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Die Geschichte von Christic, welcher Papst in Rom wurde

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Es war einmal eine fromme und züchtige Jungfrau, welche alle Tage von ihrem Schutzengel besucht wurde. Alle Tage hörte sie eine oder zwei Messen. Eines Tages, da sie von der Kirche zurückkam, begegnete ihr eine Frau, welche schon acht uneheliche Kinder gehabt hatte und mit dem neunten schwanger ging. Da sagte sie zu sich selber: »Wie kann Gott einer solchen Frau vergeben?« An diesem Tage aber besuchte sie ihr Schutzengel nicht, obwohl sie die Messe gehört und wie gewöhnlich gebetet hatte. Auch am nächsten Tage kam ihr guter Engel nicht. Sie geriet in Verzweiflung. Am dritten Tage endlich erschien er, und sie sprach zu ihm: »Jesus! Mein Schutzengel, es sind drei Tage her, daß ich Euch nicht gesehen habe.« »Nein. Und du wirst mich sogar überhaupt nicht mehr sehen«, entgegnete der Engel. »Jesus! Was habe ich denn tun können, was Euch mißfiele.« »Vor drei Tagen erblicktest du eine unglückliche Frau, welche schon acht uneheliche Kinder hatte und mit dem neunten schwanger ging. Da sagtest du zu dir selber: ‚Wie kann Gott einer solchen Frau vergeben?‘ Diese Worte haben Gott mißfallen, denn er kann dieser Frau ebensogut vergeben wie dir selbst. Nun mußt du dich verheiraten.« »Jesus! Mich verheiraten! Ich, die ich nie ein Auge auf einen Mann geworfen habe.« »Ja, du mußt dich verheiraten. Setze dich auf die Stufen eines Steinkreuzes am Rande der Straße und frage alle Männer, die vorübergehen: ‚Heda, Mann, wollt Ihr mich zur Frau nehmen?’« »Jesus! Was sagt Ihr da, mein Schutzengel, nie würde ich es wagen, solches zu tun!« »Du mußt es dennoch tun! Geh und tue, wie ich dir gesagt habe.«
Sie setzte sich also ganz verschämt auf die Stufen des Kreuzes, und da an diesem Tage in der benachbarten Stadt Jahrmarkt war, gingen viele Leute des Weges. Und zu jedem Mann, der vorüberging, sagte sie: »Heda, Mann, wollt Ihr mich zur Frau nehmen?« »Gott!« riefen die, welche sie kannten, »schämst du dich denn gar nicht, eine Heilige wie du? Ich werde es dem Pfarrer sagen!« Und die, welche sie nicht kannten, sagten: »Laß mich in Ruhe, schlechtes Weibsbild! Geh und verstecke dich aus Scham!« Aber niemand sagte: ja. Es kam auch ein Betrunkener vorüber, der sich nur mit Mühe auf den Beinen hielt und fluchte wie ein Teufel. Diesen fragte sie wie die andern: »Wollt Ihr mich zur Frau nehmen, Mann?« »Geh zum Teufel, du Hurenmensch!« rief ihr der Trunkenbold zu und ging vorbei. Aber alsbald überlegte er sich die Sache und sagte zu sich selber: »Halt! Die da hat gewiß nie einen Mann gefunden, der sie hat haben wollen, ebensowenig wie ich je eine Frau gefunden habe, die mich hat haben wollen; ich will doch versuchen, mit ihr handelseinig zu werden.« Er drehte sich also um und redete mit der Jungfrau. Sie wurden einig, und die Hochzeit fand schon am folgenden Tage statt.
Die arme Frau hatte unter diesem Manne viel zu leiden; er vertat alles, besoff sich alle Tage und prügelte sie häufig. Als ihre Zeit gekommen war, gab sie einem Knaben das Leben. Nun sagte sie zu ihrem Gatten: »Geh ins Schloß und bitte die Schloßherrin, für unser Kind Gevatter zu stehen; wenn sie ablehnt, so bitte die Magd; einen Paten werden wir leicht finden.« »Donner von Brest!« erwiderte der Vater, der wie gewöhnlich getrunken hatte, »wozu diese Kröte taufen?« »Jesus! Was sagst du da, Mann? Du siehst, daß unser Kind schwächlich ist. Welch ein Unglück, wenn es ohne Taufe sterben würde. Geh geschwind!« Der Mann ging fluchend davon.
