Hecht hält mich gefangen, er will mir meinen See wegnehmen.“
Der kleine Steinbeißer überlegte nicht lange. Er biss eine Öffnung in die Dornenwand, sodass Aqua hindurchschlüpfen konnte.
„Komm!“ Die Worte der Nixe verwandelten sich in zitternde Blasen. „Wir müssen schnell von hier weg. Der Hecht wird gleich wieder da sein.“
„Ich kann nicht schwimmen“, sagte der kleine Steinbeißer verlegen und daraus wurden genau vier klitzekleine Bläschen.
„Dann halte dich an meinen Haaren fest.“
Erleichtert griff das Kerlchen nach Aquas langen, grünen Strähnen.
Wie der Blitz schoss sie nun in einen schmalen, unterirdischen Zufluss hinein. Am Ende befand sich ein großes Muscheltor.
„Dahinter liegt mein See“, teilte ihm die Nixe in bunt schillernden Blasen mit.
Sie presste die Hände gegen das Tor und es öffnete sich langsam … ganz langsam … viel zu langsam … denn plötzlich bewegte sich das Wasser hinter ihnen …
„Der Hecht!“ Aquas Sprechblasen zerplatzten lautlos.
Geschwind glitt sie durch die entstandene Öffnung.
Der kleine Steinbeißer auf ihrem Rücken wagte keinen Blick zurück
„Ich schaffe es nicht, das Tor zu schließen“, klagte die Nixe.
Ihre Worte wirbelten als riesige Angstblasen im Wasser umher.
Da nahm der kleine Steinbeißer allen Mut zusammen, angelte geschickt nach einem dicken Ast, der im Schlick steckte, und richtete sich kampfbereit auf Aquas Schultern auf.
Mit weit geöffnetem Maul schoss der graue Hecht auf das Muscheltor zu.
Das Kerlchen sprang mutig in seinen Rachen hinein. Noch ehe das Ungeheuer sein Maul schließen konnte, hatte es ihm den Ast wie einen Segelmast in den Rachen gerammt.
Vergeblich versuchte der böse Räuber die Kiefer zuzuklappen. Wütend schlug er mit der Schwanzflosse das Wasser zu Schaum und wirbelte den Schlick auf.
Das kam dem kleinen Steinbeißer gerade recht.
Er ließ sich zwischen den Hechtzähnen hindurch ins trübe Wasser plumpsen. Ehe sich das Tor endgültig schloss, zwängte er sich durch den schmalen Spalt.
Wieder und wieder stieß der graue Hecht mit dem Maul gegen die glänzende Muschelpforte, doch diesmal hielt der Perlenverschluss stand.
„Du bist ein richtiger Held!“ Aqua war begeistert. Ihre Sprechbläschen umtanzten den kleinen Steinbeißer und kitzelten seine Hörnchen. „Bleib bei mir im See und beschütze mich.“
Doch der kleine Geselle schüttelte seinen runden Kopf.
„Ich mag Wasser nicht so sehr. Hier unten fehlt mir auch mein Freund, der Mond. Und was soll aus meinem glitzernden Steinbeißer-Palast werden? Bring mich bitte ans Ufer zurück.“
Aqua nickte ein wenig traurig, denn der kleine Kerl gefiel ihr sehr. Doch dann umschloss sie ihn mit einer riesigen Blase, die ihn wie ein Luftballon durch das Wasser zur Oberfläche des Sees trug.

Als der kleine Steinbeißer schwerfällig aus dem Wasser tappte, saß da am Ufer ein anderer steinerner Geselle, der traurig zum Mond hinaufblickte. Da tat sein Herz einen Freudensprung.
„He du“, rief er, „bist du auch allein? Ich habe einen glitzernden Steinbeißer-Palast im grauen Berg, der ist groß genug für uns beide. Willst du bei mir wohnen?“
Das wollte der andere kleine Steinbeißer natürlich sehr gern! Er hatte sich schon immer einen Freund gewünscht.
Die beiden fassten sich bei den Händen, dass es nur so knackte, und stampften tapfer voran.
Zufrieden schien der Mond auf sie herab. Er zwinkerte dem Steinbeißerpalast-Besitzer vertraulich zu – diesmal mit dem rechten Auge – und zeigte ihm den richtigen Weg zu seinem kleinen Teich neben dem grauen Berg.
Seither sitzen die beiden Gesellen, wenn die Sonne gar zu heiß vom Himmel brennt, in ihrem Glitzer-Palast und knabbern bunte Diamantenbonbons.
Und daran wird sich bis in alle Ewigkeit nichts ändern.

© Barbara Siwik

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