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Es lebte einmal in einer Gemeinde in der Nähe von Lannion ein braver und ehrenwerter Landwirt, welcher Patrick Rolland hieß. Er gehörte nicht zu den Reichsten des Landes, aber er hatte ein gewandtes Auftreten und Erfahrung und lebte in wohlhabender Stellung. Er war Witwer geworden und hatte nur einen einzigen Sohn, der wie er selber Patrick hieß und die Schule in Tréguier besuchte. Er hatte sein ganzes Leben hindurch viel gearbeitet und sich viel Mühe gegeben. Eines Tages kam er krank vom Markt zurück und legte sich ohne Abendessen schlafen. Da sich sein Leiden verschlimmerte, fühlte er, daß sein Ende nahe; er rief seine alte Magd und sagte zu ihr: »Marianne, hole meinen Sohn in Tréguier, denn ich fühle, daß ich mein Bett nur noch verlassen werde, um auf den Kirchhof zu gehen.« Man sandte einen reitenden Boten, um den Sohn in Tréguier zu holen, und als dieser ankam, ging er eilends zu seinem Vater und sprach zu ihm: »Wie geht es Euch, Vater?« »Ich habe eine sehr schlechte Nacht gehabt, mein Sohn, und ich fürchtete sehr, daß ich dich nicht mehr sehen würde, ehe ich die Welt verlasse. Aber da Gott es mir gestattet, von dir Abschied zu nehmen und dir einige Ratschläge zu geben, ehe er mich zu sich ruft, so bin ich zufrieden und sterbe ohne Klage. Höre mir also aufmerksam zu, mein Sohn, und behalte meine letzten Lehren im Gedächtnis, denn sie werden dir von Nutzen sein, wenn du sie genau befolgst. Wenn du aber umgekehrt keinen Gebrauch davon machst, so wird es dir schlecht gehen und du wirst es bereuen. Du bist nicht reich, aber mit Arbeit, gutem Betragen und Ordnung kannst du in Ehren, geliebt und geachtet von allen braven Leuten, leben, wie ich es selber getan habe. Zuerst, wenn ich tot bin, wirst du mir als guter Sohn die letzten Ehren erweisen und mein Begräbnis einfach und ohne Pomp feiern, aber immerhin anständig, deinen Mitteln gemäß. Du darfst dabei nach der Sitte des Landes die Armen nicht vergessen. Nun höre einige Ratschläge, Früchte langer Erfahrung, welche du gut tun wirst, nicht zu vergessen und in die Tat umzusetzen. Erstens. Wenn du Vieh zu verkaufen hast, so laufe damit nicht auf alle Märkte des Landes, und gib es her, sobald du einen verständigen Preis dafür bekommst. Zweitens. Du hast nur einen Oheim; besuche ihn von Zeit zu Zeit, aber nicht zu oft. Drittens. Wenn du heiratest – und du wirst gut daran tun zu heiraten -, so suche deine Frau nicht in der Ferne, und wenn du ein braves Mädchen aus einer im Lande als achtbar bekannten Familie gefunden hast, so nimm es, ohne dich zu bekümmern, ob es reich ist oder nicht. Viertens. Nimm keine Bastardkinder ins Haus, denn meist kommt nichts Gutes dabei heraus. Fünftens. Ich habe ein Feld, das zum Grunde des Herrn von Kerninon gehört: bepflanze es nie ohne dessen Erlaubnis. Sechstens. Beneide niemals einen, der reicher ist als du. Siebentens. Wenn du ein Geheimnis hast, so vertraue es niemals einem Weibe an. Das ist es, was ich dir noch zu sagen hatte, mein Sohn; nun bin ich reisefertig, wenn es Gott gefällt.« Der Greis schloß die Augen und verschied ruhig und ohne Kampf.
Sein Sohn erwies ihm die letzten Ehren, einfach aber anständig, nach seinem Wunsche, und verteilte Almosen unter die Armen, weil das des Landes Sitte ist beim Tode von wohlhabenden Leuten. Patrick war damals zwanzig Jahre alt. Er bewirtschaftete sein kleines Gut, das ihm sein Vater hinterlassen hatte und das hinreichte, um ihn anständig leben zu lassen, mit Umsicht und Ordnung selber.
Kurz darauf sagte er eines Tages zu einem alten Knecht, der schon länger als zwanzig Jahre im Hause war: »Höre, Yves, du mußt das Pferd Maugis gut verpflegen, damit es beim nächsten Markt in Bré gut aussieht. Ich will es dort verkaufen, um eine Zuchtstute dafür zu erstehen. Eine solche Stute ist der beste Ertrag; sie wirft jedes Jahr ein Fohlen, welches man nach ein bis zwei Jahren gut verkaufen kann.« Dem alten Knecht gefiel der verständige Plan seines Herrn, und er besorgte das Pferd Maugis aufs beste, so daß es wirklich sehr gut aussah, als der Markttag gekommen war. Sie führten es alle beide nach Bré. Als sie zum Markte kamen, hielt sie ein Mann aus Cornwall an, prüfte das Pferd und fragte: »Wie hoch der Preis?« »Hundert Taler!« erwiderte Patrick. »Seid doch verständig, junger Mann; Euer Pferd ist nicht mehr als siebzig wert; wollt Ihr soviel?« »Nein, ich lasse keinen Heller von hundert Talern ab!« Der Käufer blickte in das Maul des Tieres, ließ es laufen und sagte: »Gut, ich zahle Euch achtzig Taler dafür, nun schlagt ein!« Und er bot Patrick seine offene Hand dar; aber dieser schlug nicht ein, um dadurch seine Zustimmung kundzugeben. »Nein, ich brauche hundert Taler,« sagte er, »und ich gebe es nicht um einen Heller billiger.« »Dann behaltet es!« sprach der Händler und ging davon. Aber kurz darauf kam er zurück, prüfte das Roß von neuem, ließ es traben und bot nacheinander zweiundachtzig, vierundachtzig, sechsundachtzig und endlich neunzig Taler. »Gebt es her, Meister!« sagte der Knecht leise zu Patrick. Aber dieser hatte es sich in den Kopf gesetzt, hundert Taler zu verlangen, so daß der Käufer ging und nicht wiederkam. Sie erstiegen den Hügel und nahmen ihren Platz auf dem Markte ein. Mehrere Händler betrachteten Maugis und boten verschiedene Preise; aber keiner bot bis zu neunzig Taler. Die Nacht brach ein, und sie kehrten heim, ohne das Pferd verkauft zu haben. Auf dem Wege sagte der alte Knecht zu seinem Herrn: »Ich glaube, Ihr tatet Unrecht, das Pferd nicht um neunzig Taler herzugeben, es war ein anständiger Preis.« »Keinesfalls tat ich Unrecht, mein Pferd ist hundert Taler wert, und ich gebe es um keinen Heller billiger. Wir gehen mit ihm zum ersten Markt nach Lannion auf Michaelis, und dort werden wir es um diesen Preis verkaufen, das sollst du sehen!« Sie gingen wirklich zum Markt nach Lannion, dann zu den Märkten von Vieux-Marché und Guerlesquin und anderswohin, und die Preise, die man ihnen bot, wurden immer niedriger. Schließlich brach Maugis eines Tages ein Bein, als ein anderes Pferd es trat, und man mußte es schlachten. Da erinnerte sich Patrick an die erste Lehre seines Vaters und sagte zu sich: »Mein Vater hatte dennoch recht, als er mir sagte, wenn man einen verständigen Preis für ein Tier angeboten bekäme, so solle man es hergeben.«