Auf dem Wege begegnete er einem Greis, welcher ihn fragte: »Wohin gehst du, wackrer Mann?« »Eine Patin für den kleinen Affen zu suchen, mit dem meine Frau gerade niedergekommen ist.« »Hast du schon einen Paten?« »Nein, wirklich nicht.« »Gut, geh nur eine Patin zu holen; ich werde Pate sein. Geh morgen mit der Patin und dem Kinde in die Kirche deiner Gemeinde, dort wirst du mich finden.« Unser Mann begab sich ins Schloß und trug der Schloßherrin seine Bitte vor. »Ich soll Euch«, sagte sie, »ein Kind benennen, einem Trunkenbold wie Ihr seid? Nein, nein, darauf rechnet nicht!« »Gut, dann gebt mir wenigstens Eure Magd! Mir ist es gleichgültig.« »Meine Magd mag gehen, wenn sie will.« Die Magd versprach mitzugehen, und am folgenden Tage begaben sich der Vater, die Gevatterin und die Amme mit dem Kinde in die Kirche. Der unbekannte Greis war da und erwartete sie. Das Kind wurde getauft und erhielt den Namen Christic. Kaum waren sie aus der Kirche heraus, da sagte der Vater: »Jetzt wollen wir in Gariou’s Kapelle gehen und eine zweite Taufe vornehmen.« Es war ein Wirtshaus, das er so nannte. »Nein,« erwiderte der Greis, »geht vielmehr geradeswegs nach Hause und öffnet dort Euren Schrank. Darin werdet Ihr Essen und Trinken und alles, was Ihr braucht, finden. Aber flucht nicht mehr und sagt Eurer Frau keine bösen Worte mehr.« »Gut, ich will es nicht mehr tun oder der Teufel soll mich holen.« Und er ging mit der Patin, der Amme und dem Kinde heim. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, so ging er geradeswegs auf seinen Schrank los, öffnete ihn und sprach: »Was wünscht sich mein kleines Herzchen, meine teure Frau? Weißbrot mit Braten und Rotwein?« Seine Frau glaubte, er scherze; aber als sie ihn Schüsseln mit allen Arten von guten Speisen auf den Tisch tragen sah, geriet sie in große Verwunderung. Und in der Folgezeit genügte es, daß sie alle Tage irgend etwas wünschten, um es sogleich im Schrank zu finden: Nahrung, Kleidung und Geld, so daß sie jetzt mit einem Schlage reich geworden waren. Der Gatte änderte seinen Lebenswandel, er trank nur mehr mäßig, und sie lebten nun glücklich miteinander.
Der Knabe hatte ein gutmütiges Gesicht und er wuchs wie das Farrenkraut auf der Heide. Man schickte ihn zur Schule, und er lernte alles, was er wollte. An seinem Schulwege lag eine alte zerfallene Kapelle. Im Sommer, wenn das Wetter schön war, kamen die Frauen aus dem Nachbardorf hier zusammen und spannen und sangen im Schatten, und wenn Christic mit seinen Büchern unter dem Arm vorüberging, so riefen sie ihn herbei, um ihn zu umarmen – denn er war ein so lieber Junge – und um ihn predigen und von seinen Studien reden zu hören. Oft hielten sie ihn den ganzen Tag lang auf und er kam nicht zur Schule. Eines Tages kam der Lehrer zu den Eltern, um sich zu beschweren, und der arme Junge bekam Prügel. Darüber wurde er so böse, daß er zu seinem Vater sagte: »Der Tag wird kommen, da Ihr mir die Füße waschen werdet!« Und zu seiner Mutter gewendet sagte er: »Und Ihr, Mutter, werdet mir das Handtuch reichen, um sie abzutrocknen.«
Von diesem Augenblick haßten ihn Vater und Mutter und sie mochten ihn nicht mehr um sich haben. Eines Tages befahlen sie daher einem Diener, ihn in den Wald zu führen, zu töten und seine Zunge auf einer Schüssel vorzuweisen. Der Diener tötete das Kind nicht, sondern band es vermittelst einer Schnur an einen Baumzweig, die Füße nach oben und den Kopf nach unten. Dann tötete er einen Hund, der ihm in den Wald gefolgt war, und brachte dessen Zunge seiner Herrschaft auf einer Schüssel.
