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Im Garten der Seejungfrau

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Es war einmal eine kleine Seejungfrau, die ganz allein in einer kleinen Stillen, dicht mit Schilf und jungen Weiden bewachsenen Bucht wohnte, gar nicht weit vom großen Seedeich entfernt. Einst hatte sie draußen im großen Ozean gespielt, sich mit Delphinen getummelt und mit den plumpen, froschmäuligen Wassermännern geneckt.
Aber in einer lauen Sommernacht war sie ein wenig alleine herumgeschwommen und hatte vor sich hingeträumt.

Da hörte sie eine ganz leise Melodie übers Meer fahren, die Töne kamen immer näher und mit ihnen ein grünes und rotes Licht. Ein riesiges weißer Segel zog heran – das gehörte zu einer knallrot angestrichenen Tjalk. Von daher kamen die lieblichen Töne, die langgezogen und wehmütig übers weite Meer in den Abend klangen…Dazu glitzerten die Sterne, und die kleine Seejungfrau war so angezogen von der schönen Musik, daß sie immer hinter der Tjalk herschwamm. Es war wunderbar, und jedesmal, wenn ein Lied vorbei war – setzte gleich eine neue Weise ein – und jede klang weich und sehnsuchtsvoll, – denn der junge Seemann, der an Deck der Tjalk auf seiner Ziehharmonika spielte, war voller Sehnsucht und Zwiespalt. War er zu Hause hinterm Deich, hatte er Lengen. Segelte er nach fremden Zonen, zu fremden Ländern, so zog es ihn heimwärts. In steter Unruhe durchsegelte er so die Meere und spielte in seiner Freiwache auf der alten Ziehharmonika, die er einmal geerbt hatte und die voll süßer Musik war.

Plötzlich merkte die kleine Seejungfrau, daß viele winzige Sterne am Himmel aufgetaucht waren – ganz tief unten standen sie beieinander in einer Reihe. Da wurde sie ängstlich, denn noch nie hatte sie so etwas gesehen. Auch sah sie die vielen Schiffe, die mit der Tjalk zogen, alle in der Richtung eines Sternes, der einmal aufblinkte, dann wieder verschwunden war, immer abwechselnd; wie von einem Magnet angezogen, steuerten alle Schiffe darauf zu.

Die Musik hörte mit einem schrillen Klagelaut auf. Da tauchte die kleine Seejungfrau vor Angst in die Tiefe. Aber sie kam schnell wieder an die Oberfläche, denn das Wasser hier war ganz flach, und unten war kein weißer Sand, keine Korallen und bunten Muscheln wie draußen am Meer – hier war alles grau und schlammig, und ein großer Bucht schob sich wühlend über den Schlick.

Da wußte sie gar nicht, was sie anfangen sollte, und sie schwamm unruhig hin und her, bis sie schließlich so müde war, daß sie in der kleinen Schilfbucht ihre Zuflucht suchte. Ganz unglücklich und verängstigt kauerte sie zwischen den Schilfsbüscheln. Es war hier so flach, daß nur der Fischschwanz eben unter Wasser war. Sie weinte leise, und ihre Tränen wurden zu Perlen und versanken zwischen den Halmen. Aber dann dachte sie an das schöne Harmonikaspiel und schlief ein. So kam es, daß die kleine Seejungfrau in der Schiffsbucht wohnte. Wohl schwamm sie am Tage und auch in den Nächten weit hinaus, um den Weg zum großen Meer zu finden – aber immer mußte sie zurückkehren, denn sie fand nie den Weg.