Einige Tage später besuchte er seinen Oheim. Dieser war nicht zu Hause, als er ankam, und er begrüßte seine Tante: »Guten Tag, Tante, wie geht es Euch?« »Guten Tag, Neffe Patrick, mir geht es, Gott sei Dank, gut.« »Und Onkel und die Kinder? Geht es ihnen auch gut?« »Gott sei Dank ist alles wohl im Hause. Der Onkel ist mit den Knechten auf der großen Wiese beim Heuwenden, denn man muß das schöne Wetter benutzen; aber ich will ihm sagen lassen, daß du gekommen bist, um ihn zu besuchen; er wird gleich kommen. Jacquette, sage geschwind zu Morris, daß sein Neffe Patrick da ist und auf ihn wartet! So setz dich doch, Neffe! Dein Onkel muß jeden Augenblick kommen.« Die Magd Jacquette lief, ihren Herrn von der Ankunft seines Neffen zu benachrichtigen. Dieser kam sogleich. »Guten Tag, lieber Neffe Patrick!« sagte er, »ich freue mich sehr, dich zu sehen. Du kommst nicht gerade oft auf Besuch zu uns!« »Ach, Onkel, ich habe viel Arbeit zu Hause, da mein armer Vater nicht mehr alles überwachen kann, und wenn der Herr abwesend ist, so tun die Knechte, wie Ihr wohl wißt, nichts Gescheites.« »Du hast recht, Neffe, und je weniger ein Hausherr abwesend ist, desto besser ist es für das Vieh und für das Feld. Aber erzähle mir, wie die Sachen bei dir stehen, die Kühe, die Pferde, die Ernte?« »Die Ernte steht ganz gut, Gott sei Dank, aber ich habe letzthin mein bestes Pferd verloren.« »Das ist bedauerlich. Ich wußte es nicht; wie hat sich das zugetragen?« »Es hat durch einen Tritt eines anderen Pferdes das Bein gebrochen, und ich mußte es schlachten. Ein wunderschönes Tier! Auf dem letzten Markt in Bré hätte ich neunzig Taler dafür bekommen.« »Da schau! Neunzig Taler! Das ist Geld, Neffe! Aber wenn du es verloren hast, so ist das Gottes Wille, und man muß sich darunter beugen. Übrigens ist es besser, daß das Unglück dir zugestoßen ist, da du so wohlhabend bist, als daß es einen armen kleinen Bauern getroffen hätte, der dadurch mit einem Schlage ruiniert worden wäre.« »Das ist wahr, Onkel, aber es ist trotzdem auch für mich ein schwerer Verlust. Ich will nun zum Ersatz eine gute Zuchtstute kaufen, die mir jedes Jahr ein Füllen werfen wird, das ich im ersten oder zweiten Jahr verkaufen kann. Mein Nachbar Guionvarch zieht auch jedes Jahr ein bis zwei Fohlen auf und verdient viel Geld damit. Würdet Ihr wohl mit mir zum nächsten Markt nach Lannion gehen, Onkel, um mir beim Ankauf einer Stute behilflich zu sein, da Ihr doch ein Kenner seid.« »Ich gehe gern mit dir zum Markt nach Lannion, Neffe, und werde dir eine gute Zuchtstute aussuchen, sei deswegen ganz unbesorgt.« So plauderten sie lange von ihren Geschäften, tranken dabei Äpfelwein und aßen Speck und Eierkuchen, die ihnen die Tante Jeanette zubereitet hatte. Sie trennten sich als die besten Freunde von der Welt und verabredeten, daß sie gemeinsam zum Markt nach Lannion gehen wollten. Sie kauften dort eine Zuchtstute und begossen den Handel mit verschiedenen Schoppen Äpfelwein und manchem kleinen Gläschen Schnaps; und der Onkel versicherte den Neffen, daß er die beste Stute des Marktes gekauft habe.
Aber kurz darauf wurde die Stute sehr krank, und Patrick kehrte zu seinem Onkel zurück, um ihn um Rat zu fragen. Seine Tante saß gerade am Spinnrad, als er eintrat: »Ihr seid es, Neffe Patrick«, sagte sie. »Ja, Tante, wie geht es dir?« »Ganz gut, Gott sei Dank! Setz dich doch!« »Ich komme, meinen Onkel wegen der Stute um Rat zu fragen, welche schwer krank ist.« »Die, welche ihr auf dem letzten Markt in Lannion gekauft habt?« »Ja, ich fürchte sehr, sie zu verlieren.« »Ich bin in Verlegenheit, lieber Neffe, daß ich dir kein Weißbrot und kein Fleisch anbieten kann. Letzthin haben uns Verwandte und Freunde besucht, und wir haben sie nach Kräften bewirtet. Ich habe nicht einmal mehr einen Tropfen Branntwein; aber der Äpfelwein ist glücklicherweise nicht übel. Ich werde einen Krug für dich und deinen Onkel holen.« »Wo ist Onkel, ich möchte ihn sprechen.« »Er ist beim Vieh, und du wirst ihn irgendwo im Stall finden.« Patrick suchte seinen Onkel, und als sie alle zwei eintraten, nahm die Magd gerade den Brei vom Feuer, um den Knechten das Mittagessen zu geben. »Mache uns Milchsuppe, Jeanette«, sagte Morris zu seiner Frau. »Die Milch ist bei der großen Hitze gestockt.« »Dann backe uns Eier und bring Speck auf den Tisch!« »Ich habe auch keine Eier mehr; unsere Hennen legen nicht mehr, oder man stiehlt uns die Eier, ich habe nicht einmal mehr gekochten Speck; du weißt, daß wir in den letzten Tagen mehrere unerwartete Besuche bewirten mußten. Ich schäme mich wirklich, daß unser Neffe uns so von allem entblößt findet.« »Darüber kümmert Euch nicht, Tante,« sagte Patrick, »hier ist Haferbrei, der sehr schön aussieht; ich liebe den Brei sehr, ich esse daheim alle Tage Brei.« Und er nahm einen Napf voll saure Milch, näherte sich dem Kessel, der auf einem Dreifuß stand, und schöpfte daraus den warmen Brei löffelweise wie die andern. Nachdem der Brei gegessen war, nahm der Großknecht einen Laib Schwarzbrot, zeichnete ein Kreuz mit dem Messer darauf und schnitt für jeden Knecht und jede Magd ein Trumm ab, die er nacheinander auf den Tisch warf. Das Brot war schimmelig und sah schlecht aus. Patrick nahm eine Schnitte wie die andern und strich sich Butter darauf. »Iß nicht von diesem Brot!« sagte ihm sein Onkel. »Ich habe kein Weißbrot mehr,« sagte Jeanette, »unser Neffe hat es wirklich schlecht getroffen; er überrascht uns, da wir an allem Mangel haben.« »Ich esse gern Schwarzbrot«, erwiderte Patrick. »Aber es ist ganz schimmelig«, warf sein Onkel ein. »O, das stört mich nicht, das kommt bei uns auch manchmal vor, und man darf darin nicht so heikel sein.« Auf dem Heimweg bedachte Patrick den Unterschied zwischen dem heutigen und dem vorigen Empfang, und er gedachte der zweiten Lehre seines Vaters.
