Suche

Der schwarze Vogel

0
(0)
Ein Mann hatte zwölf Söhne und eine sehr schöne Tochter. Diese war das Herzbinkl ihrer Mutter, während die Söhne sehr streng von ihr behandelt wurden. Deshalb beschlossen die Söhne ihre Eltern zu verlassen und in der Fremde ihr Glück zu suchen. Sie wußten, daß ihr Vater sie nicht fortlassen würde, und hielten daher ihren Plan geheim. Sie sparten einiges Reisegeld und warteten nur auf eine schickliche Gelegenheit, um aus dem elterlichen Haus zu entfliehen.

Eines Tages besuchten die Eltern mit der Schwester einen Jahrmarkt, von dem sie erst nach zwei Tagen zurückkehren konnten. Kaum hatten die zwölf Brüder dies erfahren, so rafften sie ihre Habseligkeiten zusammen, und wenige Stunden nach Abreise ihrer Eltern kehrten auch sie dem väterlichen Haus den Rücken. Sie setzten ihre Reise bis spät in die Nacht fort und waren schon eine ziemliche Strecke gegangen, als es ihnen an Lebensmitteln mangelte. Sie sahen umher, allein nirgends gewahrten sie eine gastfreundliche Hütte. Immer schneller eilten sie jetzt weiter und kamen an einen Wald, durch den nur ein sehr schmaler Weg führte. Der Hunger trieb ihre Füße an, und sie gelangten nach einer halben Stunde an das andere Ende des Waldes. Hier erblickten sie eine kleine Hütte. Fröhlich eilten sie auf diese zu und klopften an die verschlossene Tür, doch nichts regte sich. Sie klopften immer stärker und stärker, und endlich wich die Tür ihrer Gewalt. Sie traten in das Innere des Häuschens und fanden auch hier nichts, was darauf schließen ließ, daß es bewohnt sei. Überall lag Staub und Moder, und Spinnen hatten mit ihren Netzen die Wände überzogen. Sie machten eine zweite Tür auf, welche sie in ein geräumiges Gemach führte, das allen Anzeichen nach als Wohnzimmer gedient haben mochte. Aus dieser Stube führte eine andere Tür in ein kleines Gemach; und als sie dieses betraten, sahen sie einen Greis, der auf einem Stuhl saß und mit dem Kopf auf dem Tische ruhte. Die Brüder glaubten, es sei der Hausherr, und wollten sich aus Ehrfurcht vor seinem grauen Haupt zurückziehen. Als aber der jüngste an den Stuhl stieß, an dem der vermeintliche Hausherr saß, zerfiel dieser zu Staub.

Vor Schrecken sanken die zwölf Brüder zu Boden, und es bedurfte geraumer Zeit, ehe sie sich wieder erholten. Hierauf machten sie ein Grab und begruben die Asche des Greises. Da keine anderen Erben da waren, so nahmen sie das Haus in Besitz und reinigten es sorgfältig. Sie durchsuchten es dann näher und fanden noch manches, was die Zeit nicht verwüstet hatte und das ihnen gute Dienste leistete. In dem Tisch, auf welchem der Greis geruht hatte, fanden sie einige Geldrollen, womit sie sich längere Zeit Lebensmittel kaufen konnten.

Einige Tage später sahen sie sich in der Gegend um und entdeckten eine Stunde von ihrer Wohnung entfernt ein Bergwerk, in dem man Arbeiter brauchte. Die Brüder wurden einig, daß immer elf von ihnen hier arbeiten sollten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, während der zwölfte für die übrigen kochen und die anderen häuslichen Arbeiten verrichten sollte. So war ein Jahr verflossen, als es ihrer Schwester zu Hause auch nicht mehr gefiel, denn was früher die Brüder von ihrer Mutter zu ertragen hatten, mußte jetzt die Schwester vom Vater erdulden. Sie wurde von diesem wie die gemeinste Magd behandelt, weil er glaubte, sie habe um das Vorhaben ihrer Brüder gewußt. Sie beschloß daher, ihre geliebten Brüder aufzusuchen, und bat Gott Tag und Nacht, er möchte ihr den Weg zeigen, der zu ihren Brüdern führe.

Eines Tages schickte sie ihr Vater in eine vier Stunden entfernte Stadt. Sie nahm heimlich ihre Sachen mit und kehrte nicht mehr zurück. Auf Gott vertrauend ließ sie jene Stadt seitwärts liegen und ging weiter, ohne zu wissen, wohin sie ihre Schritte wenden sollte. Fragte sie jemand, der ihr begegnete, wohin sie gehe, so antwortete sie: „Zu meinen Brüdern.“ Sonst erfuhr man von ihr nichts, und man glaubte, sie sei nicht recht bei Sinnen.

