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Die neun Brüder, die in Lämmer verwandelt wurden, und ihre Schwester

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Es waren einmal neun Brüder und ihre Schwester, die waren Waisen geworden. Sie waren übrigens reich und bewohnten ein altes Schloß mitten in einem Walde. Die Schwester hieß Lévénès, sie war das älteste der zehn Kinder. Als der alte Herr starb, übernahm sie die Leitung des Haushalts, und ihre Brüder folgten ihrem Rate und gehorchten ihr in allem, gleich als ob sie ihre Mutter wäre. Sie gingen oft auf die Jagd in einen Wald, der voll war von Wildpret aller Art. Eines Tages gelangten sie bei der Verfolgung einer Hirschkuh vor eine Hütte, die aus Zweigen und Erdschollen gebaut war. Es war das erstemal, daß sie dieselbe gewahrten. Neugierig, zu wissen, wer darin wohnen möchte, traten sie unter dem Vorwand, daß sie um Wasser für ihren Durst bitten wollten, ein. Sie erblickten nur eine alte Frau, deren Zähne so lang waren wie ein Arm und deren Zunge sich neunmal um ihren Körper wand. Von diesem Anblick erschreckt, wollten sie fliehen, aber die Alte sprach zu ihnen: »Was wollt ihr, liebe Kinder? Tretet ohne Furcht näher; ich liebe die Kinder sehr, besonders wenn sie so freundlich und artig sind, wie ihr es seid.« »Wir möchten ein wenig Wasser, bitte, Großmutter!« erwiderte der Älteste, welcher Goulven hieß. »Gewiß, liebe Kinder, ich gehe, euch frisches, klares Wasser zu holen, das ich gerade heute früh aus meiner Quelle geschöpft habe. Aber so kommt doch herein und fürchtet euch nicht, meine kleinen Lieblinge!« Die Alte gab ihnen Wasser in einem hölzernen Napf, und während sie tranken, streichelte sie die Alte und nahm ihre blonden krausen Locken in die Hand; als sie fortgehen wollten, sagte sie: »Jetzt, liebe Kinder, müßt ihr mir auch den kleinen Dienst bezahlen, den ich euch erwiesen habe.« »Wir haben kein Geld bei uns, Großmutter,« erwiderten die Kinder, »aber wir werden unsere Schwester darum bitten und es Euch morgen bringen.« »Oh, ich will kein Geld, meine Lieben, aber ich möchte, daß einer von euch, zum Beispiel der Älteste, denn die andern sind noch ziemlich jung, mich zur Frau nähme.« Und sich an Goulven wendend, sagte sie: »Willst du mich zur Frau nehmen, Goulven?« Der arme Junge wußte zuerst nichts zu entgegnen, so sonderbar erschien ihm diese Bitte. »So antworte doch, willst du, daß ich deine kleine Frau werde?« fragte ihn nochmals die scheußliche Alte, indes sie ihn umarmte. »Ich weiß nicht,« sagte Goulven bestürzt, »ich werde meine Schwester fragen …« »Nun, morgen früh werde ich selber ins Schloß kommen, um mir die Antwort zu holen.«
Die armen Kinder gingen ganz traurig und zitternd heim und erzählten sogleich ihrer Schwester, was ihnen zugestoßen sei. »Muß ich denn diese schreckliche Alte heiraten, Schwester?« fragte Goulven unter Tränen. »Nein, lieber Bruder, du sollst sie nicht heiraten,« antwortete ihm Lévénès, »ich weiß zwar, daß wir alle werden darunter leiden müssen, aber wir werden lieber leiden, wenn es sein muß, als daß wir dich im Stich lassen.«
Am folgenden Tage kam die Hexe ins Schloß, wie sie angekündigt hatte. Sie traf Lévénès und ihre Brüder im Garten. »Ihr wißt zweifellos, warum ich komme?« sagte sie zu Lévénès. »Ja, mein Bruder hat mir alles erzählt«, versetzte das junge Mädchen. »Und Ihr wollt gern, daß ich Eure Schwägerin werde?« »Nein, das kann nicht sein.« »Wie, nein? Aber Ihr wißt wohl nicht, wer ich bin und wessen ich fähig bin?« »Ich weiß, daß Ihr uns, meinen Brüdern und mir, viel Böses zufügen könnt, aber Ihr könnt mich nicht zwingen, Eurem Wunsche zu willfahren.« »Bedenkt Euch wohl und kommt rasch zu einem Entschluß, solange es noch Zeit ist, oder Unglück über euch!« rief die Hexe in Wut, und ihre Augen leuchteten wie zwei glühende Kohlen. Die neun Brüder Lévénès‘ zitterten an allen Gliedern, aber sie antwortete ruhig und entschlossen auf diese Drohungen: »Alles ist bedacht, und ich habe an dem, was ich gesagt habe, nichts zu ändern.« Da streckte die schreckliche Alte eine Gerte, die sie in der Hand hielt, gegen das Schloß aus und murmelte einen Zauberspruch; sogleich stürzte das Schloß unter furchtbarem Krachen zusammen. Es blieb kein Stein auf dem andern. Dann wandte sie ihre Gerte gegen die neun Brüder, die sich ängstlich hinter ihrer Schwester versteckten, murmelte einen andern Zauberspruch, und die neun Brüder wurden sogleich in neun weiße Lämmer verwandelt. Darauf sprach sie zu Lévénès, die ihre natürliche Gestalt bewahrt hatte: »Du kannst jetzt auf dieser Weide deine Lämmer hüten. Aber sage keinem Menschen, daß diese Lämmer deine Brüder sind, sonst geht es dir wie ihnen.« Dann ging sie hohnlachend davon.