Einige Zeit später hatte er erkannt, daß zum Haushalt unbedingt eine Frau gehört, und er dachte daran, sich zu verheiraten. Diesmal war er entschlossen, nicht wieder gegen den dritten Rat seines Vaters zu handeln, und wollte seine Frau aus der Gemeinde nehmen. Er hatte als Nachbarn einen braven Bauern, der nicht reich war, aber durch seine Arbeit und gute Führung in wohlhabender Stellung war, im Lande geachtet wurde und einen ansehnlichen Hausstand besaß. Der Nachbar hieß Guinovarch. Er hatte eine Tochter von zwanzig Jahren, welche arbeitsam und haushälterisch war. Patrick bat den Vater um ihre Hand und erhielt sie leicht.
Nach neun bis zehn Monaten schenkte sie ihm einen Sohn. Ein armes Mädchen von leichten Sitten namens Margarete Loho, die ein baufälliges Gemäuer in der Nachbarschaft bewohnte, kam am nämlichen Tage mit einem Sohne nieder. Die beiden Kinder wurden zugleich getauft und erhielten beide den Namen Hervé. Patricks Frau Marianne traf Anordnungen, daß es der armen Wöchnerin an nichts fehle, man brachte ihr Wein, Weißbrot und Fleisch. Als die beiden Kinder das Alter von vier bis fünf Jahren erreicht hatten, waren sie fast immer beisammen, spielten auf der Schwelle des Hauses oder liefen durch die Felder, um Vogelnester zu sammeln oder Maulbeeren und Haselnüsse zu pflücken. Der eine konnte sich vom andern nicht trennen, so daß Marianne eines Tages zu Patrick sagte: »Wenn wir das Kind von Margarete adoptieren würden, da es doch fast ständig in unserem Hause ist, das würde sogar für seine Mutter sehr vorteilhaft sein, die ihren Unterhalt kaum verdient.« »Du hast recht, das wird uns nicht ärmer machen«, erwiderte Patrick und vergaß die vierte Lehre seines Vaters. Von diesem Augenblicke an wurde das Kind Margaretens wie das des Hauses behandelt und wie dieses zur Schule geschickt, als die Zeit dazu gekommen war.
Eines Tages kam ein Diener des benachbarten Schlosses und ersuchte Patrick, sich schleunigst zum Herrn von Kerninon zu begeben, der ihn sprechen wolle. Patrick ging sorgenvoll ins Schloß und fragte sich, was der Herr ihm wohl zu sagen haben würde. Er hatte einige Apfelbäume auf das Feld gepflanzt, das zum Grund und Boden des Herrn von Kerninon gehörte, welchem er alljährlich eine aus einer weißen Henne und einem Dutzend Eiern bestehende Pachtsumme bezahlen mußte. Außerdem durfte er keinen Baum schlagen und keinen pflanzen. Der Herr zeigte sich sehr unzufrieden über das, was er die Anmaßung eines Fronbauern nannte, und befahl ihm, diese Apfelbäume unverzüglich zu entfernen und nicht wieder so zu handeln, sonst würde es ihm schlecht gehen.
Auf dem Schloßhofe erblickte Patrick eine spanische Ziege, die mit schöner weißer Wolle bedeckt war, welche bis zur Erde reichte. Nie hatte er ein solches Tier gesehen, und er blieb einige Zeit stehen und betrachtete und bewunderte es. »Der Herr«, sagte ihm ein Diener, »liebt diese Ziege außerordentlich; oft kommen die Edelherren von Lannion und aus der Umgebung, um sie zu besichtigen, und er würde lieber tausend Taler verlieren als seine Ziege.« Man kämmte sie alle Tage, und ein Diener, der nichts anderes zu tun hatte, führte sie durch die Felder und Wiesen und ließ sie überall weiden, wo sie wollte. Diese Ziege gefiel Patrick ausnehmend gut, und daheim dachte er immer an sie. »Wenn ich eine solche Ziege haben könnte,« sagte er zu sich, »aber es ist nicht möglich, es gibt nur eine dieser Art im ganzen Lande.« Es wurde bei ihm zur fixen Idee, und er schlief nicht mehr. Schließlich wurde er derart von dem Gedanken besessen, eine Ziege wie die im Schloß zu haben, daß er den Entschluß faßte, die des Herrn von Kerninon zu stehlen. Er sprach mit keinem Menschen darüber, und in einer dunklen Nacht drang er in den Stall des Tieres ein, führte es auf seinen Hof und versteckte es an einem Orte, den niemand als er betrat. Als der Herr das Verschwinden seiner Ziege bemerkte, war er ganz trostlos. Er sandte alle seine Leute aus, sie zu suchen, und ließ im ganzen Lande bekanntmachen, daß der, welcher ihm zur Wiedererlangung des Tieres verhelfe, hundert Taler Belohnung erhalten solle. Patrick wurde seine Ziege sehr lästig; wenn man sie bei ihm fände, würde ihn der Herr ohne Zweifel hängen lassen. Man sprach im ganzen Lande nur noch von dem Verschwinden der weißen Ziege des Herrn von Kerninon und von der Belohnung, die dem, welcher sie ins Schloß zurückbringen würde, versprochen worden war.
