Dem König war die Frau gestorben und der Königin war der Mann gestorben, und nach einer Zeit heirateten die beiden.
Der König hatte eine Tochter, die hieß Anne, und die Königin hatte eine Tochter, die hieß Kati.
Nun war aber Anne, die Tochter des Königs, viel schöner als Kati, die Tochter der Königin; gleichwohl liebten die beiden Mädchen einander wie richtige Schwestern.
Die Königin jedoch war neidisch. Es quälte sie, dass des Königs Tochter hübscher war als ihre eigene, und sie sann darüber nach, wie sie deren Schönheit zerstören könnte.
Sie sann und sann und schließlich ließ sie eine Hühnerfrau, eine Zauberin, die in der Nähe in einer Schlucht wohnte, zu sich kommen. „Kannst du mir helfen, Annes Schönheit zu zerstören?“
„Das kann ich wohl. Schick das Mädchen nur morgen früh zu mir, aber schick sie nüchtern. Sie soll vorher nichts essen und trinken!“
Früh am nächsten Morgen also weckte die Königin Anne: „Meine Liebe, lauf gleich hinunter in die Schlucht zur Hühnerfrau und hole ein paar Eier!“
Da machte sich Anne sogleich auf, doch als sie durch die Küche kam, sah sie dort einen Kanten Brot liegen, den nahm sie mit und kaute ihn beim Gehen.
Sie kam zur Hütte der Hühnerfrau und trat ein.
„Hühnerfrau, die Mutter schickt mich um ein paar Eier“ – „Ja, nimm den Deckel von dem Topf dort und sieh, was geschieht!“
Anne nahm den Deckel hoch – doch es geschah nichts.
Die Hühnerfrau gab ihr die Eier. „Geh heim zu deiner Mutter und sag ihr, sie soll die Tür zur Speisekammer besser verschlossen halten!“
Anne ging also heim und erzählte der Königin, was die Hühnerfrau gesagte hatte. Da wusste die Königin, das Mädchen hat etwas gegessen.
Am nächsten Morgen schickte sie Anne wieder früh zur Hühnerfrau. Diesmal lag kein Brotkanten in der Küche und die Tür zur Speisekammer war verschlossen, und die Königin passte genau auf, dass Anne ohne Essen fortging.
Doch unterwegs, auf dem Feld neben dem Weg, sah die Anne ein paar Bauern, die pflückten Erbsen, und weil sie freundlich zu jedermann war, sprach sie mit ihnen. Sie bekam eine Handvoll Erbsen und aß sie unterwegs.
So kam sie zur Hühnerfrau.
„Die Mutter schickt mich um Eier.“
„Nimm den Deckel von jenen Topf und sieh, was geschieht.“
Anne hob den Deckel hoch – doch wieder geschah nichts.
Da wurde die Hühnerfrau recht ärgerlich. „Sag deiner Mutter, der Topf wird nicht kochen, wenn kein Feuer da ist.“
Anne nahm die Eier, ging nach Hause und berichtete der Königin.
Am dritten Morgen nun geht die Königin selbst mit zur Hühnerfrau.
Als Anne diesmal den Deckel vom Topf hebt, – da fällt ihr eigener, hübscher Kopf ab und – wupps – ein Schafskopf ist an seine Stelle gesprungen. – Denkt euch, ein Schafskopf saß auf ihren Hals! – Nun war die Königin zufrieden, und zufrieden ging sie nach Hause.
Ihre eigene Tochter Kati aber, die war nicht zufrieden. Sie nahm ein feines Leinentuch und wickelte es ihrer Schwester um den Kopf, so dass er ganz verdeckt war. Dann nahm sie Anne bei der Hand, und verließ mit ihr das Schloss. Die beiden gingen fort, fort von zu Hause, um in der Fremde ihr Glück zu suchen.
Sie gingen und gingen und gingen, bis sie an ein Schloss kamen.
Kati klopfte ans Tor. Sie bat um ein Nachtlager für sich und ihre kranke Schwester.