Die schönen Gärten des Schlosses und der große Wald, der es umgab, waren gleichfalls in eine dürre, öde Heide verwandelt worden. Die arme Lévénès blieb allein mit ihren neun weißen Lämmern und ließ sie auf der großen Heide weiden, doch niemals ließ sie dieselben auch nur einen Augenblick aus den Augen. Sie suchte ihnen frische Grasbüschel, die sie ihr aus der Hand fraßen, spielte mit ihnen, liebkoste und streichelte sie und sprach mit ihnen, als wenn sie es verständen. Und wirklich schienen sie es zu verstehen. Eines von ihnen war größer als die andern, das war Goulven, der älteste Bruder.
Lévénès hatte aus Steinen, Erdschollen, Moos und dürren Kräutern einen Unterschlupf, eine Art Hütte errichtet, und bei Nacht oder wenn es regnete, zog sie sich dahin mit ihren Lämmern zurück. Aber wenn das Wetter schön war, lief und hüpfte sie mit ihnen im Sonnenschein oder sie sang Lieder und trug ihre Gebete vor, denen sie, im Halbkreise um sie geschart, aufmerksam lauschten. Sie hatte eine sehr schöne, helle Stimme.
Eines Tages hörte ein junger Edelmann, der in dieser Gegend jagte, mit Erstaunen eine schöne Stimme in diesem öden Landstrich. Er hielt an, um zu lauschen, dann ging er in der Richtung des Klanges weiter und stand alsbald vor einem schönen jungen Mädchen, welches von neun weißen Lämmern umgeben war, die es sehr zu lieben schienen. Er fragte sie aus und war von ihrer Anmut, ihrem Geist und ihrer Schönheit so überrascht, daß er sie samt ihren Lämmern mit sich auf sein Schloß nehmen wollte. Sie weigerte sich. Aber der junge Edelmann träumte nur noch von seiner schönen Schäferin, und alle Tage ging er unter dem Vorwande des Jagens aus, um sie zu sehen und mit ihr auf der großen Heide zu plaudern. Schließlich nahm er sie mit sich in sein Schloß und sie heirateten einander, dabei gab es große Gastmähler und schöne Festlichkeiten.
Die neun Lämmer wurden in den Schloßgarten gebracht, und Lévénès brachte fast ihre ganze Zeit damit zu, mit ihnen zu spielen, sie zu liebkosen und sie mit Blumen zu bekränzen, und sie schienen für all diese Aufmerksamkeiten empfänglich zu sein. Ihr Gatte war erstaunt, als er ihre verständigen Tiere sah, und er fragte sie, ob das auch echte Lämmer wären.
Lévénès wurde schwanger. Sie hatte eine Kammerfrau, in welche sich der Schloßgärtner verliebt hatte und welche gleichfalls mit einem Kinde ging, ohne daß ihre Herrin etwas davon wußte. Jene war die Tochter der Alten, welche ihre Brüder in Lämmer verwandelt hatte, aber auch das wußte sie nicht. Eines Tages, als Lévénès sich über den Rand eines Brunnens, der im Garten war, beugte, um dessen Tiefe zu messen, nahm sie ihre Dienerin bei den Füßen und warf sie in den Brunnen. Hierauf lief dieselbe in das Gemach ihrer Herrin, legte sich in deren Bett, schlug die Vorhänge des Zimmers und des Bettes zu und gab vor, sie läge in Geburtswehen.