Das arme Kind schrie zum Steinerweichen. Ein Wagen fuhr gerade auf der Straße, die am Waldrand entlangführte, vorüber, und der Kutscher wurde ausgesandt, um sich nach der Ursache dieses verzweifelten Geschreis zu erkundigen. Der Kutscher band Christic vom Baume los und stellte ihn auf die Füße; dann, als er die Geschichte seiner Herrschaft erzählt hatte, fuhr die Kutsche davon und Christic lief hinterher. Herren und Damen saßen im Wagen, welche sangen, lachten und Apfel aßen, deren Schale sie auf die Straße warfen. Christic ergriff sie sogleich und verzehrte sie, denn es hungerte ihn arg. »Gebt mir doch einen Apfel, ihr edlen Herren und ihr schönen Damen!« sagte er zu ihnen, »ich weiß viele hübsche Sachen und werde sie euch zum Besten geben, wenn ihr es wünscht.« »Wirklich?« sagte einer der Herren. »Ja, edler Herr!« Man warf ihm einen Äpfel zu und er verschlang ihn gierig. Dann sagte er wieder: »Wenn ihr mich in euren Wagen steigen lassen wollt, so werde ich euch schöne Geschichten zur Genüge erzählen.« Man erlaubte ihm, daß er in den Wagen stiege. »Nun laß deine schönen Geschichten hören!« sagte man zu ihm. »Wäret Ihr einverstanden, mein Herr, wenn sich in Eurem Hause jemand befände, der weder Pater noch noster betete?« »Nein, gewiß nicht, aber ich glaube nicht, daß eine solche Person in meinem Hause ist.« »Verzeihung, mein Herr, es ist jemand in Eurem Hause, der niemals ein Gebet spricht.« »Ich möchte wissen, wer?« »Wenn Ihr heimkommt, so sendet alle Eure Diener mit irgendeinem Auftrag nach verschiedenen Richtungen aus. Der, welchen Ihr am weitesten fortschickt, wird trotzdem als erster wieder zurück sein, und das ist der, welcher niemals betet. Wenn er von seiner Reise zurückkommt, so fragt Ihr ihn, was er als Lohn für die schnelle Erledigung seines Auftrags verlangt. Er wird Euch bitten, ihm das zu geben, auf was er zuerst die Hand legt. Ihr werdet es ihm gewähren, und dann wird er versuchen, Eure Gemahlin zu bekommen. Schließt dieselbe in das höchste Zimmer Eures großen Schloßturms ein, derart, daß jener eine Leiter ergreifen muß, um zu ihr hinaufzugelangen. Sobald er die Hand an die Leiter legt, müßt Ihr ihm sagen, daß sie ihm gehört und daß er sie mitnehmen kann. Sogleich wird er sich in seiner eigenen Schlinge gefangen sehen und sich mit einem furchtbaren Schrei in die Lüfte erheben mitsamt der Leiter, denn er ist der Teufel.« Der Edelmann war sehr erstaunt, als er solches hörte. Als er heimgekommen war, tat er, was ihm Christic empfohlen hatte, und alles traf ein, wie vorhergesagt worden war.
