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Assipattle

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Das Gut Leegarth gehörte einem reichen Bauer aus Udale. Sein Gehöft lag in einem Thale, das von einem Bächlein durchzogen wurde, und war durch die umliegenden Berge gut geschützt. Er hatte eine sparsame, fleißige Frau und acht Kinder: sieben Söhne und eine Tochter. Der jüngste Sohn hieß Assipattle. Auf den schauten seine Brüder voll Verachtung herab, denn er arbeitete wenig oder gar nichts. Den ganzen Tag trieb er sich in zerlumpten Kleidern herum, aus seinem wirren, ungekämmten Haar flog bei dem leisesten Winde eine Aschenwolke auf. Nachtsüber aber lag er in der Asche.
Assipattle musste den Boden fegen, Torf bringen und sonst allerlei niedrige Arbeiten verrichten, für welche seine älteren Brüder sich zu gut dünkten. Diese pufften ihn und stießen mit dem Fuße nach ihm; die Frauen lachten ihn aus, kurz, er führte ein wahres Hundeleben. Fast alle Leute sagten, dass er es nicht besser verdiene. Seine Schwester aber war gut gegen ihn. Sie lauschte seinen langen Geschichten über Trollen und Riesen und ermuthigte ihn, mehr davon zu erzählen; seine Brüder dagegen bewarfen ihn mit Erdklößen und befahlen ihm, mit seinen lügnerischen Geschichten aufzuhören. Über diese waren sie umso wüthender, als Assipattle stets selbst der Held seiner Erzählungen war und immer siegreich aus den Abenteuern hervorgieng.
Eines Tages kamen Boten des Königs nach Leegarth und richteten dem Hausvater aus, dass er seine Tochter in das königliche Schloss senden möge, denn sie sei zur Magd der Prinzessin, der einzigen Tochter des Königs, bestimmt. Das Mädchen zog ihr bestes Kleid an, und ihr Vater machte ihr mit eigenen Händen ein Paar Sandalen. Sie war sehr stolz darauf, denn bis nun war sie immer barfuß gegangen. Dann setzte man sie auf ein Pony und schickte sie zu der Prinzessin.
Da kam böse Kunde ins Land. Es hieß, dass der Stoorworm, die große Seeschlange, nahe. Bei dieser Nachricht schlugen die muthigsten Herzen schneller. Und er kam wirklich. Er kehrte seinen furchtbaren Rachen landeinwärts und gähnte, und wenn dann seine Kinnbacken sich wieder schlossen, so erbebte das Land und die See. Durch das Gähnen gab er zu verstehen, dass er das Land verwüsten würde, wenn man ihn nicht gehörig fütterte. Sein giftiger Athem tödtete jedes lebende Wesen, vernichtete alles, was die Erde hervorbrachte. Furcht erfüllte die Herzen der Menschen, und das Land hallte wieder von ihren Wehklagen.
Nun lebte im Lande ein mächtiger Zauberer, dem waren alle Dinge kund. Aber der König konnte ihn nicht leiden, denn er hielt ihn für einen Heuchler. Drei Tage lang berieth sich nun der König mit dem Reichsrathe, aber sie fanden kein Mittel, wie sie dem Stoorworm entrinnen oder ihn aus dem Lande verjagen könnten. Als die Räthe keine Hilfe wussten, da kam die Königin in die Versammlung. Sie war eine sehr strenge, muthige Frau, groß und stark, kurz, ein Mannweib, und sie sprach zu den versammelten Räthen: »Ihr seid sehr tapfer und kriegerisch, wenn ihr Männern gegenübersteht. Aber nun habt ihr es mit einem Feinde zu thun, der eurer Stärke spottet, gegen den eure Waffen so wenig vermögen, als wären sie Stroh. Nicht durch Schwert und Speer, einzig und allein durch Zauberkraft kann dieses Ungeheuer überwältigt werden. Berathet euch mit dem mächtigen Zauberer, dem alle Dinge kund sind: Weisheit siegt, wo Kraft unterliegt.«
Der Rath der Königin wurde einstimmig angenommen. Man rief den Zauberer und legte ihm die Sache vor. Der Zauberer war alt und grau und sah aus wie ein Popanz. Er sagte, dass die Frage keine geringfügige und schwer zu beantworten sei; doch wolle er am folgenden Tage bei Sonnenaufgang seine Meinung verkünden. Am nächsten Morgen theilte er dem Reichsrathe mit, dass es nur ein Mittel gebe, den Stoorworm zu befriedigen und so das Land zu retten, und zwar müsse man ihm jede Woche einmal sieben Jungfrauen opfern. Wenn das Ungeheuer nicht nach einiger Zeit das Land verlasse, dann gebe es nur noch einen einzigen Ausweg, der sei aber so greulich, dass er ihn erst mittheilen wolle, wenn der erste Plan misslungen sei. So sprach der Zauberer. Sein Rath wurde angenommen und zum Beschlusse erhoben.