Einmal, es war an einem ganz nebligen Frühmorgen, hörte sie ganz in ihrer Nähe ein lautdröhnendes Horn ertönen. Da schoß sie wie ein Pfeil durchs Wasser in die Richtung, woher die Töne kamen – denn sie meinte, es wäre der große Triton, der auf der Muschel blies. Aber es war nur eine alte Galeasse, die den Weg durch den Nebel suchte, und ab und zu blies der kleine rotnasige Bootsjunge in einen Trichter, um anzuzeigen, daß sie da wären und niemand ihnen den Weg kreuzen sollte. –

Allmählich hatte sie sich daran gewöhnt, alleine in der Bucht zu wohnen, denn es gab viel zu sehen.
Immer zogen Schiffe weiter, und ganz in ihrer Nähe dümpelten mitunter Fischerboote. Dann lag sie versteckt und beobachtete die Menschen, die darauf waren: wie sie die Netze auswarfen und die zappelnde Beute einzogen – und immer, wenn sie Menschen sah, hoffte sie auch wieder die Musik zu hören. Aber die Fischer riefen sich nur dann und wann mal ein paar Worte zu – namentlich, wenn sie einen besonders guten Fang getan hatten.

Denn das ist so bei den Menschen: sie wollen sich gegenseitig in Verwunderung setzen. Hat einer einen ganz großen Fisch gefangen, muß er bestaunt werden, und der Glückspilz, der ihn gefangen hat, sieht das, womit er ausgezeichnet wurde, als sein Verdienst an, was er vorher kaum zu fassen vermochte. Aber umgekehrt ist es auch wieder ein großes Verwundern, wenn einer sich verdient gemacht und was Ordentliches zuwege gebracht hat. Dann hat er eben Glück gehabt. Der Große darf keine Schwäche zeigen, selbst wenn diese Schwäche viel kleiner ist als bei dem kleinen Großmaul. Es gibt nichts, was der eine nicht besser machen würde als der andere. Aber vielleicht ist es gut, daß man ihm gar nicht soviel Gelegenheit dazu gibt, denn er macht es sicher nicht besser…

Aber von all diesen Dingen wußte die kleine Seejungfrau gar nichts. Sie wußte wirklich so gut wie nichts von den Menschen, nur, daß sie herrliche Musik machen konnten. Eines Abends – es war genau so lind und so schönes Wetter wie damals, als sie hinter der roten Tjalk hergeschwommen war – hörte sie ganz leise und zart von ferne die lieblichen Töne. Sie war ganz benommen davon und meinte zu träumen. Aber die Sterne flimmerten, und es war alles Wirklichkeit. Die Töne kamen aber nicht vom Wasser her, sondern von dort, wo der große Wall, wie eine ewig erstarrt Woge ragte. Bis dahin war sie noch niemals gekommen, denn sie hatte ja einen Fischschwanz und konnte sich nur mühsam damit auf dem Lande bewegen. Nun aber konnte sie den verlockenden Tönen nicht widerstehen und schob sich ganz sacht aus dem Wasser auf das nachtfeuchte Wiesengras. Immer weiter bewegte sie sich zum großen Wall, und da mußte sie erst einmal richtig Luft schnappen, wie ein kleiner Fisch, der an Land geworfen ist.

Die Klänge der Musik kamen von der anderen Seite des Deiches, und so zappelte sie sich mühsam den Deich hinan. Es ging langsam, und sie fand kaum die Kraft dazu. Aber sie hatte auch nichts weiter im Kopf, als ganz nahe bei dem Harmonikaspieler zu sein und zu lauschen. –
Oh, ihre Kraft reichte nicht aus, sie konnte eben nur einen kleinen Blick über die Deichkante tun, da lösten sich ihre Hände von den Grasbüscheln und sie rollte den Deich wieder hinunter. Zitternd und zerschlagen blieb sie unten liegen.

Die Sonne stand schon hoch und strahlend am Himmel, als sie aus ihrem Traum erwachte. Die Töne der Musik hatten sie ganz weit aufs Meer hinausgetragen; dort hatte sie gespielt wie vor langer, langer Zeit. Nun lag sie steif; sie konnte kein Glied rühren im prallen Sonnenschein, und da wußte sie, daß sie nie wieder schwimmen konnte, – denn wenn die Sonnenstrahlen den Fischschwanz länger als nur einen Augenblick berührten, etwa solange, wie ein tüchtiger Delphinensprung dauert, schwand alles Leben aus ihrem Körper. Sie konnte niemehr schwimmen und sich tummeln in den schäumenden Wogen. Nun aber war sie traurig, wie eine kleine Seejungfrau nur sein kann. Aber das fühlte sie nur – sie konnte auch nicht mehr weinen, und keine Perle rollte ins trockene Gras.

