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Die Seejungfrau

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Es war einmal ein alter Fischer, der fieng eine Zeitlang nur sehr wenig Fische. Da tauchte eines Tages dicht vor seinem Boote eine Seejungfrau empor, die fragte ihn, ob er viele Fische fienge.
»Nein,« antwortete der alte Mann.
»Was für Belohnung,« fragte ihn die Seejungfrau, »verheißest du mir, wenn ich dir Fische im Überfluss ins Netz schicke?«
»Ach,« sagte der alte Mann, »ich besitze blutwenig.«
»Willst du mir deinen erstgeborenen Sohn geben?« fragte sie.
»O ja, wenn ich je einen haben sollte. Aber ich habe keinen und werde nie einen haben, denn ich und meine Frau, wir sind beide schon alt.«
»Sage mir, was du besitzest.«
»Ich habe nur eine alte Mähre, einen alten Hund und meine Frau. Ich hab‘ sonst nichts auf der Welt.«
»Hier sind drei Körner, die du noch heut abends deiner Frau geben sollst,« fuhr die Seejungfrau fort, »hier drei andere für den Hund und drei für dein Pferd. Diese drei hier aber sollst du hinter deinem Hause pflanzen. Und es wird die Zeit kommen, da wird deine Frau drei Söhne haben und der Hund drei Junge und die Mähre drei Füllen. Und hinter deinem Hause werden drei Bäume emporwachsen, und wenn einer von deinen Söhnen stirbt, so wird einer von den Bäumen verdorren, du aber wirst von nun ab Fische fangen im Überfluss. Doch denke daran, dass du mir deinen ältesten Sohn bringen musst, sobald er drei Jahre alt geworden ist.«
Alles gieng in Erfüllung, wie es die Seejungfrau vorausgesagt hatte, und der alte Mann fieng Fische in Menge. Aber als das dritte Jahr sich seinem Ende näherte, da wurde er sehr niedergeschlagen und bekümmert und kam zusehends von Kräften. An dem Tage, da das dritte Jahr um war, fuhr er wie gewöhnlich aufs Meer hinaus, um zu fischen, aber er nahm seinen Sohn nicht mit.
Da tauchte die Seejungfrau dicht vor seinem Boote auf und fragte: »Hast du mir deinen Sohn gebracht?«
»Nein,« erwiderte der Fischer, »ich hab‘ ihn nicht mitgebracht, ich habe ganz vergessen, dass gerade heute die drei Jahre um sind.«
»Schon gut,« sagte die Seejungfrau, »behalte ihn noch vier Jahre; vielleicht kannst du dich dann leichter von ihm trennen.«
Überglücklich, dass er seinen Sohn noch vier Jahre behalten dürfe, kehrte der alte Mann nach Hause zurück. Er fuhr fort, Fische zu fangen, die ihm reichlich ins Netz kamen, aber als das vierte Jahr seinem Ende zugieng, da wurde er vor Kummer ganz krank, er aß nicht und trank nicht, und seine Frau wusste nicht, was ihm fehlte. Diesesmal wusste er nicht, was er thun sollte, doch war er fest entschlossen, auch diesesmal seinen Sohn nicht mitzunehmen.
Wieder fuhr er wie sonst aufs Meer hinaus, um zu fischen, und wieder tauchte die Seejungfrau dicht vor seinem Boote empor und fragte ihn: »Hast du mir deinen Sohn gebracht?«
»Ach,« erwiderte der Fischer, »ich hab‘ ihn auch diesmal vergessen.«
»Kehre nach Hause zurück«, sagte die Seejungfrau, »aber von heute in sieben Jahren musst du ihn mir ganz bestimmt bringen. Es wird dir dann nicht leichter fallen, dich von ihm zu trennen. Inzwischen wirst du weiter Fische haben in Überfluss.«
Voller Freude kam der alte Mann heim. Er konnte seinen Sohn weitere sieben Jahre behalten, länger, glaubte er, würde er wohl nicht leben und also die Seejungfrau nicht mehr sehen.
Aber das Ende der siebenten Jahres kam heran, und wieder empfand der Fischer Kummer und Sorge. Er fand Tag und Nacht keine Ruhe.