Schon hatte sie einen vollen Tag nichts gegessen und nichts getrunken, als sie bei einer Hütte ankam. Hungernd und dürstend klopfte sie an die Tür des einzeln stehenden Hauses. Das war die Hütte ihrer Brüder.

Kaum hatte der älteste Bruder, welcher heute die häuslichen Arbeiten verrichtete, das schüchterne Klopfen gehört, als er auch schon hinauseilte. Die Schwester bat mit niedergeschlagenen Augen um einen Trank Wasser und um ein Stückchen Brot.

Der Bruder aber ließ sie nicht ausreden, sondern schloß sie vor Freude weinend in seine Arme. Erst jetzt erhob die verschämte Bettlerin ihre Augen und erkannte ihren Bruder. Dieser führte sie in das Haus und gab ihr zu essen und zu trinken. Sie hatten sich so viel zu erzählen, daß die Stunde der Heimkehr der übrigen Brüder unbemerkt heranrückte. Sie kamen und staunten, als sie durch das Fenster ihren Bruder mit einem Mädchen erblickten. Doch als sie in die Stube traten und die Schwester erkannten, ging das Staunen in Freude über. Sie begrüßten einander und erzählten, was sie erlebt hatten.

Am andern Morgen gingen auf Bitten der Schwester alle zwölf an die Arbeit. Sie aber blieb zu Hause und besorgte die Wirtschaft.

Die Sonne war bereits untergegangen, da öffnete sie das Fenster, um die Brüder schon aus der Ferne kommen zu sehen, damit sie ihnen entgegeneilen könnte. Als sie am Fenster saß, kam ein kleiner schwarzer Vogel dahergeflogen, der sich auf ihre rechte Hand setzte und ihr einige Tropfen Blut aussog. Das Mädchen freute sich über den zahmen Vogel und wollte ihn fangen, allein er flog davon. Bald darauf kamen ihre Brüder, welchen sie jedoch nichts von dem Vogel sagte.

Sooft sie nach diesem Tag das Fenster öffnete, kam der Vogel und sog ihr eine immer größere Menge Blut aus der Hand; doch sooft sie die Hand nach ihm ausstreckte, flog er davon. Der große Blutverlust wirkte nachteilig auf sie ein, sie wurde immer matter und matter, verlor die gesunde Gesichtsfarbe und das Feuer der Augen. Dies konnte ihren Brüdern unmöglich lange verborgen bleiben. Sie fragten ihre Schwester mitleidig um die Ursache dieser Veränderung, und sie erzählte ihnen nun die Geschichte mit dem Vogel. Die Brüder nahmen sich vor, den Vogel zu töten, und richteten Fallen auf.

Am folgenden Tag mußte einer der Brüder zu Hause bleiben. Der Vogel erschien am Fenster und fing sich in der Falle. Kaum war der kleine Näscher gefangen, so tötete ihn der Bruder und vergrub ihn im Garten.

Nach einiger Zeit wuchs auf dem Grab des Vogels ein Apfelbaum, welcher bald zwölf sehr schöne Äpfel trug. Um den Brüdern eine Freude zu machen, pflückte die Schwester dieselben und setzte sie ihnen vor. Die Brüder, welche schon seit der Entfernung aus dem elterlichen Haus keine Äpfel gegessen hatten, griffen freudig nach den schönen Früchten und aßen sie. Doch als sie dieselben genossen hatten, schrumpften ihre Glieder zusammen, und sie wurden in solche Vögel verwandelt, wie der war, welcher unter dem Apfelbaum begraben lag. Das Fenster, bei dem der schwarze Vogel gefangen worden war, stand offen, und sie flogen durch dasselbe ins Freie.

Von der Zeit an saß die Schwester tagelang weinend am offenen Fenster, indem sie sich als die Urheberin dieses Unglücks anklagte. Da flogen die zwölf schwarzen Vögel herbei, und einer sprach: „Du kannst uns erlösen, wenn du von heute an durch zwei Jahre kein Wort über deine Lippen bringst.“

Sie versprach es zu tun, und unter wehmütigem Gesang erhoben sich die Brüder in die Luft, gleichsam als wollten sie damit ihrer Schwester Lebewohl sagen. Die Schwester verließ nun das Haus, in welchem sie mit ihren Brüdern so viele glückliche Tage verlebt hatte.