Und jeden Sonnabend wurden sieben Jungfrauen gebunden auf einen Felsen dem Ungeheuer hingelegt, und es öffnete seinen scheußlichen Rachen und verschlang die schönen jungen Mädchen; es war ein furchtbarer, herzzerreißender Anblick.
Einmal giengen die Leute von Leegarth und der Umgebung auf den Gipfel eines Berges; von dort aus konnten sie sehen, wie das Ungethüm seine Mahlzeit hielt. Frauen weinten und schrien laut auf, starke Männer stöhnten, und ihre Gesichter wurden aschenfahl. Während alle in Wehklagen ausbrachen und jammerten, ob es denn keinen anderen Ausweg gebe, das Land zu retten, stand Assipattle plötzlich auf. Er betrachtete den Stoorworm mit weitgeöffneten Augen und sagte: »Ich fürchte mich nicht, gern möcht‘ ich das Ungeheuer bekämpfen.«
Da versetzte ihm sein ältester Bruder einen Fußstoß und hieß ihn sich in sein Aschenloch trollen.
Aber auf dem Heimwege behauptete Assipattle von neuem, dass er das Ungeheuer tödten wolle. Das prahlerische Reden empörte seine Brüder so sehr, dass sie mit Steinen nach ihm warfen, bis er entfloh.
Am Abend schickte ihn seine Mutter zur Scheune, damit er seine Brüder zum Abendessen rufe. Diese waren gerade damit beschäftigt, Stroh für das Vieh zu dreschen. Als sie Assipattle erblickten, warfen sie ihn zu Boden und häuften das Stroh über ihm auf, so dass er fast erstickt wäre. Glücklicherweise kam sein Vater herbei und befreite ihn.
Beim Abendessen schalt der Vater seine Söhne wegen ihrer Roheit. Da sagte Assipattle: »Du hättest mir nicht zu Hilfe kommen müssen, Vater, ich wäre mit allen fertig geworden, wenn ich gewollt hätte.«
Da lachten seine Brüder und fragten ihn: »Warum hast du es denn nicht versucht?«
»Weil ich mit meinen Kräften haushalten muss,« erwiderte Assipattle, »bis ich gegen den Stoorworm ausziehe.«
Da brachen sie alle in ein lautes Gelächter aus, und der Vater sagte: »Wenn ich aus den Hörnern des Mondes Kämme machen werde, dann wirst du gegen den Stoorworm kämpfen!«
Mittlerweile wurden die Klagen über den Verlust so vieler Jungfrauen immer lauter und drohender; wenn das so fortgienge, jammerte das Land, würde bald keine einzige Jungfrau mehr übrig bleiben. So traten die Räthe denn wieder zusammen und ließen den Zauberer kommen; den fragten sie nach dem zweiten Mittel.
Der hässliche Zauberer, dessen Bart bis zu den Knieen reichte, und dessen Haar ihn wie ein Mantel umschloss, erhob sich und sagte: »Mit bitterem Schmerze muss ich gestehen, dass es nur einen einzigen Ausweg gibt. Ach, wär‘ ich nie geboren, oder hätt‘ ich den Tag nicht erlebt, an dem ich das Schreckliche verkünden muss! Nicht eher wird der Stoorworm das Land verlassen, als bis die Tochter des Königs, die Prinzessin Gemdelovely, ihm geopfert worden ist.«
Große Stille herrschte in der Versammlung. Endlich erhob sich der König. Groß, grimmig und gramvoll stand er da. Er sprach: »Sie ist mein einziges Kind, das theuerste auf Erden. Sie sollte meine Nachfolgerin auf dem Throne sein. Aber wenn ihr Tod das Land zu retten vermag, dann führt sie zum Tode. Es ziemt sich wohl, dass sie als die letzte des alten Geschlechts für ihr Land sterbe.«
Darauf fragte der Älteste, ob das der Beschluss des Reichsrathes sei.