Eines Tages fragte ihn sein ältester Sohn, was ihn betrübe.
Der Vater wollte zuerst nicht mit der Sprache heraus.
Da sagte der Bursche, dass er es erfahren müsse, und endlich erzählte ihm der Vater von dem Übereinkommen zwischen ihm und der Seejungfrau.
»Sei unbesorgt,« sagte der Sohn, »mache mit mir, was du willst.«
»Du sollst aber nicht zu ihr gehen, mein Sohn, und wenn ich mein Lebenlang keinen Fisch mehr fange.«
»Wenn du nicht willst, dass ich mit dir gehe, so bestelle mir beim Schmied ein festes, starkes Schwert, damit will ich mein Glück versuchen,« sagte der Sohn.
Da gieng der Vater zum Schmied, und der machte ihm ein tüchtiges Schwert. Als er damit heimkam, da ergriff es der Sohn; kaum aber hatte er es ein- oder zweimal geschwungen, so zersprang es in hundert Splitter.
Da bat er seinen Vater, ihm ein anderes Schwert machen zu lassen, das aber sollte noch einmal so schwer sein. Sein Vater that es, aber es ergieng dem neuen Schwerte nicht besser als dem ersten: er zerbrach es in zwei Hälften.
Da gieng der alte Mann zum drittenmale zum Schmied, und der schmiedete ein Schwert, wie er noch nie zuvor eines gemacht hatte.
»Hier hast du das Schwert,« sagte der Schmied, »es gehört eine tüchtige Faust dazu, es zu schwingen.«
Der Fischer brachte es seinem Sohne, der es probierte.
»Das ist recht,« sagte er, »nun ist es hohe Zeit, mich auf den Weg zu machen.«
Am folgenden Morgen sattelte er das schwarze Pferd und ritt, von seinem Hunde gefolgt, von dannen. Unterwegs stieß er auf ein todtes Schaf; ein großer Hund, ein Falke und eine Fischotter stritten sich darum. Da stieg er vom Pferde und vertheilte das Aas so unter die drei, dass der Falke einen, die Fischotter zwei und der Hund drei Theile davon erhielt.
Darauf sagte der Hund: »Wenn dir ein flinker Fuß oder ein scharfer Zahn nützen kann, dann denk‘ an mich, und ich will dir zu Hilfe kommen.«
Dann sagte die Fischotter: »Wenn dir ein schwimmender Fuß in der Tiefe eines Sees zustatten kommen kann, so denk‘ an mich, und ich will dir zu Hilfe kommen.«
Zuletzt sprach der Falke: »Wenn du in Noth geräthst, aus der dich hurtige Schwingen oder krumme Krallen befreien können, so denk‘ an mich, und ich will dir zu Hilfe kommen.«
Darauf ritt er weiter, bis er das Schloss eines Königs erreichte. Dort nahm er einen Dienst als Kuhhirte an, und sein Lohn sollte groß oder klein sein, je nachdem die Kühe viel oder wenig Milch gaben. Er trieb das Vieh auf die Weide, aber diese war spärlich. Daher gaben sie auch nicht viel Milch, als er sie heimgetrieben hatte, und so bekam er an diesem Abend auch nur wenig Speise und Trank.
Am nächsten Tage gieng er viel weiter mit ihnen und kam endlich zu einer grasreichen Wiese in einem grünen Thal, wie er ihresgleichen noch nie gesehen hatte.
Aber als er das Vieh wieder heimtreiben wollte, da kam ein ungeheurer Riese mit gezogenem Schwerte auf ihn zu.
»Hiu! Hau! Hogaraich!!!« rief er aus. »Schon lange sehnen sich meine verrosteten Zähne nach Menschenfleisch. Das Vieh ist mein, denn ich hab‘ es auf meinem Grund und Boden getroffen, und du wirst bald ein todter Mann sein.«
»Das kann man noch nicht wissen,« sagte der Hirte, »es ist leichter gesagt, als gethan.«
Sie giengen aufeinander los. Der Hirte zog sein haarscharfes Schwert, und während des Kampfes sprang der schwarze Hund dem Riesen auf den Rücken. Der Hirte tödtete den Riesen; dann sprang er auf das schwarze Pferd und begann, das Haus des Riesen zu suchen. Er fand es bald; der Riese hatte in der Eile Thür und Thor offen gelassen. Der Hirte trat ein und fand Geld und Kostbarkeiten und gold- und silberbesetzte Kleider in Hülle und Fülle.