Eine Magd Patricks ging eines Tages, um im öffentlichen Backofen zu backen. Eine Magd aus dem Schloß war auch da, und man redete, wie auch sonst überall, von dem Verschwinden der Ziege. »Wer so glücklich wäre, die Ziege wiederzufinden,« sagte die Schloßmagd, »hätte für den Rest seines Lebens genug, denn der Herr würde ihm nicht nur dreihundert Franken geben, sondern auch ein schönes Anwesen.« Patrick war seit einigen Tagen traurig und unruhig. Als die Magd vom Backhaus zurückkam, fragte sie jemand, während man um den mittäglichen Haferbreikessel versammelt war: »Was weißt du neues, Mettik?« »Eine Magd vom Schloß war auch am Backofen, und sie hat gesagt, daß der Herr solchen Kummer habe wegen des Verlustes seiner Ziege, daß er ganz krank geworden ist. Daher wird der, welcher sie ihm zurückbringt, sein ganzes Leben lang keinen Mangel mehr leiden, denn er bekommt nicht nur dreihundert Franken, sondern auch ein schönes Anwesen zur Belohnung. Man wird neuerdings Nachforschungen anstellen, und es gibt kein Haus, keinen Stall, keine Grippe, die man nicht genau untersuchen wird, und die Ziege muß sich irgendwo wiederfinden.« Patrick, der stillschweigend zugehört hatte, stellte plötzlich seinen Napf beiseite, warf den Löffel geräuschvoll auf den Tisch und ging ins Bett. Seine Frau lief ihm verwundert nach und fragte ihn, ob er krank sei. »Nein«, entgegnete er. »Soll ich dir eine Milchsuppe oder etwas anderes machen?« »Nein, ich brauche nichts. Laß mich in Ruhe, bitte!«
Am andern Morgen war Patrick traurig und schweigsam. Abends fragte ihn Marianne nach dem Grund seines Trübsinns und drang solange in ihn, bis er ihr schließlich sagte: »Wenn ich wüßte, daß du das Geheimnis bewahren könntest … Ich weiß ungefähr, wo die weiße Ziege des Herrn von Kerninon ist …« »Wirklich? Wo ist sie denn? Du weißt, was für ein Lohn dem versprochen ist, der sie wiederbringt.« »Aber nein, ich sage es dir nicht, die Frauen können kein Geheimnis für sich behalten.« Marianne war nicht zufrieden, wie ihr euch wohl denken könnt. Am andern Tage ging sie selbst mit einem Pferd, um im Backhaus Brot zu holen. Die Schloßmagd war auch da, als sie kam. »Noch nichts neues von Eurer Ziege?« fragte sie Marianne. »Nein, unser Herr verliert fast den Verstand darüber.« Marianne gab der Magd ein Zeichen, einen Augenblick mit ihr hinauszugehen, und als sie draußen waren, flüsterte sie ihr ins Ohr: »Mein Mann weiß, wo die Ziege ist.« »O mein Gott, wie glücklich wird mein Herr sein, wenn er diese gute Nachricht erhält!« Und als sie wieder im Schloß war, hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als es ihrem Herrn zu erzählen. »Wie?« rief dieser, »Rolland weiß, wo meine Ziege ist, und er hat es mir nicht sofort gesagt? Man hole ihn mir auf der Stelle!« Ein Diener ging sogleich hin, um Patrick zu holen. Dieser aber weigerte sich, ins Schloß zu kommen und behauptete, er wisse absolut nichts von der Ziege, seine Frau habe Unsinn geredet und man dürfe ihr kein Wort glauben. Diese Antwort wurde dem Herrn hinterbracht, der sich damit nicht zufrieden gab und zwei Gendarmen schickte mit dem Befehl, ihn mitzubringen. Patrick wurde also mit Gewalt ins Schloß gebracht, wo er zitternd und bestürzt eintrat. »Du weißt, wo meine Ziege ist?« fragte ihn der Herr. »Nein, bei Gott, lieber Herr, ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen, damals im Schloßhofe, und ich weiß nicht, wo sie gegenwärtig ist.« »Deine Frau hat gesagt, du wüßtest es.« »Meine Frau hatte unrecht, wenn sie das sagte, denn ich habe nie etwas Derartiges zu ihr geredet; und dann, gnädiger Herr, Ihr wißt ja, wie geschwätzig die Frauen sind und wie sie reden, ohne nachzudenken.« »Du hast gesagt, du wüßtest, wo meine Ziege wäre, und wenn du sie mir nicht wieder verschaffst, so werde ich dir den Kopf abschlagen lassen, und sollte es mich tausend Taler kosten.« »Ich weiß nichts davon, ich schwöre es Euch bei meiner Seele, edler Herr!« »Ich werde dich auf den Grund des Verließes werfen lassen, bis du dich entschließest, zu reden.« Und Patrick wurde von den Dienern ins Schloßgefängnis geführt. »Alles dieses« sagte er zu sich, als er im Kerker saß, »kommt daher, daß ich zwei Lehren meines Vaters nicht befolgt habe, nämlich die, keinen Reicheren zu beneiden und kein Geheimnis einer Frau anzuvertrauen.« Der Herr von Kerninon indessen begab sich am folgenden Morgen nach Lannion, um beim Gericht Klage einzureichen. Der Prozeß Patricks dauerte nicht lange; er wurde verurteilt, öffentlich auf dem Schafott hingerichtet zu werden.
Patricks Sohn und sein Gefährte, der uneheliche Sohn Margaretens, waren um diese Zeit junge Leute von achtzehn bis zwanzig Jahren und kamen gerade aus St. Brieuc, wo sie die Schule besuchten. Am Tage, da das gegen Patrick ausgesprochene Todesurteil vollstreckt werden sollte, befand sich der Bastard, sei es zufällig, sei es absichtlich, in Lannion. Der Scharfrichter lag krank und dem Tode nahe im Bett, und man hatte dem, der ihn an diesem Tage ersetzen sollte, hundert Taler geboten. Niemand meldete sich, und man sah sich schon genötigt, die Exekution aufzuschieben, als ein junger Mann das Podium bestieg, auf welchem die Richter saßen, um diesen seine Dienste anzubieten. Es war der Bastard. Der Herr von Kerninon, der mit den Richtern auf dem Podium saß, sagte zu dem Verurteilten: »Wenn Ihr noch eine Eröffnung zu machen habt, so ist es noch Zeit und Ihr könnt reden.« »Ja,« sagte Patrick, »ich habe etwas zu sagen, ehe ich sterbe, und ich wünsche, daß jedermann mich höre und aus meinen letzten Worten Nutzen ziehe. Wenn Ihr mich hier seht, so kommt das daher, daß ich die sieben Lehren meines Vaters nicht beherzigt habe, die er mir auf dem Sterbebette gab. Ich will Euch die sieben Lehren nennen, behaltet sie wohl in acht und handelt danach, dann wird es euch wohlergehen.« Und er wiederholte die Lehren des sterbenden Vaters. »Ach!« schloß er dann seine Rede, »ich habe immer gegen diese Ratschläge meines Vaters gehandelt und Ihr seht, wohin das geführt hat. Dieser junge Mann -« hiermit zeigte er auf den Bastard -, »der sich erbietet, den Henker zu ersetzen, und der mir für ein paar Heller den Kopf abschlagen will, ist der natürliche Sohn eines Mädchens, das in unserer Nachbarschaft wohnt. Aus Mitleid mit ihrer Not habe ich der Mutter ihr Leben erleichtert und ihr das Kind abgenommen. Ich habe es aufgezogen und in die Schule geschickt wie meinen eigenen Sohn. Und heute lohnt er es mir so! Aber warum habe ich auch die vierte Lehre meines Vaters nicht befolgt? Was Eure Ziege betrifft, Herr von Kerninon, so habe ich sie gestohlen, getrieben vom Dämon der Begehrlichkeit, auch darin gegen den Rat meines Vaters handelnd: Beneide nie einen, der reicher ist, als du. Ihr werdet sie bei mir finden, in einem kleinen Stalle hinter dem Hause. Meine Frau hat mein Geheimnis ausgeplaudert, das ich ihr nie hätte enthüllen sollen, zufolge der siebenten Lehre meines Vaters. Jetzt habe ich nichts mehr zu sagen, und ich bin bereit zu sterben.« Der Bastard machte sich fertig und prüfte die Schneide seiner Axt, aber das Volk murrte, warf Steine nach ihm und rief: »Zum Tod den Bastard!« Da erhob sich der Herr von Kerninon mit den Richtern und sprach: »Hola! Nicht Patrick Rolland soll enthauptet werden, sondern der andere, der Bastard.« Die Menge klatschte diesen Worten Beifall. Der Scharfrichter fühlte sich plötzlich gesund und kam im gleichen Augenblick, und der Kopf des Bastards rollte zur größten Befriedigung der Menge auf das Schafott. Patrick durfte unangefochten heimkehren. Er starb kurz darauf, und auf seinem Totenbette erinnerte er seinen Sohn an die sieben Lehren des Großvaters. Der Sohn beobachtete sie, glücklicher als sein Vater, von Punkt zu Punkt, und befand sich, wie man sagt, wohl dabei, denn er wurde der angesehenste und am meisten geachtete Mann des ganzen Landes.