An einem heißen Junitag kam sie in eine wüste Gegend, furchtbar quälte sie der Durst, und nirgends war eine frische Quelle, nirgends eine gastliche Hütte, nirgends ein Baum oder Strauch zu sehen. Ermattet sank sie auf die Erde und blieb bewußtlos liegen. Wie sie wieder die Augen aufschlug, sah sie einen stattlichen jungen, vornehmen Mann und einen Bedienten beschäftigt, sie wieder ins Leben zurückzurufen. Als sie die Augen aufschlug, hörte man von den Fremden einen Freudenruf. In Eile wurde im Wagen ein Lagerplatz für die Kranke bereitet, und man fuhr sorgfältig in die nächste Stadt. Hier erholte sich das Mädchen bald wieder, und der Vornehme, der ein Graf war, wich nicht mehr von ihrer Seite. Auf alle Fragen des Grafen hatte das Mädchen nur mit Zeichen geantwortet, getreu dem Versprechen, welches sie ihren Brüdern gegeben hatte; daher glaubte der Graf, sie sei stumm. Dennoch gewann er sie lieb und vermählte sich mit ihr.

Bald hatte sich die stumme Gräfin, wie man sie nannte, die Liebe aller Untergebenen erworben, denn kein Bittender ging unbeschenkt von dannen. Aber die Liebe ihrer Schwiegermutter konnte sie sich nicht erwerben, ungeachtet sie dieser alles tat, was sie ihr nur Gutes und Liebes erweisen konnte. Die Mutter des Grafen war eine stolze Frau und konnte es ihrem Sohn nie vergeben, daß er sich, wie sie sagte, „eine auf der Straße gefundene Betteldirne“ zur Gemahlin erwählt labe. Überall, wo sie Verachtung gegen des Grafen Gemahlin zeigen konnte, tat sie es mit sichtbarer Freude.

Achtzehn Monate waren sie verehelicht, da brach ein Krieg aus, und der Graf mußte seinem König zu Hilfe ziehen. Hart war der Abschied für den Grafen, aber härter noch war er für die Gräfin, welche ihrem Gatten nicht einmal ein lautes Lebewohl sagen durfte, weil sie ihre Brüder erlösen wollte.

Zwei Monate nach diesem traurigen Abschied gebar die Gräfin zwei sehr schöne Knaben. Ihre Schwiegermutter legte nun ihren Haß gegen die Gräfin auf eine entsetzliche Weise an den Tag. Sie gewann durch Schmeicheln und Geld einen Freund des Grafen für sich, sie beredete ihn, er möchte dem Grafen schreiben, seine Gemahlin habe ihm zwei Hunde geboren. Das geschah. Die Grafenmutter übergab den Brief einem ihr ergebenen Boten, welcher dem Grafen dasselbe aussagte, was im Briefe stand. Der jähzornige Graf gab sogleich den Befehl, daß die Gräfin sterben müsse. Mit diesem Todesurteil eilte der Bote schnell zurück. Als er auf der Burg anlangte, erwartete ihn schon die Schwiegermutter der Gräfin und las freudig das Urteil. Sie selbst überbrachte es der Schwiegertochter, die den Brief ruhig und gefaßt durchlas.

Zum Vollstrecker des Urteils war der Bote ernannt. Dieser führte die Gräfin des Nachts in einen Wald, und schon zuckte er das Messer auf das Opfer des Hasses, als plötzlich mehrere Stimmen über ihm riefen: „Halt ein!“ Erschrocken ließ er das Messer fallen und wandte sich um. Aber er sah niemanden als zwölf Vögel, welche auf ihn zugeflogen kamen. Sie ließen sich vor ihm auf die Erde nieder und verwandelten sich zum Schrecken des Mörders in zwölf Jünglinge.

So hatte die Schwester ihre Brüder erlöst, denn eben war es zwei Jahre seit ihrer Verwandlung, und ihre Schwester hatte selbst in der Todesgefahr kein Wort gesprochen. Dafür wurde sie nun auch von ihren Brüdern gerettet. Diese nahmen den Boten gefangen und führten ihn in das Schloß zurück. Der Graf war soeben angekommen, denn die Vögel hatten ihn von der Unschuld der Gräfin unterrichtet. Er eilte auf sie zu und bat sie um Verzeihung, und statt aller Antwort schloß sie ihn in ihre Arme. Nun wurden der gedingte Bote und die Grafenmutter von dem Grafen zum Tode verurteilt und konnten selbst durch die Bitten der Gräfin nicht gerettet werden, denn der Graf blieb unerbittlich. Der Freund des Grafen kam mit einer Gefängnisstrafe davon; die Brüder aber blieben bei ihrem Schwager.

Quelle: (Tschechisches Märchen)

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content