Zu Beginn der Nacht gieng er wieder in das königliche Schloss zurück, aber er nahm nichts aus dem Hause des Riesen mit. Und als am Abend die Kühe gemolken wurden, da gaben sie viel Milch. An dem Abend bekam er reichlich zu essen und zu trinken, und der König war ungeheuer froh, einen so guten Hirten bekommen zu haben.
So gieng der Hirte täglich in das grüne Thal, aber endlich war die Wiese abgegrast. Da beschloss er, ein wenig tiefer in das Land des Riesen einzudringen. Dort fand er einen ungeheueren Park und reichliches Gras. Er holte also das Vieh und brachte es in den Park.
Kaum waren sie drinnen, so kam ein ungeheurer Riese wüthend herangestürmt.
»Hiu! Hau! Hogaraich!!!« rief er. »Heute nachts werd‘ ich meinen Durst mit deinem Blute löschen!«
»Das kann man noch nicht wissen,« sagte der Hirte, »es ist leichter gesagt, als gethan.«
Die beiden giengen aufeinander los. Hei, wie da die Schwerter blitzten! Es schien, als sollte der Riese den Sieg über den Hirten davontragen. Aber da rief dieser seinen Hund, und der sprang dem Riesen an den Hals. Rasch hieb ihm der Hirte den Kopf ab.
An dem Abend kam er sehr müde nach Hause. Wieder hatten die Kühe viel Milch, und die ganze königliche Familie war froh, dass sie so einen Hirten hatte.
Er ließ das Vieh eine Zeitlang in dem Parke weiden. Aber als er eines Abends heimkam, da wurde er nicht wie sonst von der Kuhmagd freundlich begrüßt, sondern alles weinte und jammerte.
Er fragte nach der Ursache des Kummers. Da erzählte ihm die Kuhmagd, dass sich in dem See ein großes Ungeheuer mit drei Köpfen befinde, das erhalte jedes Jahr eine Jungfrau als Tribut, und diesmal sei das Los auf die Königstochter gefallen, die am folgenden Tage um die Mittagszeit von dem Ungethüm erwartet wurde. Doch sei ihr Freier entschlossen, sie zu retten.
»Welcher Freier?« fragte der Hirte.
»Ein tapferer Ritter,« sagte die Kuhmagd. »Wenn es ihm gelingt, das Ungeheuer zu tödten, dann wird er die Königstochter heiraten, denn der König hat sie demjenigen, der sie rettet, zur Frau versprochen.«
Am folgenden Tage um die bestimmte Zeit gieng die Königstochter mit dem Ritter zu dem schwarzen Ungethüm. Kaum waren sie dort angelangt, so tauchte es in der Mitte des Sees empor; aber als der Ritter das furchtbare dreiköpfige Unthier erblickte, da überkam ihn die Angst, und er schlich sich davon und verbarg sich. Zitternd vor Furcht stand nun die Königstochter allein da, ohne Aussicht auf Rettung.
Plötzlich erblickte sie einen beherzten schönen Jüngling auf schwarzem Pferde. Er war prächtig gekleidet, vortrefflich bewaffnet und von einem schwarzen Hunde gefolgt. Er ritt auf sie zu und sprach: »Dein holdes Gesicht ist von Trauer erfüllt, oh Jungfrau. Was thust du hier?«
»Ach,« erwiderte die Königstochter, »ich werde nicht lange mehr hier sein.«
»Das ist noch gar nicht ausgemacht.«
»Ein tapferer Ritter,« sagte sie, »ist bereits vor der Gefahr entflohen.«
»Tapfer ist derjenige, der dem Kampfe standhält,« erwiderte der Jüngling.