Keiner sprach, aber alle streckten zum Zeichen ihrer Zustimmung die Hände empor. Sie thaten es mit schwerem Herzen, denn alle liebten die Prinzessin Gemdelovely.
Als der Älteste sich mit kummervoller Miene erhob, da sagte der Kämpe des Königs: »Ich beantrage einen Nachsatz zu diesem Beschlusse, und der sei: Verlässt das Ungeheuer, nachdem es die Prinzessin verzehrt hat, auch dann nicht das Land, so soll ihm der Zauberer vorgeworfen werden.«
Dieser Antrag wurde mit lauter Zustimmung aufgenommen.
Bevor der Beschluss Gesetzeskraft erlangte, bat der König um einen Aufschub von drei Wochen, damit er verkünden könne, dass derjenige Ritter, welcher den Stoorworm besiege, seine Tochter zur Frau bekomme.
Die Frist wurde ihm bewilligt und darauf der Beschluss zum Gesetz erhoben.
Dann schickte der König Boten in alle benachbarten Reiche, die thaten kund und zu wissen, dass derjenige, der mit dem Schwerte oder durch List den Stoorworm aus dem Lande vertreibe, Gemdelovely zur Frau erhalte und als Mitgift ihr rechtmäßiges Erbe, das Königreich und das berühmte Schwert Sickersnapper. Mit diesem Schwerte hatte einst Oddie seine Feinde bekämpft und vertrieben. So mancher Fürst und tapfere Ritter hielt diesen dreifachen Lohn – eine Frau, ein Königreich und ein Schwert – für das größte Glück auf Erden. Aber bei dem Gedanken an die bevorstehende Gefahr stand das Herz des Kühnsten stille.
Als Assipattles Vater aus der Versammlung mit der Nachricht nach Leegarth heimkehrte, dass die schöne Gemdelovely dem Ungeheuer geopfert werden müsse, da erhob sich überall großes Wehklagen, denn die Prinzessin wurde von allen geliebt, nur nicht von der Königin, die ihre Stiefmutter war. Was immer Assipattle auch denken mochte, als er von dem Beschlusse des Reichsrathes erfuhr, er verrieth es mit keinem Worte.
Es kamen sechsunddreißig tapfere Ritter ins Land, die wollten den Preis gewinnen. Aber als sie den Stoorworm erblickten, fielen zwölf von ihnen in Ohnmacht und mussten nach Hause getragen werden, zwölf wurden von solchem Entsetzen ergriffen, dass sie spornstreichs in ihre Heimat zurückkehrten, und zwölf verbargen ihre Angst und verblieben im königlichen Schlosse.
An dem Abend vor dem Tag der Entscheidung veranstaltete der König ein großes Bankett. Es war ein trauriges Mahl – wenig wurde gegessen, noch weniger gesprochen. Wohl tranken die Männer reichlich, aber keiner von ihnen war zum Scherzen aufgelegt, denn der Gedanke an den folgenden Tag lastete ihnen schwer auf den Herzen.
Als alle außer dem Könige und seinem Kämpen sich entfernt hatten, da öffnete der König die Truhe, auf der er gesessen hatte. Dort bewahrte er seine Kostbarkeiten auf. Er holte das große Schwert Sickersnapper hervor.