Nachdem Christic einige Tage im Schlosse geweilt hatte, wünschte er nach Rom zu gehen und den Papst aufzusuchen, von dem er so oft hatte reden hören. Er machte sich also auf den Weg und wanderte und wanderte immerfort, denn der Weg nach Rom ist weit. Auf dem Wege traf er einen alten Mönch, welcher gleichfalls zu Fuß reiste, begleitet von einem jungen Burschen, der etwa in seinem Alter, das heißt zirka fünfzehn bis sechzehn Jahre alt war. »Wohin gehst du, mein Sohn?« fragte der Mönch. »Nach Rom. Und Ihr, Vater?« »Ich gehe auch nach Rom. Man soll dort einen neuen Papst wählen, und ich muß dabei sein.« »Hola, Vater,« sagte Christic, »ich muß auch dabei sein, und ich sage Euch sogar, daß ohne mich nichts wird geschehen können. Wir wollen zusammen reisen, wenn es Euch recht ist, Vater.« Und Christic knüpfte mit dem jungen Menschen, der den Mönch begleitete, ein Gespräch an, und sie wurden bald gute Freunde. Sie marschierten plaudernd und lachend voraus, und der Alte folgte ihnen unter Murren und Schelten nach.
Die Sonne war schon seit einiger Zeit untergegangen, als sie sich vor einer Herberge, die an der Seite der Straße lag, einfanden. »Hier wollen wir übernachten«, sagte der alte Mönch, welcher müde war. »Nein, wir wollen nicht in dieser Herberge übernachten,« versetzte Christic, »denn heute nacht kommen Diebe dorthin.« »Wie kannst du das wissen, Grünschnabel?« meinte der Greis. »Wenn Ihr darauf besteht, so wollen wir hier bleiben. Dann werdet Ihr sehen, ob ich die Wahrheit rede.« Sie betraten alle drei das Wirtshaus und baten um Abendessen und Nachtlager. Nach dem Essen plauderten sie ein wenig am Kamin, wie man es vor dem Schlafengehen zu tun pflegt. Dabei sagte die Wirtin: »Ich weiß nicht, was das bedeuten soll, aber seit drei Nächten bellen die Hunde dermaßen im Hof, daß man kaum bei dem Lärm schlafen kann.« »Ich weiß wohl, was das bedeutet,« sagte Christic, »die Hunde bellen die Diebe an, welche sich seit drei Nächten um Euer Haus herumtreiben, und diese Nacht werden sie einbrechen.« »Gott, was sagt Ihr da?« rief die Wirtin. »Hört nicht auf diesen Bengel,« sagte der alte Mönch, »er weiß nicht, was er redet.« »Ich sage nichts als die Wahrheit,« erwiderte Christic, »übrigens werdet Ihr es schon erfahren. Aber ich will Euch sagen, was Ihr tun müßt, Wirtin. Um Mitternacht wird ein Mann kommen, der wie ein reicher Kaufmann gekleidet ist und zehn Rosse mitführt, deren jedes mit zwei Tragkörben beladen sein wird. Dieser angebliche Kaufmann wird Euch um die Erlaubnis bitten, seine Tragkörbe über Nacht in Eurem Hause einzustellen. Laßt sie ihn in den großen Saal bringen und seid nicht erstaunt, wenn die Träger sie sehr schwer finden, denn in jedem dieser Tragkörbe ist ein Dieb verborgen; aber tut nicht, als ob Ihr darauf achten würdet. Wenn alle Tragkörbe im Saale niedergesetzt sind, so laßt die Gendarmen aus der benachbarten Stadt holen; auf diese Weise werden die Räuber leicht überwältigt werden.« Alles geschah, wie Christic vorausgesagt hatte: die Diebe, welche in den Tragkörben verborgen waren, wurden gefangengenommen und ins Gefängnis geworfen. Jedermann war erstaunt über Christics Verstand und Wissen.