Sein Sohn erwies ihm die letzten Ehren, einfach aber anständig, nach seinem Wunsche, und verteilte Almosen unter die Armen, weil das des Landes Sitte ist beim Tode von wohlhabenden Leuten. Patrick war damals zwanzig Jahre alt. Er bewirtschaftete sein kleines Gut, das ihm sein Vater hinterlassen hatte und das hinreichte, um ihn anständig leben zu lassen, mit Umsicht und Ordnung selber.
Kurz darauf sagte er eines Tages zu einem alten Knecht, der schon länger als zwanzig Jahre im Hause war: »Höre, Yves, du mußt das Pferd Maugis gut verpflegen, damit es beim nächsten Markt in Bré gut aussieht. Ich will es dort verkaufen, um eine Zuchtstute dafür zu erstehen. Eine solche Stute ist der beste Ertrag; sie wirft jedes Jahr ein Fohlen, welches man nach ein bis zwei Jahren gut verkaufen kann.« Dem alten Knecht gefiel der verständige Plan seines Herrn, und er besorgte das Pferd Maugis aufs beste, so daß es wirklich sehr gut aussah, als der Markttag gekommen war. Sie führten es alle beide nach Bré. Als sie zum Markte kamen, hielt sie ein Mann aus Cornwall an, prüfte das Pferd und fragte: »Wie hoch der Preis?« »Hundert Taler!« erwiderte Patrick. »Seid doch verständig, junger Mann; Euer Pferd ist nicht mehr als siebzig wert; wollt Ihr soviel?« »Nein, ich lasse keinen Heller von hundert Talern ab!« Der Käufer blickte in das Maul des Tieres, ließ es laufen und sagte: »Gut, ich zahle Euch achtzig Taler dafür, nun schlagt ein!« Und er bot Patrick seine offene Hand dar; aber dieser schlug nicht ein, um dadurch seine Zustimmung kundzugeben. »Nein, ich brauche hundert Taler,« sagte er, »und ich gebe es nicht um einen Heller billiger.« »Dann behaltet es!« sprach der Händler und ging davon. Aber kurz darauf kam er zurück, prüfte das Roß von neuem, ließ es traben und bot nacheinander zweiundachtzig, vierundachtzig, sechsundachtzig und endlich neunzig Taler. »Gebt es her, Meister!« sagte der Knecht leise zu Patrick. Aber dieser hatte es sich in den Kopf gesetzt, hundert Taler zu verlangen, so daß der Käufer ging und nicht wiederkam. Sie erstiegen den Hügel und nahmen ihren Platz auf dem Markte ein. Mehrere Händler betrachteten Maugis und boten verschiedene Preise; aber keiner bot bis zu neunzig Taler. Die Nacht brach ein, und sie kehrten heim, ohne das Pferd verkauft zu haben. Auf dem Wege sagte der alte Knecht zu seinem Herrn: »Ich glaube, Ihr tatet Unrecht, das Pferd nicht um neunzig Taler herzugeben, es war ein anständiger Preis.« »Keinesfalls tat ich Unrecht, mein Pferd ist hundert Taler wert, und ich gebe es um keinen Heller billiger. Wir gehen mit ihm zum ersten Markt nach Lannion auf Michaelis, und dort werden wir es um diesen Preis verkaufen, das sollst du sehen!« Sie gingen wirklich zum Markt nach Lannion, dann zu den Märkten von Vieux-Marché und Guerlesquin und anderswohin, und die Preise, die man ihnen bot, wurden immer niedriger. Schließlich brach Maugis eines Tages ein Bein, als ein anderes Pferd es trat, und man mußte es schlachten. Da erinnerte sich Patrick an die erste Lehre seines Vaters und sagte zu sich: »Mein Vater hatte dennoch recht, als er mir sagte, wenn man einen verständigen Preis für ein Tier angeboten bekäme, so solle man es hergeben.«
Einige Tage später besuchte er seinen Oheim. Dieser war nicht zu Hause, als er ankam, und er begrüßte seine Tante: »Guten Tag, Tante, wie geht es Euch?« »Guten Tag, Neffe Patrick, mir geht es, Gott sei Dank, gut.« »Und Onkel und die Kinder? Geht es ihnen auch gut?« »Gott sei Dank ist alles wohl im Hause. Der Onkel ist mit den Knechten auf der großen Wiese beim Heuwenden, denn man muß das schöne Wetter benutzen; aber ich will ihm sagen lassen, daß du gekommen bist, um ihn zu besuchen; er wird gleich kommen. Jacquette, sage geschwind zu Morris, daß sein Neffe Patrick da ist und auf ihn wartet! So setz dich doch, Neffe! Dein Onkel muß jeden Augenblick kommen.« Die Magd Jacquette lief, ihren Herrn von der Ankunft seines Neffen zu benachrichtigen. Dieser kam sogleich. »Guten Tag, lieber Neffe Patrick!« sagte er, »ich freue mich sehr, dich zu sehen. Du kommst nicht gerade oft auf Besuch zu uns!« »Ach, Onkel, ich habe viel Arbeit zu Hause, da mein armer Vater nicht mehr alles überwachen kann, und wenn der Herr abwesend ist, so tun die Knechte, wie Ihr wohl wißt, nichts Gescheites.« »Du hast recht, Neffe, und je weniger ein Hausherr abwesend ist, desto besser ist es für das Vieh und für das Feld. Aber erzähle mir, wie die Sachen bei dir stehen, die Kühe, die Pferde, die Ernte?« »Die Ernte steht ganz gut, Gott sei Dank, aber ich habe letzthin mein bestes Pferd verloren.« »Das ist bedauerlich. Ich wußte es nicht; wie hat sich das zugetragen?« »Es hat durch einen Tritt eines anderen Pferdes das Bein gebrochen, und ich mußte es schlachten. Ein wunderschönes Tier! Auf dem letzten Markt in Bré hätte ich neunzig Taler dafür bekommen.