Er legte sich zu ihren Füßen nieder, um ein wenig zu schlafen und bat sie, ihn zu wecken, sobald das Ungeheuer sich dem Ufer nähere.
»Wie soll ich dich wecken?« fragte sie.
»Indem du den goldenen Ring von deiner Hand an meinen kleinen Finger steckst,« sagte er.
Er war noch nicht lange da, als sie sah, wie das Ungethüm sich dem Ufer zu nähern begann. Da nahm sie einen Ring von ihrem Finger und steckte ihn dem Jüngling an seinen kleinen Finger. Er erwachte und gieng mit dem Schwert in der Hand, von seinem Hunde gefolgt, dem Ungeheuer entgegen. Hoch auf spritzte die Flut, als die beiden im Kampfe aufeinanderstießen. Die Königstochter war starr vor Schrecken bei dem Gebrülle des Ungethüms. Bald waren sie unten, bald wieder oben. Endlich gelang es dem Jüngling, dem Unthier einen Kopf abzuhauen. Da brüllte es: »Raivic!« und der Sohn der Erde, das Echo, gab den Schrei zurück; das Ungeheuer rührte den See von einem Ende bis zum anderen auf und verschwand im Nu.
»Heil dem Sieger!« rief die Tochter des Königs, »für diese Nacht bin ich gerettet; aber das Ungethüm wird wieder und immer wieder kommen, so lange es nicht die anderen zwei Köpfe verliert.«
Er zog eine Weidenruthe durch den Kopf des Ungeheuers und gab ihn ihr, hieß sie aber am folgenden Tage den Kopf wieder mitbringen. Während der Hirte zu seiner Herde gieng, begab sie sich nach Hause. Den Kopf trug sie auf der Schulter. Sie war noch nicht weit gegangen, als der Ritter sie von seinem Versteck aus gewahrte. Der drohte ihr mit dem Tode, wenn sie nicht sagen wolle, dass er es gewesen, der dem Unthier den Kopf abgehauen habe.
»Jawohl,« sagte sie, »wer hat es denn sonst gethan!«
Sie erreichten das königliche Schloss, und der Ritter trug den Kopf des Ungethüms auf seiner Schulter. Großer Jubel herrschte, dass die Königstochter gesund und heil heimgekehrt war. Alle bewunderten den Ritter, dessen Hände von dem Blute des Ungeheuers roth gefärbt waren. Am folgenden Morgen giengen die beiden wieder an den See, aber niemand zweifelte daran, dass der Ritter die Königstochter befreien würde.

Wieder kamen sie an denselben Ort; es dauerte nicht lange, so regte sich das furchtbare Unthier in der Mitte des Sees, und der Held schlich sich hinweg wie am Tage zuvor. Aber gleich darauf kam der Jüngling auf dem schwarzen Pferde, nur in einem anderen Gewand. Sie erkannte ihn trotzdem und sprach: »Wie freue ich mich, dich wiederzusehen! Ich hoffe, du wirst dich heute mit gleicher Tapferkeit wie gestern deines großen Schwertes bedienen. Komm‘ her und raste ein wenig.«
Er setzte sich neben die Königstochter und sprach: »Wenn ich einschlafe, bevor das Unthier kommt, so wecke mich.«
»Wie soll ich dich wecken?« fragte sie ihn.
»Indem du den Ring aus deinem Ohre in das meine steckst,« sagte er.
Er war kaum eingeschlafen, da rief die Königstochter: »Wach‘ auf! wach‘ auf!«
Aber er wachte nicht auf. Da nahm sie den Ring aus ihrem Ohr und that ihn in das Ohr des Jünglings. Sofort wachte er auf und gieng dem Ungethüm entgegen.
Wie hieben sie da auf einander ein! Wie schäumte und raste und brüllte das Thier!
So kämpften sie lange Zeit, aber bei Einbruch der Nacht hieb er dem Ungeheuer den zweiten Kopf ab. Die Königstochter gieng mit beiden Köpfen heim, da kam wieder der Ritter, und er befahl ihr wieder, zu sagen, dass er es gewesen sei, der dem Unthier auch den zweiten Kopf abgehauen habe.