Am andern Morgen machten sich die drei Reisenden wieder auf den Weg. »Nun, Vater,« fragte Christic den alten Mönch, »was sagt Ihr zu den Ereignissen der letzten Nacht, und glaubt Ihr nun, daß ich einiges weiß?« Aber der Greis murrte immer noch und nannte Christic nur einen Gassenbuben, Grünschnabel und ähnlich. Bald kamen sie in eine kleine Stadt, wo man gerade mit großem Pomp die Leiche eines reichen Kindes, das soeben gestorben war, zum Kirchhof führte. Jedermann war in Trauer und viele Leute weinten. Als der alte Mönch solches sah, begann er auch zu weinen, aber Christic seinerseits lachte. Der Greis sagte voll Zorn: »Wie, Grünschnabel, du siehst die andern weinen und lachst?« »Ja, gewißlich, Vater, und ich glaube, daß es eher am Platze ist zu lachen als zu weinen, wenn man drei Seelen vor der Verdammnis gerettet sieht.« »Wie das? Was willst du damit sagen?« »Die Eltern dieses Kindes wären zu eitel und übermütig geworden, wenn das Kind ihnen geblieben wäre, und Gott hat es ihnen genommen, damit sie nicht alle drei verlorengingen: Vater, Mutter und Kind.«
Sie setzten ihre Reise fort, die jungen Leute plaudernd und lachend voraus, der alte Mönch, der ihnen kaum nach konnte, unter Schelten hinterher. Gegen Abend kamen sie an ein Schloß. »Wir wollen in diesem Schloß um ein Nachtlager bitten«, sagte der Greis. »Hola!« versetzte Christic, »dieses Schloß wird heute nacht abbrennen.« »Wie kannst du das wissen, Grünschnabel? Du machst dir ein Vergnügen daraus, mir immerfort zu widersprechen.« »Geht hinein, wenn es Euch beliebt; ich werde die Nacht auf jenem Haufen trockenen Laubes verbringen; die Nacht wird ohnehin nicht sehr kalt sein.« Sie entschlossen sich alle drei, die Nacht im Freien, in einem Walde, der das Schloß umgab, zu verbringen. Im großen Saale des Schlosses hörten sie tanzen, singen, lachen und auf schreckliche Art fluchen und lästern. Plötzlich traf der Blitz in das Schloß und alles wurde zu Asche verbrannt. Von da ab hörten sie nichts mehr. »Nun, Vater, wenn wir im Schlosse gewesen wären, was, glaubt Ihr, wäre mit uns geschehen?« fragte Christic den Mönch. Der Greis war erschüttert und schwieg; er begnügte sich damit, nach seiner Gewohnheit zu brummen.
Als die Sonne aufging, machten sie sich sogleich wieder auf den Weg. Sie gingen durch eine Stadt, wo man gerade einen alten Mönch begrub. Jedermann freute sich und lachte wie bei einer Hochzeit, denn man war überzeugt, daß der Heimgegangene geradeswegs ins Paradies gekommen sei. Christic aber fing an zu weinen. Der alte Mönch fragte ihn wieder zornig: »Warum tust du immer das Gegenteil von dem, was die andern tun? Wenn sie weinen, lachst du, und wenn sie lachen, weinst du. Bist du vielleicht der Teufel?« »Ich habe, glaube ich, guten Grund zu weinen. Dieser Einsiedler sprach jeden Tag ein Gebet, daß man jemanden bei seinem Begräbnis möge weinen sehen, und da ich keinen Menschen weinen sah, so habe ich es getan.«
Nach langem, langem Marsche kamen sie endlich vor die Stadt Rom. »Sagt mir, Vater,« fragte Christic den Mönch, »was würdet Ihr mir geben, wenn Ihr römischer Papst würdet?« »Du würdest mein Schweinehirt werden, wenn du wolltest, oder du könntest heimgehen.« »Gut. Und du, Yvon,« fragte er den jungen Burschen, der den Mönch begleitete, »was würdest du mir geben, wenn du römischer Papst würdest?« »Ich würde dich zu meinem Stellvertreter machen, Christic!«