Sie wurden eingelassen und sie erfuhren: dies war das Schloss eines Königs, der hatte zwei Söhne, und der eine Sohn war sterbenskrank. Alle Ärzte und Gelehrten des Reiches waren schon konsultiert worden, doch keiner konnte herausfinden, was dem Prinzen fehlte. Und das seltsamste war, wer auch immer eine Nacht bei ihm wachte, war am nächsten Morgen verschwunden und wurde nie mehr gesehen.
Nun hatte der König verkünden lassen: „Wer eine Nacht bei dem Prinzen Wache hält, soll einen Viertelscheffel Silber bekommen.“
Kati war ein mutiges Mädchen. Sie ließ sich zum König führen.
„Herr König, wenn Ihr erlaubt, werde ich heute nacht beim Prinzen sitzen und Wache halten.“
So geschah es. Bis Mitternacht war alles in Ordnung.
Dann aber, als die Uhr zwölf schlug, erhob sich der kranke Prinz. Er stand auf, kleidete sich an und huschte die Treppe hinab. Kati folgte ihm, und er schien sie nicht zu bemerken.
Der Prinz ging zum Stall, er sattelte sein Pferd und rief seinen Hund. Dann schwang er sich in den Sattel, und Kati sprang flugs hinter ihm auf.
So ritten sie dahin, der Prinz mit Kati hinter sich. Sie ritten durch einen grünen Wald. Und als sie hindurchritten, pflückte Kati Nüsse von den Bäumen, die sie streiften, und sammelte sie in ihrer Schürze.
Sie ritten und ritten, bis sie zu einem grünen Hügel kamen.
Hier hielt der Prinz das Pferd an, und er sprach:
„Grüner Hügel, öffne dich,
und lass herein mich,
den Prinzen mit seinem Hund und Pferd.“
Und Kati fügte schnell hinzu:
„Und mit dem Mädchen hinter ihm.“
Im gleichen Augenblick öffnete sich der Hügel und sie ritten hinein.
Der Prinz stieg vom Pferd und betrat eine prächtige Halle, die war strahlend hell erleuchtet. Viele schöne Feen umringten den Prinzen und führten ihn hinweg zum Tanz.
Kati, die keiner bemerkte, versteckte sich inzwischen hinter der Tür.
Von dort sah sie den Prinzen tanzen – und tanzen – und tanzen. Er tanzte, bis er nicht mehr konnte und auf ein Polster niederfiel. Da fächelten ihm die Feen Luft zu, sie fächelten so lange, bis er sich wieder erheben und weitertanzen konnte.
Schließlich krähte der Hahn – und da hatte es der Prinz höchst eilig, aufs Pferd zu kommen. Kati sprang hinter ihm auf, und schon ritten sie nach Hause.
Als die Morgensonne am Himmel aufging, eilten die Diener des Königs zur Kammer des Prinzen. Sie kamen herein, und sie fanden Kati am Feuer sitzen und ihre Nüsse knacken.
„Der Prinz hatte eine gute Nacht. Er schläft.“
Der König freute sich. Und er bat Kati, noch eine Nacht beim Prinzen zu wachen.
„Wenn ich noch eine Nacht bei ihm wachen soll, will ich einen Viertel Scheffel Gold dafür bekommen.“ Das wurde ihr zugesagt.
Die zweite Nacht verging wie die erste. Um Mitternacht stand der Prinz auf, zog sich an, sattelte sein Pferd und ritt fort zu dem grünen Hügel und dem Feenball in der prächtigen Halle. Wieder folgte Kati ihm unbemerkt und als sie durch den Wald ritten, sammelte siewieder Nüsse in ihrer Schürze. Dieses Mal beobachtete sie nicht den Prinzen, sie wusste ja, er würde tanzen und tanzen und tanzen. Sie beobachtete die Feen. Sie bemerkte ein Feenkind, das spielte mit einem Stab, und sie hört, wie die Feen miteinander plauderten: „Das Kind sollte nicht mit dem Zauberstab spielen. Es weiß nicht, drei Schläge mit diesem Stab würden Katis kranke Schwester gesund und wieder so schön machen, wie sie früher war.“
Da nahm Kati eine Nuss aus ihrer Schürze und rollte sie zu dem Feenkind hin, sie rollte noch eine Nuss und noch eine, bis das Feenkind sie bemerkte, hinter den Nüssen hertapste und den Zauberstab fallen ließ. Kati hob ihn schnell auf und steckte ihn in ihre Schürze.