»Jawohl,« sagte sie, »wer hat es denn sonst gethan!«
Sie erreichten das königliche Schloss. Da herrschte Jubel und Freude. War der König das erstemal hoffnungsvoll gewesen, so war er jetzt davon überzeugt, dass dieser große Held seine Tochter erretten würde, und niemand zweifelte daran, dass am folgenden Morgen auch der dritte Kopf des Ungeheuers fallen würde.
Am folgenden Tage entfernten sich die beiden wieder, und der Ritter verbarg sich wie früher. Die Königstochter begab sich an das Ufer des Sees. Der Jüngling auf dem schwarzen Rosse erschien und setzte sich an ihre Seite. Wieder weckte sie ihn, indem sie den anderen Ohrring an sein Ohr steckte, und wieder gieng er dem Ungeheuer entgegen.
Das Ungeheuer brüllte und raste noch fürchterlicher, als die Tage vorher. Aber es half ihm nichts, nach heftigem Kampfe hieb der Jüngling ihm auch den dritten Kopf ab. Dann zog er eine Weidenruthe hindurch, und die Königstochter trug die Köpfe nach Hause. Als sie das Königsschloss erreichten, da schwelgten alle in Wonne, und am folgenden Tage sollte der Ritter die Königstochter heiraten.
Aber als der Priester kam, da sagte sie, dass sie nur denjenigen heiraten würde, der die Köpfe des Ungethüms von der Weidenruthe lösen könne, ohne sie zu zerschneiden.
»Wer anders sollte die Köpfe lösen, als derjenige, der sie auf die Weidenruthe gethan?« sagte der König.
Der Ritter versuchte vergebens, die Köpfe abzunehmen; nach ihm versuchten es alle anderen im königlichen Schlosse, aber niemanden gelang es. Da fragte der König, ob sich noch jemand im Schlosse befinde, der den Versuch nicht gemacht hätte. Da antwortete man ihm, dass der Hirte es noch nicht versucht hätte. Man ließ ihn holen, und es dauerte nicht lange, so hatte er die Köpfe von der Weidenruthe gelöst.
»Warte ein wenig,« sagte die Königstochter zu ihm; »der Mann, der dem Ungeheuer die Köpfe abgeschlagen hat, ist auch im Besitze meines Ringes und meiner Ohrringe.«
Da steckte der Hirte die Hand in die Tasche und warf die drei Ringe auf den Tisch.
»Du bekommst mich zur Frau,« sagte die Königstochter.
Der König war nicht sehr erfreut, als er sah, dass der zukünftige Mann seiner Tochter ein Hirte war; doch befahl er, dass man ihn besser kleide.
Da sagte die Tochter, dass er ein so prächtiges Gewand besitze, wie es schöner im Königsschlosse nicht zu finden sei, und der Hirte zog das goldbesetzte Gewand des Riesen an, und noch an demselben Abend wurden sie getraut.
Sie waren nun Mann und Frau und lebten sehr glücklich miteinander. Da giengen sie eines Tages am Ufer des Sees spazieren, als plötzlich ein furchtbares Ungethüm herbeikam, das weit schrecklicher war, als das erste, und den Mann der Königstochter, ohne viel zu fragen, in den See hineinzog. Die Königstochter war tief unglücklich, sie verwandte kein Auge von dem See. Sie traf einen alten Schmied und erzählte ihm, was ihrem Gatten widerfahren sei. Der rieth ihr, das Schönste was sie besaß, auf demselben Platze auszubreiten, an welchem ihr Gatte ihr geraubt worden war. Sie that, was er ihr gerathen hatte. Da tauchte das Scheusal empor und sagte: »Deine Juwelen sind schön, o Königstochter.«
»Viel schöner,« erwiderte sie, »ist das Juwel, das du mir genommen hast, lass mich meinen Mann sehen, und du kannst dir von dem Schmucke wählen, was du willst.«
Das Ungeheuer brachte ihn herbei.
»Gib mir ihn wieder, und du sollst den ganzen Schmuck bekommen, den du hier siehst,« sagte die Königstochter.