Am Tage nach ihrer Ankunft wurde eine große Prozession abgehalten, welcher Kardinäle, Bischöfe, Mönche und eine unabsehbare Menge Volkes beiwohnten, welche aus allen Ländern zusammengeströmt waren. Alle hielten Kerzen in den Händen, eine immer größer und schöner als die andere. Unser alter Mönch hatte auch eine, die war so groß und so schwer, daß er sie kaum tragen konnte. Der, dessen Kerze sich bei der Prozession von selbst entzünden würde, sollte drei Tage später zum Papst gewählt werden. Christic hatte kein Geld, um sich eine Kerze zu kaufen, trotzdem folgte er zur Seite seiner Reisegefährten dem Umgang und hielt eine Haselgerte mit der Spitze nach oben in der Hand, welche er an einer Hecke abgebrochen und geschält hatte wie die Pilger, die zu den Ablässen der Basse-Bretagne wallfahrten. Ein jeder heftete die Augen auf seine Kerze und wartete von einem Augenblick zum andern, daß sie sich entzünden sollte; nur wenige blickten in ihre Bücher und beteten. Mit einem Male fing Christics Gerte zum größten Erstaunen der Menge Feuer. »Blast seine Gerte aus!« rief sogleich der alte Mönch, »löscht sie aus! Der sie trägt, ist ein Zauberer!« Und Christics Gerte wurde ausgeblasen; er selbst aber wäre fast von der Menge, die sich auf ihn stürzte, erdrückt worden. Am folgenden Tage begann die Prozession von neuem, und das Feuer ergriff wieder die Gerte Christics. Ebenso am dritten Tage zur größten Enttäuschung aller derer, die sich gern auf den Thron des heiligen Petrus gesetzt hätten, und derer waren viele, das könnt ihr mir glauben. »Hola!« rief Christic, »ich bin römischer Papst!« Christic wurde also in Rom als Papst eingesetzt. Der alte Mönch suchte ihn auf und sagte: »Welche Stelle gebt Ihr mir an Eurem Hofe, heiliger Vater?« »Die eines Schweinehirten; und wenn Ihr die nicht wollt, so kehrt in Euer Kloster zurück!« Der Greis ging murrend und scheltend davon. Yvon fragte nun: »Und ich, Christic?« »Du, Yvon, du bleibst bei mir als mein Stellvertreter!«
Indessen hatten Christics Eltern keinen Priester finden können, der sie lossprechen wollte, seit sie ihrem Diener befohlen hatten, ihren Sohn zum Tode zu führen. Alle die, an welche sie sich wandten, sagten ihnen, nur der Papst allein besitze hinreichende Gewalt, um ihnen die Absolution für eine so schwere Sünde zu geben. Sie entschlossen sich also, nach Rom zu gehen. Als sie angekommen waren, baten sie den heiligen Vater, ihre Beichte zu hören. Der alte Mann fing zu beichten an. »Sagt mir Eure Sünden, mein Sohn, ohne eine davon zu verbergen!« sprach Christic, denn er hatte seinen Vater schon erkannt. »Ich hatte einen Sohn, und ich befahl, ihn zu töten.« »Gott! Kann das wahr sein, mein Sohn?« »Ach ja, zu meinem Unglück, mein Vater!« »Aber vielleicht ist er nicht tot; groß ist Gottes Macht, vertraut auf ihn! Besucht mich noch einmal in meinem Palast, ehe Ihr Rom verlaßt, dann will ich Euch Eure Buße angeben!« Dann trat seine Mutter in den Beichtstuhl, und nachdem er sie gehört hatte, empfahl er ihr ebenfalls, ihn nochmals vor der Abreise in seinem Palaste aufzusuchen.
Am folgenden Tage begaben sich die beiden Alten zitternd und in Erwartung einer schrecklichen Buße zum Palaste des heiligen Vaters. Der Papst empfing sie gütig. Er ließ in ihrer Gegenwart ein Becken voll Wasser aufs Feuer stellen. Sie glaubten, man würde sie mit kochendem Wasser besprengen und hatten große Furcht. Als das Wasser lauwarm war, füllte ein Diener eine goldene Schale damit und brachte dieselbe dem heiligen Vater. Dieser nahm nun ein Handtuch und befahl seinem Vater und seiner Mutter, ihm die Füße zu waschen. Als dieses geschehen war, hob er seine Augen voller Tränen zu ihnen auf und sprach: »Erkennt ihr mich nicht? Ich bin euer Sohn Christic, den ihr zum Tode führen lassen wolltet.« Und er öffnete seine Arme; sie aber warfen sich weinend hinein.

[Ernst Tegethoff: Französische Volksmärchen]

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