Viele Monde gingen so dahin, und einmal kam eine große Sturmflut, die Wogen sprangen wie große weiße Wölfe heran und warfen die kleine Seejungfrau noch höher an den Deich. – Am Morgen nach der Sturmnacht kam der alte Aalstecher, der den Deich nach Strandgut absuchte, und fand halb unter den abgetriebenen
Seealgen die kleine Seejungfrau. Er machte einen Freudensprung in seinen groben Schlickstiefeln, als er die kleine goldene Krone aufblitzen sah, die alle kleinen Seejungfrauen tragen als Abbild ihrer königlichen Herkunft. Das gibt etwas, sagte der Aalstecher, und packte sie in einen großen Sack, den er mitgebracht hatte. Dann ging er eilig in seine Deichkate und überlegte, was er mit seiner Beute machen sollte. Der Aalstecher hatte nicht viele Freunde, denn er war nur ein armer Mann, und es war nichts bei ihm zu holen. Die Krone war nicht echt; er hatte gleich ein wenig mit seinem Aalmesser herumgekratzt. Vergoldet! sagte er – und überlegte weiter, was er machen sollte.

Nun, in dem Ort, wo der Aalstecher wohnte, gab es nicht so viele Möglichkeiten für einen so absonderlichen Schatz. Es gab nicht mal ein Museum, sonst wäre er gewiß dort als Prunkstück ausgestellt worden. Ein paar Taler wanderten in die Tasche des Aalstechers, und die kleine Seejungfrau kam nun als Gallionsfigur an den Steven eines Schiffes, welches auch seinen Namen dazu bekam: „Die kleine Seejungfrau.“

Und dann geschieht das Wunderbare: alles ging in Erfüllung, wonach sie sich in der kleinen Bucht gesehnt hatte. Das Schiff fuhr, nachdem es wie ein Riesenfisch von der Helling ins Meer geglitten war, aufs große und blaue Meer hinaus. Da spürte sie gar nichts mehr von den harten Hammerschlägen, die wie Stiche durch ihren Körper gegangen waren, als der Zimmermann sie an den Steven des Schiffes schlug. Sie hatte alles gefühlt, trotzdem sie nun so gut aus Holz war und die Menschen sie auch für nichts anderes hielten denn für ein schön geschnitztes, bemaltes Bildwerk mit einer blitzenden, bemalten Krone.

Und noch etwas anderes war in Erfüllung gegangen. Auf dem tiefsten Leid, das damals am Deichrand über sie kam, aus der wehmütigen Melodie, der zu lauschen ihre letzte Kraft gekostet hatte und die ihr Ende wurde – dieses wehmütige Ziehharmonikaspiel hörte sie nun fast täglich und auch manchmal des Nachts, wenn die Sterne schimmerten und der Mond die sanft bewegte See in ein Silbermeer verwandelte.

Denn der junge Seemann hatte auf der „Kleinen Seejungfrau“ angeheuert, weil er sich ganz und gar in das schöne Bildwerk verliebt hatte. Oft lag er weit ausgestreckt im Netz des Bugspriets und sah, wie die Seejungfrau mit leisem, glücklichem Lächeln ihren rosigen Leib im Schäumen der Bugwellen badete, von Delphinen umspielt, immer weiter dem Unbekannten, dem Unendlichen entgegen. Dann kamen ihm sonderbare Gedanken; er sah die endlose Reihe der ertrunkenen Seeleute, die am Grunde alle Meere rastlos wandern zwischen Korallen und zauberhaftem Meergetier, angeführt von ihren Kapitänen und mit tiefliegenden hohlen Augen jeden Schiffsrumpf verfolgend, sehnsuchtsvoll im Banne der Seejungfrau ihr Lied zum Takt eines klirrenden, rostigen Gangspills anstimmend. Er sah die gesunkenen Schiffe, die Wracks, deren Rippen plankenlos, umwachsen von seltsamen Pflanzen und Muscheln, in leise sich wiegende smaragdgrüne Wogen hinauftragen und zu den Palästen und Säulenhallen des Meeres geworden sind…..