»O, Herr,« fragte der Kämpe, »wozu holst du Sickersnapper hervor? Morgen werden es sechsundneunzig Jahre, dass du das Licht der Welt erblickt hast. Manch wackere That hast du seither vollbracht, aber die Zeit des Kampfes ist für dich vorbei. Laß Sickersnapper liegen, mein König, du bist zu alt, ihn jetzt noch zu schwingen.«
»Schweig‘!« rief der König aus, »oder ich werde meine Kraft an dir versuchen. Glaubst du wirklich, dass ich, der Nachkomme des großen Oddie, ruhig zusehen werde, wie ein Ungeheuer mein einziges Kind verschlingt, ohne dass ich für mein Fleisch und Blut kämpfe? Ich sage dir« – und er kreuzte die Daumen über der Schneide des Schwertes – »ich schwöre es, dass ich und mein gutes Schwert verderben werden, bevor meine Tochter stirbt. Jawohl, mein theurer Sickersnapper! Bevor der Stoorworm das Blut meines Kindes kostet, wirst du dich mit dem Blute des Ungeheuers färben. Du aber, mein treuer Kämpe, eile beim ersten Hahnenschrei an die Küste. Bereite mein Boot vor, rüste Mast und Segel und kehre den Kiel seewärts. Gib acht darauf, bis ich komme. Es ist der letzte Dienst, den du mir erweisen wirst. Gute Nacht, alter Waffengefährte.«
In Leegarth wurden an demselben Abend große Vorbereitungen getroffen, denn alle wollten am folgenden Morgen mit ansehen, wie sich das traurige Geschick der Prinzessin Gemdelovely erfüllte. Nur Assipattle sollte zu Hause bleiben und die Gänse hüten. Aber in der Nacht konnte Assipattle nicht schlafen, seine Gedanken hielten ihn wach. Da hörte er, wie seine Eltern miteinander sprachen.
Die Mutter sagte: »Also morgen werdet ihr alle fortgehen, um den Tod der Prinzessin mit anzusehen.«
Darauf erwiderte der Vater: »Du musst mitkommen, liebe Frau.«
»Ich glaube nicht,« sagte sie, »ich kann unmöglich zu Fuß gehen, und allein reite ich nicht gern.«
»Das brauchst du auch nicht,« sagte er, »ich setze dich hinter mich auf Teetgong, und so reiten wir zusammen, und ich verspreche dir, dass keiner vor uns dort sein soll.«
Teetgong war das schnellste Pferd weit und breit.
»Ach, wird es dir auch recht sein, vor all den Leuten mit so einem alten Weibe dahergeritten zu kommen?«
»Possen!« antwortete ihr Mann, »du weißt recht gut, dass ich keine andere als meine eigene Frau hinter mir aufsitzen lassen möchte.«
»Ich weiß nicht,« sagte die Frau, »aber ich habe mir schon manchmal gedacht, dass du mich nicht mehr gern hast.«
»Wer hat dir das in den Kopf gesetzt?« fragte er. »Was hab‘ ich je gethan oder gesagt, woraus du schließen könntest, dass ich dich nicht lieb habe?«
»Nicht, was du sagst, sondern das, was du nicht sagst, veranlasst mich, an deiner Liebe zu zweifeln. Seit fünf Jahren frag‘ ich dich vergebens, woher es kommt, dass Teetgong der schnellste Renner weit und breit ist, aber ich könnt‘ ebenso gut die Wand hier befragen. Ist das ein Zeichen wahrer Liebe?«
»Es geschah niemals aus Mangel an Liebe, gute Frau, höchstens aus Mangel an Vertrauen. Denn siehst du, liebe Frau, wir Männer glauben nun einmal, dass ihr Frauen eure Zungen nicht hüten könnt; da hielt ich es denn für das Beste, das Geheimnis für mich zu bewahren; mir könnte es schaden, wenn ich es verrathe, dir aber schadet es nichts, wenn du es nicht weißt. Indessen will ich dein Herz nicht länger betrüben und dir das Geheimnis offenbaren. Wenn ich will, dass Teetgong still stehe, so gebe ich ihm einen Schlag auf die linke, wenn ich will, dass er schneller traben soll, zwei auf die rechte Schulter. Will ich aber, dass er galoppiere, so schnell er kann, so blase ich durch die Gurgel einer Gans, die hab‘ ich immer in meiner rechten Rocktasche bereit. Wenn Teetgong mich blasen hört, so rast er wie ein Sturmwind dahin. Nun, da du alles weißt, bist du hoffentlich beruhigt. – Und jetzt ist es Zeit zu schlafen, es ist schon sehr spät.«
Assipattle hatte alles gehört, aber er lag mäuschenstill da, bis er die Alten schnarchen hörte. Dann hielt es ihn nicht länger. Er nahm die Gurgel aus der Rocktasche seines Vaters und schlich wie ein Dieb zum Stall. Dort sattelte er Teetgong und führte ihn hinaus. Aber das Pferd spürte, dass es nicht die Hand seines Herrn war, die ihn hielt, und es sprang und bäumte sich wild auf. Da schlug Assipattle das Pferd auf die rechte Schulter, und es stand still wie eine Mauer. Assipattle schwang sich auf seinen Rücken und klopfte ihm zweimal auf die rechte Schulter, da setzte es sich in Bewegung. Aber in dem Augenblicke wieherte Teetgong laut. Das weckte den Hausvater, der sofort die Stimme seines Pferdes erkannte; er sprang auf und rief seine Söhne; sie stiegen alle zu Pferde, eilten im schnellsten Galopp nach und riefen: »Dieb! Dieb! Haltet den Dieb!«
Da schrie der Alte, der allen voran war, mit aller Macht:

»Br, br, he!