Beim ersten Hahnenschrei ritten sie wieder geschwind nach Hause, und als sie dort angekommen waren, eilte Kati zuerst in ihr Kämmerchen. Sie berührte Anne dreimal mit dem Zauberstab. Da fiel der eklige Schafskopf ab – und Anne wieder sie selbst, die schöne Anne.
Dann eilte Kati in die Kammer des Prinzen, und als die Diener des Königs eintraten, saß sie beim Feuer und knackte Nüsse.
„Der Prinz hat eine gute Nacht gehabt. Ert schläft. Doch noch eine Nacht wache ich nur, wenn ich den kranken Prinzen heiraten kann.“ Auch das wurde ihr zugesagt.
In der dritten Nacht war alles, wie in den beiden Nächten zuvor: Um Mitternacht stand der Prinz auf und ritt zu dem Feenball und Kati folgte ihm unbemerkt, und im Wald pflückte sie wieder Nüsse und sammelte sie in ihrer Schürze.
Dieses Mal spielte das Feenkind mit einem Vögelchen und Kati hörte eine von den Feen plaudern: „Das Kind sollte nicht mit dem Vögelchen spielen. Es weiß nicht, drei Bissen von diesem Vögelchen würden den kranken Prinzen wieder so gesund machen, wie er es nur je gewesen ist.“
Kati nahm eine Nuss aus der Schürze und rollte sie zu dem Feenkind, und noch eine und noch eine, bis das Kind das Vögelchen fallen ließ. Kati nahm es an sich und steckte es schnell in ihre Schürze.
Beim ersten Hahnenschrei ritten sie wieder heim und der Prinz sank müde ins Bett.
Kati aber, anstatt wie gewöhnlich ihre Nüsse zu knacken, rupft diesmal erst das Vögelchen und kocht es.
Bald erfüllt ein köstlicher Duft den Raum.
Der kranke Prinz seufzt auf. „Oh, ich wünschte, ich bekäme ein Stückchen von diesem Vögelchen!“
Kati reicht ihm einen Bissen von dem Vogel, der Prinz isst ihn – und er hebt den Kopf und stützt sich auf die Ellenbogen.
Nach einer Weile lässt er sich wieder vernehmen: „Oh, wenn ich doch noch einen Bissen von diesem Vögelchen haben könnte!“
Da gibt Kati ihm einen zweiten Bissen – und der Prinz setzt sich in seinem Bett auf.
Ein Weilchen später: „Oh, hätte ich doch nur einen dritten Bissen von diesem Vögelchen!“
Kati gibt ihm den dritten Bissen. Und der Prinz steht auf und ist gesund und bei Kräften. Er kleidet sich an und setzt sich ans Feuer.
Als am Morgen die Diener des Königs hereinkamen, fanden sie Kati und den jungen Prinzen am Feuer sitzen und Nüsse knacken.
Inzwischen hatte der andere Sohn des Königs die Schwester Anne gesehen – und er hatte sichauf der Stelle in sie verliebt, so wie es jeder tat, der ihr schönes Gesicht sah.
So also wurde bald eine Doppelhochzeit gefeiert: der vormals kranke Prinz heiratete die gesunde Schwester und der gesunde Prinz heiratete die vormals kranke Schwester,
und alle lebten sie glücklich und gut
und starben schließlich glücklich und gut
und tranken niemals aus einem trockenen Hut.
Quelle: eigene Übersetzung und Erzählbearbeitung nach:J. Jacobs „English Fairy Tales“,