Das Unthier erfüllte ihr Begehren und warf ihr den Gatten lebendig und unversehrt an das Ufer.
Wieder giengen sie nach einiger Zeit am Ufer des Sees spazieren, da kam dasselbe Ungethüm und raubte die Königstochter. Ihr Mann war trostlos und wanderte Tag und Nacht am Ufer hin und her. Da traf er den alten Schmied, und der sagte ihm, es gebe nur einen einzigen Weg, das Ungeheuer zu tödten, und das sei folgender: »Auf der Insel in der Mitte des Sees befindet sich die weißfüßige Hirschkuh Eillid Chaisfhion, die hat die schlanksten Beine und den schnellsten Lauf. Und wenn sie gefangen wird, so springt eine Nebelkrähe aus ihr hervor, und wenn die Nebelkrähe gefangen wird, so springt eine Forelle aus ihr empor, aber die Forelle hat ein Ei in ihrem Munde, und in dem Ei ist die Seele des Unthiers, und wenn das Ei zerbricht, dann ist das Ungeheuer todt.«
Es war aber unmöglich, auf die Insel zu gelangen, denn das Ungeheuer zog jedes Boot in die Tiefe, das sich auf den See wagte. Da wollte er versuchen, mit dem schwarzen Rosse hinüberzuspringen. Das gelang ihm, das schwarze Ross wagte den Sprung, und der schwarze Hund folgte nach. Er sah die Hirschkuh Eillid Chaisfhion und ließ sie von dem schwarzen Hunde verfolgen, aber wenn dieser auf der einen Seite der Insel war, so war sie schon auf der anderen.
»Ach!« rief der junge Mann aus, »wäre doch jetzt der große Hund da, den ich damals bei dem todten Schaf getroffen habe!«
Kaum hatte er das Wort ausgesprochen, so befand sich der dankbare Hund an seiner Seite, und es dauerte nicht lange, da hatte er die Hirschkuh mit Hilfe des schwarzen Hundes erreicht. Aber kaum war sie gefangen, als eine Nebelkrähe aus ihr hervorsprang.
»Ach, wie gut wäre es, wenn ich den grauen Falken mit dem scharfen Auge und schnellen Fluge jetzt hier hätte!«
Kaum hatte er das gesagt, so war der Falke hinter der Nebelkrähe her, und es dauerte nicht lange, so hatte er sie erreicht. Aber kaum fiel sie am Ufer des Sees nieder, so sprang die Forelle aus ihr hervor.
»Ach, wärst du jetzt bei mir, o Fischotter!«
Kaum hatte er die Worte gesprochen, so war die Fischotter an seiner Seite. Sofort sprang sie in den See und brachte die Forelle herbei. Da kam aus ihrem Munde das Ei heraus.
Er sprang hinzu und setzte den Fuß auf das Ei, da brüllte das Ungeheuer: »Zerbrich das Ei nicht, und ich gebe dir, was du verlangst!«
»Gib mir meine Frau zurück!«
In einem Augenblick war sie an seiner Seite. Als er ihre Hand in seine beiden Hände nahm, da zerdrückte er das Ei mit seinem Fuße, und das Unthier war todt.
Es war ein scheußlicher Anblick.
Sie ließen das Scheusal liegen und giengen nach Hause, und im Schlosse des Königs herrschte eitel Freude. Jetzt erst erzählte der Jüngling dem Könige, wie er die beiden Ungethüme getödtet hatte. Und der König erwies ihm große Ehren, und er machte ihn zu einem Großen des Reiches. Eines Tages gieng er mit seiner Frau spazieren, da bemerkte er in einem Walde am See ein kleines Schloss, und er fragte seine Frau, wer dort wohne.
Sie antwortete ihm, dass niemand sich in die Nähe des Schlosses wage, denn noch keiner, der hineingegangen, sei wiedergekommen.
»Noch heute abends,« sagte er, »will ich mich davon überzeugen, wer dort wohnt.«
»Geh‘ nicht, geh‘ nicht,« bat sie, »es ist noch nie jemand von dort zurückgekehrt.«
»Dem sei, wie ihm wolle,« sagte er, »ich muss hinein.«
Und er gieng. Als er das Thor erreichte, trat ihm ein glattzüngiges, altes Weib entgegen.