Steh‘, Teetgong, steh‘!«

Als Teetgong dies hörte, blieb er unbeweglich stehen. Aber Assipattle zog die Gurgel heraus und blies, so fest er konnte. Jetzt flog Teetgong dahin wie der Wind, so dass Assipattle kaum athmen konnte.
Tieftraurig über den Verlust Teetgongs kehrte der Alte mit seinen Söhnen heim.
Als der Morgen im Osten zu grauen begann, erreichte Assipattle die Meeresküste. In einem Thale legte er dem Pferde die Zügel lose um den Hals und band es fest. Dann gieng er weiter, bis er zu einem kleinen Häuschen kam. Darin schlief eine alte Frau. Aus dem fast erloschenen Feuer nahm er ein Stück glimmenden Torfs, that es in einen alten Topf und gieng damit zur Küste. Dort sah er das Boot des Königs, das an einem Steine am Strande befestigt war. In dem Boote befand sich der Mann, der darauf achthaben sollte, bis der König käme.
»Schneidend kalt heute,« sagte Assipattle.
»Das weiß ich am besten,« sagte der Mann. »Ich sitze die ganze Nacht da, so dass mir das Mark in den Knochen erstarrt ist.«
»Warum kommst du nicht ein wenig auf den Strand, um dich zu erwärmen?«
»Wenn der Kämpe mich außerhalb des Bootes findet, so schlägt er mich halb todt!«
»Du bist ein kluger Mann. Eine kalte Haut ist dir lieber, als eine heiße. Aber ich muss ein Feuer anmachen, um mir ein paar Muscheln zu braten, denn der Hunger frisst mir sonst ein Loch in den Magen.«
Und mit diesen Worten begann er ein Loch in den Boden zu graben, um darin ein Feuer zu machen. Nach einer Minute rief er: »Beim Himmel! Gold! Gold! So wahr ich meiner Mutter Sohn bin, hier liegt Gold in der Erde!«
Als der Mann im Boot dies hörte, sprang er ans Land und stieß Assipattle unsanft zur Seite. Und während er im Boden scharrte, ergriff Assipattle seinen Topf, löste das Bootseil, sprang ins Boot und ruderte hinaus, ohne sich an das Schreien und Fluchen des anderen zu kehren.
Als die Sonne über die Berge hervorzugucken begann, da hisste Assipattle die Segel und steuerte gerade auf den Kopf des Ungeheuers zu. Dieses lag da, so groß und mächtig wie ein Berg, und seine Augen glühten wie ein Wachtfeuer. Es war ein Anblick, der auch das muthigste Herz erschreckt hätte. Der Stoorworm war so groß, dass er sich über die halbe Welt erstreckte; seine Zunge war viele hundert Meilen lang und fegte, wenn das Unthier zornig war, Bäume, Berge, ja ganze Städte ins Meer. Diese fürchterliche Zunge war gabelförmig, und das Ungeheuer benützte die Zinken wie eine Zange zum Ergreifen der Beute. Mit der Gabel konnte es das größte Schiff und die dicksten Mauern wie Nussschalen zerdrücken.
Aber Assipattle kannte keine Furcht.
Mittlerweile war der König mit seinen Mannen herbeigekommen, und als er das Boot auf dem Meere als das seine erkannte, da gerieth er in großen Zorn.
Als Assipattle bei dem Kopfe des Ungeheuers angelangt war, strich er das Segel und harrte ruhig der Dinge, die da kommen würden. Sobald die Sonne dem Ungethüm in die Augen schien, gähnte es siebenmal, bevor es sein grausiges Frühstück begann, und jedesmal stürzte eine große Wasserflut in den geöffneten Rachen. Nun kam Assipattle ganz nahe an diesen heran, so dass beim zweiten Gähnen das Boot in die Strömung gerieth; auf diese Weise wurde Assipattle sammt seinem Fahrzeug in den Rachen und von dort in die schwarze Kehle des Ungeheuers geschwemmt. Dort gähnte es Assipattle wie ein bodenloser Abgrund entgegen. Ihr glaubt wohl, dass er es dort sehr finster hatte; aber nein, Decke und Wände des Rachens glänzten in einem matten, silbernen Lichte.