« »Da schau! Neunzig Taler! Das ist Geld, Neffe! Aber wenn du es verloren hast, so ist das Gottes Wille, und man muß sich darunter beugen. Übrigens ist es besser, daß das Unglück dir zugestoßen ist, da du so wohlhabend bist, als daß es einen armen kleinen Bauern getroffen hätte, der dadurch mit einem Schlage ruiniert worden wäre.« »Das ist wahr, Onkel, aber es ist trotzdem auch für mich ein schwerer Verlust. Ich will nun zum Ersatz eine gute Zuchtstute kaufen, die mir jedes Jahr ein Füllen werfen wird, das ich im ersten oder zweiten Jahr verkaufen kann. Mein Nachbar Guionvarch zieht auch jedes Jahr ein bis zwei Fohlen auf und verdient viel Geld damit. Würdet Ihr wohl mit mir zum nächsten Markt nach Lannion gehen, Onkel, um mir beim Ankauf einer Stute behilflich zu sein, da Ihr doch ein Kenner seid.« »Ich gehe gern mit dir zum Markt nach Lannion, Neffe, und werde dir eine gute Zuchtstute aussuchen, sei deswegen ganz unbesorgt.« So plauderten sie lange von ihren Geschäften, tranken dabei Äpfelwein und aßen Speck und Eierkuchen, die ihnen die Tante Jeanette zubereitet hatte. Sie trennten sich als die besten Freunde von der Welt und verabredeten, daß sie gemeinsam zum Markt nach Lannion gehen wollten. Sie kauften dort eine Zuchtstute und begossen den Handel mit verschiedenen Schoppen Äpfelwein und manchem kleinen Gläschen Schnaps; und der Onkel versicherte den Neffen, daß er die beste Stute des Marktes gekauft habe.
Aber kurz darauf wurde die Stute sehr krank, und Patrick kehrte zu seinem Onkel zurück, um ihn um Rat zu fragen. Seine Tante saß gerade am Spinnrad, als er eintrat: »Ihr seid es, Neffe Patrick«, sagte sie. »Ja, Tante, wie geht es dir?« »Ganz gut, Gott sei Dank! Setz dich doch!« »Ich komme, meinen Onkel wegen der Stute um Rat zu fragen, welche schwer krank ist.« »Die, welche ihr auf dem letzten Markt in Lannion gekauft habt?« »Ja, ich fürchte sehr, sie zu verlieren.« »Ich bin in Verlegenheit, lieber Neffe, daß ich dir kein Weißbrot und kein Fleisch anbieten kann. Letzthin haben uns Verwandte und Freunde besucht, und wir haben sie nach Kräften bewirtet. Ich habe nicht einmal mehr einen Tropfen Branntwein; aber der Äpfelwein ist glücklicherweise nicht übel. Ich werde einen Krug für dich und deinen Onkel holen.« »Wo ist Onkel, ich möchte ihn sprechen.« »Er ist beim Vieh, und du wirst ihn irgendwo im Stall finden.« Patrick suchte seinen Onkel, und als sie alle zwei eintraten, nahm die Magd gerade den Brei vom Feuer, um den Knechten das Mittagessen zu geben. »Mache uns Milchsuppe, Jeanette«, sagte Morris zu seiner Frau. »Die Milch ist bei der großen Hitze gestockt.« »Dann backe uns Eier und bring Speck auf den Tisch!« »Ich habe auch keine Eier mehr; unsere Hennen legen nicht mehr, oder man stiehlt uns die Eier, ich habe nicht einmal mehr gekochten Speck; du weißt, daß wir in den letzten Tagen mehrere unerwartete Besuche bewirten mußten. Ich schäme mich wirklich, daß unser Neffe uns so von allem entblößt findet.« »Darüber kümmert Euch nicht, Tante,« sagte Patrick, »hier ist Haferbrei, der sehr schön aussieht; ich liebe den Brei sehr, ich esse daheim alle Tage Brei.« Und er nahm einen Napf voll saure Milch, näherte sich dem Kessel, der auf einem Dreifuß stand, und schöpfte daraus den warmen Brei löffelweise wie die andern. Nachdem der Brei gegessen war, nahm der Großknecht einen Laib Schwarzbrot, zeichnete ein Kreuz mit dem Messer darauf und schnitt für jeden Knecht und jede Magd ein Trumm ab, die er nacheinander auf den Tisch warf. Das Brot war schimmelig und sah schlecht aus. Patrick nahm eine Schnitte wie die andern und strich sich Butter darauf. »Iß nicht von diesem Brot!« sagte ihm sein Onkel. »Ich habe kein Weißbrot mehr,« sagte Jeanette, »unser Neffe hat es wirklich schlecht getroffen; er überrascht uns, da wir an allem Mangel haben.« »Ich esse gern Schwarzbrot«, erwiderte Patrick. »Aber es ist ganz schimmelig«, warf sein Onkel ein. »O, das stört mich nicht, das kommt bei uns auch manchmal vor, und man darf darin nicht so heikel sein.« Auf dem Heimweg bedachte Patrick den Unterschied zwischen dem heutigen und dem vorigen Empfang, und er gedachte der zweiten Lehre seines Vaters.
Einige Zeit später hatte er erkannt, daß zum Haushalt unbedingt eine Frau gehört, und er dachte daran, sich zu verheiraten. Diesmal war er entschlossen, nicht wieder gegen den dritten Rat seines Vaters zu handeln, und wollte seine Frau aus der Gemeinde nehmen. Er hatte als Nachbarn einen braven Bauern, der nicht reich war, aber durch seine Arbeit und gute Führung in wohlhabender Stellung war, im Lande geachtet wurde und einen ansehnlichen Hausstand besaß. Der Nachbar hieß Guinovarch. Er hatte eine Tochter von zwanzig Jahren, welche arbeitsam und haushälterisch war. Patrick bat den Vater um ihre Hand und erhielt sie leicht.