Allabendlich von Leuchtfischen festlich erhellt. zum Fest der Seeleute, die aus Bernsteinbechern und Perlmuttschalen den schäumenden, grünleuchtenden Wein der Tiefe trinken…..Schätze der gesunkenen spanischen Karavellen liegen im leise rinnenden Sand, Gold und Silber, und neben einem Häuflein Edelsteine steckt verrostet, mit Algen verziert, der schartige Säbel eines Bukaniers, ein wenig weiter ragt ein bronzener Mörser von Nelsons Flotte –

Jahre sind vergangen – Das Schiff ist alt, mürbe, von Würmern durchbohrt, unansehnlich geworden;
in einem Sturm, der seinen brüchigen Rumpf durch die Wogen peitschte, brachen die Planken, und alle, die auf dem Schiff waren, sanken hinab in die Fluten, wurden Glieder der endlos wandernden Kette.

Der junge Seemann hatte sich in seiner Not an die kleine Seejungfrau geklammert. Im selben Augenblick, da das Schiff sank, konnte sie sich von dem Steven lösen, denn das Steveholz war so mürbe geworden, daß die Schmiedenägel dem gewaltigen Anprall der Wogen nicht hat mehr standhielten. Viele Tage hielt sich der junge Seemann an dem ewig jungen Leib seiner Geliebten; hin und her gepeitscht durchtrieben sie so die Meere – aber seine Kraft wurde immer weniger, und schließlich wurde er nur noch festgehalten von den rostigen Nägeln, die ihr einstmals bittere Wunden in den Fischleib geschlagen hatten. Dicht bei der kleinen schilf – und weidenbewachsenen Bucht wurden sie zusammen an den Strand geworfen,

Der junge Seemann gab seinen Schatz Petrus Pernullje in Verwahrung. Ihn selbst trieb bald wieder das Weh nach weiter Ferne, bis das Meer auch ihn leise wiegend, wie von Mutterhänden behütet, zu den Säulenhallen des Grundes hinabgleiten ließ, wo sein Kapitän im blauen Mantel mit zerzaustem Bart ihm den Bernsteinbecher, den Wein der Tiefe zum Willkommen reichte. –

Die kleine Seejungfrau aber wurde in Ponulls Garten auf einen starken Eichklotz, der einmal ein Gangspill war, aufgestellt – ein verrosteter Anker daneben. Aber auch Petrus Pernullje ist auch längst auf große Fahrt gegangen, und sein treuer Diener, der Chinoman, ist mit einem kleinen Strohkoffer, seinem Vogelbauer, und einem dicken Geldbrief, aus dem Vermächtnis des Kapitäns in seine ferne östliche Heimat gereist. Jetzt gehört das ganze Gewese, Haus und Garten, Markus Klüver, und die Sonne scheint, die Blumen duften, und Markus steht neben der kleinen Seejungfrau und spricht mit seinem Bootsmann, seinem Papagei, der im Kirschbaum hängt. Der Papagei kreischt mit heiserer Stimme: Sett de Fock war stiever, Markus!
und schwingt sich in seinem Ring wie bei hohem Seegang hin und her.

He ist jümmers noch op grote Fahrt, gröhlt Markus zu mir ins Fenster herein, so laut, als ob er noch auf Deck seiner Galeasse stünde. Und ich nickte ihm verstehend zu und denke dabei: Do ook!, und paffe tüchtig mit meiner Pfeife drauflos, damit er das kleine Bild nicht sieht, daß ich gerade in Arbeit habe. Denn jeder nimmt sich ernster, als er ist – auch Markus Klüver, der nun mit seinem langen Messingfernrohr auf die Leiter an seinem Hause steigt.

Markus sieht nach fernen Segeln aus, und unten, zwischen Blumen, lächelt die kleine Seejungfrau, und in ihrem Lächeln liegt das Wissen um die Einsamkeit des Meeres, die unendliche Weite, die in den Himmel hinaufragt, die Beglücktheit des Alleinseins – die Erinnerung an das erstmalige Überkreuzen der ewig sich wandelnden Meeresfläche…….

Coppright:  Wilhelm Petersen „Ut de Ooken“

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