Immer weiter, immer tiefer fuhr Assipattle wie auf einem Strome dahin. Der Himmel bewahre uns! Nicht um alles in der Welt möchte ich eine solche Fahrt unternehmen! Er steuerte so, dass sein Boot immer in der Mitte des Stromes blieb; aber je tiefer es hinuntergieng, desto seichter wurde das Wasser, das in die zahlreichen Höhlen zu beiden Seiten des Rachens abfloss. Nun wurde aber dieser so eng, dass die Mastspitze sich in den Gaumen einbohrte, während der Kiel auf dem Boden festsaß. Da sprang Assipattle aus dem Boot, nahm seinen Topf in die Hand und watete immer weiter und weiter, bis er bei der ungeheuren Leber der Seeschlange angelangt war. Da zog er seinen Bohrer hervor, grub ein Loch in die Leber und legte das glimmende Torfstück hinein. In das blies er mit vollen Backen, bis es zu brennen begann. Die Flamme ergriff das Öl der Leber, und in kürzester Zeit gab es ein stattliches Feuer. Wahrhaftig, das Ungeheuer hatte sich jetzt nicht über Kälte zu beklagen.
Assipattle aber eilte, so schnell ihn seine Füße tragen wollten, zum Boote zurück. Als die Seeschlange die Glut in ihrem Innern spürte, begann sie fürchterlich zu speien, und ungeheure Fluten ergossen sich aus ihrem Magen in das Meer. Eine derselben packte das Boot, brach den Mast wie ein dürres Reislein entzwei und warf Mann und Schifflein aufs Land. Der König und sein Volk hatten sich auf einen hohen Berg geflüchtet, wo sie vor den Fluten, die das Unthier ausspie, und den Feuerflammen, die sie begleiteten, in Sicherheit waren.
Es war furchtbar, die Qualen der Seeschlange anzusehen, die immer größer wurden, je mehr sich das Feuer in ihrem Innern ausbreitete. Die Zunge fuhr aus dem Rachen und zuckte hin und her. In ihrer Qual reckte sie dieselbe so weit hervor, dass sie die Mondsichel berührte. Dann fiel sie mit solchem Gewichte auf die Erde zurück, dass das Festland gespalten wurde; die Meeresenge, die auf diese Weise entstand, ist dieselbe, die Dänemark von Schweden und Norwegen trennt. Darauf zog das Ungeheuer die lange Zunge wieder ein und rollte sich zu einem riesigen Klumpen zusammen. In seinem Schmerze hob es den Kopf dreimal bis zu den Wolken empor, und dreimal fiel es mit welterschütternder Gewalt in das Meer zurück. Der Himmel bewahre uns! Das erstemal schlug ihm der Fall eine Anzahl seiner Zähne aus, und aus diesen Zähnen sind die Orkney-Inseln entstanden. Das zweitemal verlor es abermals einige Zähne, das sind die Shetland-Inseln. Das drittemal fielen ihm wieder einige Zähne heraus, und diese bildeten die Faröer-Inseln. Der Klumpen aber, zu dem sich die sterbende Seeschlange zusammengerollt hatte, ist Island.
Die Seeschlange starb, aber noch brennt es unter der Insel fort, und von dem Feuer jenes Brandes kommen die feuerspeienden Berge auf Island her.
Und nun muss ich euch erzählen, wie es Assipattle ergangen ist.
Der König umarmte und küsste und segnete ihn und nannte ihn seinen Sohn; er nahm seinen königlichen Mantel ab und legte ihn Assipattle um. Dann bestieg Assipattle den Teetgong und ritt an Gemdelovelys Seite; glückstrahlend zogen sie alle ins königliche Schloss.
Assipattle und Gemdelovely wurden bald darauf ein Paar, und das Hochzeitsfest dauerte neun Wochen. Dann wurden sie König und Königin und lebten sehr glücklich und in großer Pracht und Herrlichkeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

[Anna Kellner: Englische Märchen]

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