Nach neun bis zehn Monaten schenkte sie ihm einen Sohn. Ein armes Mädchen von leichten Sitten namens Margarete Loho, die ein baufälliges Gemäuer in der Nachbarschaft bewohnte, kam am nämlichen Tage mit einem Sohne nieder. Die beiden Kinder wurden zugleich getauft und erhielten beide den Namen Hervé. Patricks Frau Marianne traf Anordnungen, daß es der armen Wöchnerin an nichts fehle, man brachte ihr Wein, Weißbrot und Fleisch. Als die beiden Kinder das Alter von vier bis fünf Jahren erreicht hatten, waren sie fast immer beisammen, spielten auf der Schwelle des Hauses oder liefen durch die Felder, um Vogelnester zu sammeln oder Maulbeeren und Haselnüsse zu pflücken. Der eine konnte sich vom andern nicht trennen, so daß Marianne eines Tages zu Patrick sagte: »Wenn wir das Kind von Margarete adoptieren würden, da es doch fast ständig in unserem Hause ist, das würde sogar für seine Mutter sehr vorteilhaft sein, die ihren Unterhalt kaum verdient.« »Du hast recht, das wird uns nicht ärmer machen«, erwiderte Patrick und vergaß die vierte Lehre seines Vaters. Von diesem Augenblicke an wurde das Kind Margaretens wie das des Hauses behandelt und wie dieses zur Schule geschickt, als die Zeit dazu gekommen war.
Eines Tages kam ein Diener des benachbarten Schlosses und ersuchte Patrick, sich schleunigst zum Herrn von Kerninon zu begeben, der ihn sprechen wolle. Patrick ging sorgenvoll ins Schloß und fragte sich, was der Herr ihm wohl zu sagen haben würde. Er hatte einige Apfelbäume auf das Feld gepflanzt, das zum Grund und Boden des Herrn von Kerninon gehörte, welchem er alljährlich eine aus einer weißen Henne und einem Dutzend Eiern bestehende Pachtsumme bezahlen mußte. Außerdem durfte er keinen Baum schlagen und keinen pflanzen. Der Herr zeigte sich sehr unzufrieden über das, was er die Anmaßung eines Fronbauern nannte, und befahl ihm, diese Apfelbäume unverzüglich zu entfernen und nicht wieder so zu handeln, sonst würde es ihm schlecht gehen.
Auf dem Schloßhofe erblickte Patrick eine spanische Ziege, die mit schöner weißer Wolle bedeckt war, welche bis zur Erde reichte. Nie hatte er ein solches Tier gesehen, und er blieb einige Zeit stehen und betrachtete und bewunderte es. »Der Herr«, sagte ihm ein Diener, »liebt diese Ziege außerordentlich; oft kommen die Edelherren von Lannion und aus der Umgebung, um sie zu besichtigen, und er würde lieber tausend Taler verlieren als seine Ziege.« Man kämmte sie alle Tage, und ein Diener, der nichts anderes zu tun hatte, führte sie durch die Felder und Wiesen und ließ sie überall weiden, wo sie wollte. Diese Ziege gefiel Patrick ausnehmend gut, und daheim dachte er immer an sie. »Wenn ich eine solche Ziege haben könnte,« sagte er zu sich, »aber es ist nicht möglich, es gibt nur eine dieser Art im ganzen Lande.« Es wurde bei ihm zur fixen Idee, und er schlief nicht mehr. Schließlich wurde er derart von dem Gedanken besessen, eine Ziege wie die im Schloß zu haben, daß er den Entschluß faßte, die des Herrn von Kerninon zu stehlen. Er sprach mit keinem Menschen darüber, und in einer dunklen Nacht drang er in den Stall des Tieres ein, führte es auf seinen Hof und versteckte es an einem Orte, den niemand als er betrat. Als der Herr das Verschwinden seiner Ziege bemerkte, war er ganz trostlos. Er sandte alle seine Leute aus, sie zu suchen, und ließ im ganzen Lande bekanntmachen, daß der, welcher ihm zur Wiedererlangung des Tieres verhelfe, hundert Taler Belohnung erhalten solle. Patrick wurde seine Ziege sehr lästig; wenn man sie bei ihm fände, würde ihn der Herr ohne Zweifel hängen lassen. Man sprach im ganzen Lande nur noch von dem Verschwinden der weißen Ziege des Herrn von Kerninon und von der Belohnung, die dem, welcher sie ins Schloß zurückbringen würde, versprochen worden war.
Eine Magd Patricks ging eines Tages, um im öffentlichen Backofen zu backen. Eine Magd aus dem Schloß war auch da, und man redete, wie auch sonst überall, von dem Verschwinden der Ziege. »Wer so glücklich wäre, die Ziege wiederzufinden,« sagte die Schloßmagd, »hätte für den Rest seines Lebens genug, denn der Herr würde ihm nicht nur dreihundert Franken geben, sondern auch ein schönes Anwesen.« Patrick war seit einigen Tagen traurig und unruhig. Als die Magd vom Backhaus zurückkam, fragte sie jemand, während man um den mittäglichen Haferbreikessel versammelt war: »Was weißt du neues, Mettik?« »Eine Magd vom Schloß war auch am Backofen, und sie hat gesagt, daß der Herr solchen Kummer habe wegen des Verlustes seiner Ziege, daß er ganz krank geworden ist. Daher wird der, welcher sie ihm zurückbringt, sein ganzes Leben lang keinen Mangel mehr leiden, denn er bekommt nicht nur dreihundert Franken, sondern auch ein schönes Anwesen zur Belohnung. Man wird neuerdings Nachforschungen anstellen, und es gibt kein Haus, keinen Stall, keine Grippe, die man nicht genau untersuchen wird, und die Ziege muß sich irgendwo wiederfinden.« Patrick, der stillschweigend zugehört hatte, stellte plötzlich seinen Napf beiseite, warf den Löffel geräuschvoll auf den Tisch und ging ins Bett. Seine Frau lief ihm verwundert nach und fragte ihn, ob er krank sei. »Nein«, entgegnete er. »Soll ich dir eine Milchsuppe oder etwas anderes machen?« »Nein, ich brauche nichts. Laß mich in Ruhe, bitte!«