Der Schloßherr war um diese Zeit gerade abwesend. Aber bei seiner Rückkehr fand er seine Frau nicht wie gewöhnlich unter ihren Lämmern, und er begab sich in ihr Gemach. »Was fehlt dir, mein kleines Herz?« fragte er sie, da er glaubte, seine Frau liege dort. »Ich bin sehr krank!« sagte die Betrügerin, und, da er die Vorhänge öffnen wollte: »Ich bitte Euch, öffnet die Vorhänge nicht, ich kann das Licht nicht vertragen!« »Warum bist du so allein? Wo ist deine Magd?« »Ich weiß es nicht, ich habe sie den ganzen Tag noch nicht gesehen.« Der Herr suchte sie überall im Schloß und dann im Garten, aber da er sie nicht fand, kehrte er zu seiner Frau zurück und sprach zu ihr: »Ich weiß nicht, was aus deiner Magd geworden ist, ich finde sie nirgends. Benötigst du etwas? Hast du vielleicht Hunger?« »O ja, ich habe argen Hunger!« »Was möchtest du denn essen?« »Ich möchte ein Stück von dem großen weißen Lamm im Garten draußen!« »Welche Laune! Du, die du so sehr an deinen Lämmern hingest, und an dem großen noch mehr als an den andern?« »Es ist das einzige, was mir einige Erleichterung von dem Übel, an welchem ich leide, verschaffen könnte. Aber täuscht Euch nicht, es ist das große, weiße Lamm, von dem ich essen will, und kein anderes.«
Der Gatte begab sich in den Garten und befahl dem Gärtner, das große weiße Lamm zu ergreifen, um es augenblicklich zu töten und am Spieße zu braten. Und der Gärtner, welcher im Einvernehmen mit der Kammerfrau stand, lief nach dem weißen Lamm. Aber dieses enteilte hurtig und lief kläglich blökend um den Brunnen herum, so daß er es nicht fangen konnte. Der Schloßherr bemerkte es, wollte ihm behilflich sein und trat an den Brunnen. Mit Verwunderung hörte er ein Stöhnen und Wimmern, welches daraus hervorzudringen schien. Er beugte sich über die Öffnung und sagte: »Wer ist da? Ist jemand im Brunnen?« Und eine klägliche Stimme, die er gut kannte, entgegnete ihm: »Ja, ich bin es, deine Frau Lévénès!« Der Herr wartete auf keine weitere Erklärung mehr, sondern ließ eilends den Eimer in den Brunnen hinab und zog seine Frau heraus.
Die arme Lévénès hatte einen solchen Schrecken ausgestanden, daß sie sogleich mit einem Knaben niederkam, der so schön war wie der Tag. »Man muß dieses Kind sofort taufen lassen,« sagte sie, »du kannst ihm zur Patin geben, wen du willst, aber ich wünsche, daß der Pate mein großes weißes Lamm sei.« »Was? Deinem Sohn ein Lamm zum Paten geben?« »Ich will es so, ich wiederhole es dir, gehorche mir und bekümmere dich um nichts!« Um der jungen Mutter nicht zu widersprechen und aus Furcht, ihr Leiden zu verschlimmern, gab der Vater, wenn auch widerwillig zu, daß das große weiße Lamm der Pate seines Kindes werden solle.
Man begab sich zur Kirche. Das große weiße Lamm ging ganz vergnügt mit dem Vater und der Patin, einer jungen, schönen Prinzessin, in einer Reihe. Die acht anderen Lämmer, seine Brüder, folgten nach. Der ganze Zug trat zum großen Erstaunen der Dorfbewohner in die Kirche. Der Vater bot das Kind dem Priester dar. Dieser betrachtete die Patin, aber er sah keinen Paten und sprach: »Wo ist denn der Pate?« »Hier!« entgegnete der Vater und zeigte auf das große weiße Lamm. »Wie, ein Lamm?« »Ja, dem Anschein nach, aber achtet nicht auf das Äußere, sondern beginnt ohne Verzug die heilige Handlung!« Der Priester machte keine weiteren Einwendungen, denn Verwandlungen dieser Art waren ohne Zweifel zu seiner Zeit nichts Außergewöhnliches, und er begann das Kind zu taufen. Da erhob sich das Lamm auf seine beiden Hinterfüße, nahm sein Patenkind, unterstützt von der Patin, zwischen seine beiden Vorderfüße und alles vollzog sich aufs beste. Aber sobald die Zeremonie beendet war, wurde das Patenlamm zu einem schönen jungen Mann. Es war Goulven, der älteste Bruder von Lévénès. Er erzählte, wie seine Brüder und er durch eine alte Hexe in Lämmer verwandelt worden seien, weil er sich geweigert habe, dieselbe zu heiraten. Seine Schwester, welche Zeugin der Verwandlung gewesen war, lief Gefahr, das gleiche Schicksal zu erleiden. Jetzt aber war der Zauber gebrochen und die Hexe hatte keine Gewalt mehr über sie.
»Diese Lämmer sind also deine Brüder?« fragte der Priester. »Ja, es sind meine Brüder, und auch für sie ist die Stunde gekommen, daß sie der Gewalt der Hexe entgehen können, um ihre menschliche Gestalt wieder anzunehmen. Legt Eure Stola über sie, sprecht ein Gebet, und Ihr werdet sehen, daß sie wieder Menschen werden wie ich.« Der Priester folgte diesem Rat, er legte seine Stola auf die Lämmer, auf eines nach dem andern, dabei jedesmal ein Gebet sprechend, und auf der Stelle nahmen sie ihre menschliche Gestalt wieder an. Goulven erzählte nun den Betrug der Magd, der Hexentochter, dessen Opfer seine Schwester geworden war.
Man kehrte ins Schloß zurück und gedachte einem jeden nach Verdienst zu entgelten. Man sandte nach der alten Hexe in den Wald, in welchem sie wohnte, und als sie gekommen war, wurde ein jeder: sie, ihre Tochter und der Gärtner, von vier Rossen auseinandergerissen, dann wurden sie auf einen großen Scheiterhaufen geworfen und zu Asche verbrannt. Goulven aber und Lévénès lebten von nun an glücklich und zufrieden und hatten, wie man sagt, viele Kinder.

[Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen]

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