»Heil und Segen, Fischerssohn,« sagte sie; »ich freue mich, dich zu sehen. Eine große Ehre ist diesem Königreiche widerfahren, als du es betratst. Dein Kommen wird dieser armen Hütte zum Ruhme gereichen. Geh‘ du voran, Ehre wem Ehre gebürt.«
Er gieng hinein. Da schlug sie ihn mit der Zauberkeule Slachdan druidhach auf das Haupt. Sofort fiel er zu Boden. In dieser Nacht herrschte Jammer im Königsschlosse und am folgenden Morgen im Hause des Fischers. Denn einer von den Bäumen verdorrte, und da sagte der mittlere Sohn, dass sein Bruder todt sei, und er that einen Schwur, dass er nicht rasten würde, bis er seinen Leichnam gefunden. Er sattelte sein schwarzes Pferd und rief seinem schwarzen Hunde; denn jeder der drei Söhne des Fischers besaß ein schwarzes Pferd und einen schwarzen Hund, und er folgte den Spuren seines Bruders, bis er das Königsschloss erreichte.
Er sah seinem älteren Bruder so ähnlich, dass die Königstochter ihn für ihren Gatten hielt. Sie erzählten ihm, was seinem Bruder widerfahren sei, und da beschloss er, in das Schloss des alten Weibes zu gehen, was immer ihm auch geschehe. So gieng er denn in das Schloss, aber wie es dem älteren Bruder ergangen war, so ergieng es auch ihm: nach einem Schlage der Zauberkeule sank er neben seinem Bruder nieder.
Als der jüngste Sohn des Fischers den zweiten Baum verdorren sah, da sagte er, dass nun seine beiden Brüder todt seien, und dass er erfahren müsse, wie sie ihren Tod gefunden hätten. Wie seine Brüder, so ritt auch er auf seinem schwarzen Pferde aus, gefolgt von dem schwarzen Hunde, und er ritt ohne Rast, bis er in das Schloss des Königs kam. Der König freute sich sehr, ihn zu sehen, aber sie wollten ihn nicht fortlassen in das schwarze Schloss, wo seine Brüder den Tod gefunden hatten.
Er aber bestand darauf und gieng.
»Heil und Segen, o Fischerssohn! Ich freue mich, dich zu sehen. Tritt ein und raste ein wenig,« sagte das alte Weib.
»Nach dir,« erwiderte der Fischerssohn, »ich kann Schmeichelreden vor der Thür nicht leiden, drinnen will ich hören, was du zu sagen hast.«
Sie gieng hinein, und als sie ihm den Rücken zukehrte, zog er sein Schwert und hieb ihr den Kopf ab. Aber das Schwert entglitt seiner Hand. Da griff die Alte schnell mit beiden Händen nach ihrem Kopfe und setzte sich ihn wieder auf. Der Hund sprang auf sie los, aber sie schlug das treue Thier mit ihrer Zauberkeule, so dass es zu Boden fiel.
Aber der Jüngling war nicht faul. Er begann mit der Alten zu ringen, erfasste das Slachdan druidhach, und mit einem Schlage auf den Kopf warf er sie augenblicklich nieder.
Dann gieng er weiter, und da sah er seine Brüder nebeneinander auf dem Boden liegen. Da berührte er sie mit dem Slachdan druidhach, und sie sprangen auf und waren unversehrt. Sie fanden reiche Beute, Gold und Silber und Kostbarkeiten in dem schwarzen Schlosse. Als sie in das königliche Schloss zurückkehrten, wurden sie mit lautem Jubel empfangen.
Der König war alt, und so ließ er den ältesten Sohn des Fischers zum König krönen. Seine beiden Brüder blieben ein Jahr und einen Tag in dem Schlosse, dann kehrten sie nach Hause zurück. Sie nahmen die Schätze aus dem schwarzen Schlosse und viele kostbare Geschenke des Königs mit, und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

[Anna Kellner: Englische Märchen]

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