Am andern Morgen war Patrick traurig und schweigsam. Abends fragte ihn Marianne nach dem Grund seines Trübsinns und drang solange in ihn, bis er ihr schließlich sagte: »Wenn ich wüßte, daß du das Geheimnis bewahren könntest … Ich weiß ungefähr, wo die weiße Ziege des Herrn von Kerninon ist …« »Wirklich? Wo ist sie denn? Du weißt, was für ein Lohn dem versprochen ist, der sie wiederbringt.« »Aber nein, ich sage es dir nicht, die Frauen können kein Geheimnis für sich behalten.« Marianne war nicht zufrieden, wie ihr euch wohl denken könnt. Am andern Tage ging sie selbst mit einem Pferd, um im Backhaus Brot zu holen. Die Schloßmagd war auch da, als sie kam. »Noch nichts neues von Eurer Ziege?« fragte sie Marianne. »Nein, unser Herr verliert fast den Verstand darüber.« Marianne gab der Magd ein Zeichen, einen Augenblick mit ihr hinauszugehen, und als sie draußen waren, flüsterte sie ihr ins Ohr: »Mein Mann weiß, wo die Ziege ist.« »O mein Gott, wie glücklich wird mein Herr sein, wenn er diese gute Nachricht erhält!« Und als sie wieder im Schloß war, hatte sie nichts Eiligeres zu tun, als es ihrem Herrn zu erzählen. »Wie?« rief dieser, »Rolland weiß, wo meine Ziege ist, und er hat es mir nicht sofort gesagt? Man hole ihn mir auf der Stelle!« Ein Diener ging sogleich hin, um Patrick zu holen. Dieser aber weigerte sich, ins Schloß zu kommen und behauptete, er wisse absolut nichts von der Ziege, seine Frau habe Unsinn geredet und man dürfe ihr kein Wort glauben. Diese Antwort wurde dem Herrn hinterbracht, der sich damit nicht zufrieden gab und zwei Gendarmen schickte mit dem Befehl, ihn mitzubringen. Patrick wurde also mit Gewalt ins Schloß gebracht, wo er zitternd und bestürzt eintrat. »Du weißt, wo meine Ziege ist?« fragte ihn der Herr. »Nein, bei Gott, lieber Herr, ich habe sie nur ein einziges Mal gesehen, damals im Schloßhofe, und ich weiß nicht, wo sie gegenwärtig ist.« »Deine Frau hat gesagt, du wüßtest es.« »Meine Frau hatte unrecht, wenn sie das sagte, denn ich habe nie etwas Derartiges zu ihr geredet; und dann, gnädiger Herr, Ihr wißt ja, wie geschwätzig die Frauen sind und wie sie reden, ohne nachzudenken.« »Du hast gesagt, du wüßtest, wo meine Ziege wäre, und wenn du sie mir nicht wieder verschaffst, so werde ich dir den Kopf abschlagen lassen, und sollte es mich tausend Taler kosten.« »Ich weiß nichts davon, ich schwöre es Euch bei meiner Seele, edler Herr!« »Ich werde dich auf den Grund des Verließes werfen lassen, bis du dich entschließest, zu reden.« Und Patrick wurde von den Dienern ins Schloßgefängnis geführt. »Alles dieses« sagte er zu sich, als er im Kerker saß, »kommt daher, daß ich zwei Lehren meines Vaters nicht befolgt habe, nämlich die, keinen Reicheren zu beneiden und kein Geheimnis einer Frau anzuvertrauen.« Der Herr von Kerninon indessen begab sich am folgenden Morgen nach Lannion, um beim Gericht Klage einzureichen. Der Prozeß Patricks dauerte nicht lange; er wurde verurteilt, öffentlich auf dem Schafott hingerichtet zu werden.
Patricks Sohn und sein Gefährte, der uneheliche Sohn Margaretens, waren um diese Zeit junge Leute von achtzehn bis zwanzig Jahren und kamen gerade aus St. Brieuc, wo sie die Schule besuchten. Am Tage, da das gegen Patrick ausgesprochene Todesurteil vollstreckt werden sollte, befand sich der Bastard, sei es zufällig, sei es absichtlich, in Lannion. Der Scharfrichter lag krank und dem Tode nahe im Bett, und man hatte dem, der ihn an diesem Tage ersetzen sollte, hundert Taler geboten. Niemand meldete sich, und man sah sich schon genötigt, die Exekution aufzuschieben, als ein junger Mann das Podium bestieg, auf welchem die Richter saßen, um diesen seine Dienste anzubieten. Es war der Bastard. Der Herr von Kerninon, der mit den Richtern auf dem Podium saß, sagte zu dem Verurteilten: »Wenn Ihr noch eine Eröffnung zu machen habt, so ist es noch Zeit und Ihr könnt reden.« »Ja,« sagte Patrick, »ich habe etwas zu sagen, ehe ich sterbe, und ich wünsche, daß jedermann mich höre und aus meinen letzten Worten Nutzen ziehe. Wenn Ihr mich hier seht, so kommt das daher, daß ich die sieben Lehren meines Vaters nicht beherzigt habe, die er mir auf dem Sterbebette gab. Ich will Euch die sieben Lehren nennen, behaltet sie wohl in acht und handelt danach, dann wird es euch wohlergehen.« Und er wiederholte die Lehren des sterbenden Vaters. »Ach!« schloß er dann seine Rede, »ich habe immer gegen diese Ratschläge meines Vaters gehandelt und Ihr seht, wohin das geführt hat. Dieser junge Mann -« hiermit zeigte er auf den Bastard -, »der sich erbietet, den Henker zu ersetzen, und der mir für ein paar Heller den Kopf abschlagen will, ist der natürliche Sohn eines Mädchens, das in unserer Nachbarschaft wohnt. Aus Mitleid mit ihrer Not habe ich der Mutter ihr Leben erleichtert und ihr das Kind abgenommen. Ich habe es aufgezogen und in die Schule geschickt wie meinen eigenen Sohn. Und heute lohnt er es mir so! Aber warum habe ich auch die vierte Lehre meines Vaters nicht befolgt? Was Eure Ziege betrifft, Herr von Kerninon, so habe ich sie gestohlen, getrieben vom Dämon der Begehrlichkeit, auch darin gegen den Rat meines Vaters handelnd: Beneide nie einen, der reicher ist, als du. Ihr werdet sie bei mir finden, in einem kleinen Stalle hinter dem Hause. Meine Frau hat mein Geheimnis ausgeplaudert, das ich ihr nie hätte enthüllen sollen, zufolge der siebenten Lehre meines Vaters. Jetzt habe ich nichts mehr zu sagen, und ich bin bereit zu sterben.« Der Bastard machte sich fertig und prüfte die Schneide seiner Axt, aber das Volk murrte, warf Steine nach ihm und rief: »Zum Tod den Bastard!« Da erhob sich der Herr von Kerninon mit den Richtern und sprach: »Hola! Nicht Patrick Rolland soll enthauptet werden, sondern der andere, der Bastard.« Die Menge klatschte diesen Worten Beifall. Der Scharfrichter fühlte sich plötzlich gesund und kam im gleichen Augenblick, und der Kopf des Bastards rollte zur größten Befriedigung der Menge auf das Schafott. Patrick durfte unangefochten heimkehren. Er starb kurz darauf, und auf seinem Totenbette erinnerte er seinen Sohn an die sieben Lehren des Großvaters. Der Sohn beobachtete sie, glücklicher als sein Vater, von Punkt zu Punkt, und befand sich, wie man sagt, wohl dabei, denn er wurde der angesehenste und am meisten geachtete Mann des ganzen Landes.
[Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen]