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Libertas und ihre Freier

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Es war einmal ein Schloss in Deutschland mit dicken Pfeilern, Bogentor und Türmchen, von denen Wind und Regen schon manchen Schnörkel abgebissen hatten. Das Schloss lag mitten im Walde und war sehr verrufen in der ganzen Gegend, denn man wusste nicht, wer eigentlich darin wohnte. Jemand konnte es nicht sein, sonst hätte man ihn doch manchmal am Fenster erblicken müssen; und niemand auch nicht, denn in dem Schlosse hörte man bei Tag und Nacht beständig ein entsetzliches Rumoren, Seufzen, Stöhnen und Zischen, als würde drin die Welt von neuem erschaffen; ja des Nachts fuhr bald da, bald dort ein Feuerschein aus einem der langen Schornsteine oder Fenster heraus, als ob gequälte Geister plötzlich ihre lechzenden Zungen ausstreckten. Über dem Schlossportal aber befand sich eine überaus künstliche Uhr, die mit großem Geknarre Stunden, Minuten und Sekunden genau angab, aber aus Versehen rückwärts fortrückte und daher jetzt beinahe schon um fünfzig Jahre zu spät ging; und jede Stunde spielte sie einen sinnigen Verein gebildeter Arien zur Veredlung des Menschengeschlechts, zum Beispiel:
„In diesen heil’gen Hallen
Kennt man die Rache nicht –
Und Ruhe ist vor allen
Die erste Bürgerpflicht“
Die benachbarten Hirten, Jäger und andere gemeinen Leute aber waren das schon gewöhnt und fragten nicht viel darnach, denn sie wussten ohnedem von der Sonne schon besser, was es an der Zeit war, und sangen unbekümmert ihre eigenen Lieder. Wer aber recht genau aufpasste, der konnte wirklich zuweilen zur Nachtzeit oder in der schwülen Mittagsstille den Schlossherrn aus dem großen Uhrportal hervortreten und auf den einsamen Kiesgängen des Ziergartens lustwandeln sehen; einen hagern, etwas schiefbeinigen Herrn mit gebogener Nase und langem Schlafrock, der war von oben bis unten mit allerlei Hieroglyphen und Zaubersprüchen verblümt und punktiert und hatte unten einige Zimbeln am Saume, die aber immer gedämpft waren, um ihn nicht im Nachdenken zu stören. Das war aber niemand anders als der Baron Pinkus, der große Nekromant, und die Sache verhielt sich folgendermaßen:
Vor geraumer Zeit und bevor er noch Baron war, hatte der Staatsbürger Pinkus auf dem Trödelmarkte in Berlin den ganzen Nachlass des seligen Nicolai (der damals gerade altmodisch geworden, weil soeben die Romantik aufgekommen war) für ein Lumpengeld erstanden und machte in Ideen. Er war ein anschlägiger Kopf und setzte die Ware ab, wo sie noch rar war. So war er denn eines Tages an das abgelegene Schloss eines gewissen Reichsgrafen gekommen. Der Graf saß gerade in freudenreichem Schalle an der Mittagstafel mit seinem Stallmeister, Hofmarschall und dem anderen Hofgesind. Da riss es plötzlich so stark an der Hausglocke, dass die Kanarienvögel, Papageien und Pfauen vor Schreck zusammen schrieen und die Puthähne im Hofe zornig zu kollern anfingen. Der Graf rief: „Wer ist da draußen vor dem Tore?“ Der Page rief: „Was wollen Sie, mein Herr?“ – „Menschenwohl, Jesuiten wittern und Toleranzen.“ – Der Page kam: „Dem Menschen ist nicht wohl, er will einen Bitteren oder Pomeranzen.“ – „Das verdenk‘ ich ihm nicht“, entgegnete der Graf, „aber geh und frag‘ noch einmal genauer, wer er sei.“ – Der Page ging: „Ihr Charakter, mein Herr?“ – „Kosmopolit!“ – Der Page kam: „Großhofpolyp.“ – Das Brockhausische Konversationslexikon war damals noch nicht erfunden, um darin nachschlagen zu können, es entstand daher ein allgemeines Schütteln des Kopfes, und der Graf war sehr neugierig, die neue Hofcharge kennen zu lernen. So wurde nun Pinkus eingelassen und trat mit stolzer Männerwürde in den Saal, und nachdem die notwendigen Bewillkommnungskomplimente zu beiderseitiger Zufriedenheit glücklich ausgewechselt waren, begann er sogleich eine wohlstilisierte Rede von der langen Nacht, womit die schlauen Jesuiten das Land überzogen, kam dann auf den großen Nicolai, wie derselbe, da in dem Stichdunkel alle mit den Köpfen aneinander rannten, in edler Verzweiflung seinen unsterblichen Zopf ergriff, ihn an seiner Studierlampe anzündete und mit dieser Fackel das Volk der Tugendusen, die bloß von Moral leben, siegreich bis mitten in die Ultramontanei führte. – Hier nahm der Hofmarschall verzweiflungsvoll eine Prise, und verschiedene Kavaliere gähnten heimlich durch die Nase. Aber Pinkus achtete nicht darauf, sondern fing nun an, den besagten Nicolaischen Zopf ausführlich in seine einzelnen philosophischen Bestandteile zu entwickeln. „Das ist ja nicht auszuhalten!“ rief der Oberstallmeister mit schwacher, kläglicher Stimme, die anderen stießen schon schlummernd mit ihren Frisuren gegeneinander, dass der Puder stob, die Pfauen draußen hatten längst resigniert die Köpfe unter die Flügel gesteckt, im Vorzimmer schnarchte die umgefallene Dienerschaft fürchterlich auf Stühlen und Bänken. Es half alles nichts, der unaufhaltsame Pinkus zog immer neue, lange, vergilbte Papierstreifen aus dem erstandnen Nachlass, rollte sie auf und murmelte fort und immerfort von Aufklärung, Intelligenz und Menschenbeglückung. – „Sapperment!“ schrie endlich der Graf voll Wut und wollte aufspringen, aber er konnte nicht mehr, sondern versank mit dem ganzen Hofstaat in einen unauslöschlichen Zauberschlaf, aus dem sie alle bis heute noch nicht wieder erwacht sind.
„Man muss nur haben Verstand!“ rief da der böse Nekromant und rieb sich vergnügt die Hände, legte sie aber nicht müßig in den Schoß, denn durch die offnen Türen, da niemand mehr da war sie zuzumachen, kam der Wind dahergepfiffen und griff unverschämt nach seinen Papieren; aus der großen Kristallflasche, die der Hofmarschall beim Einschlafen umgeworfen, war ihm das Wasser in die Schnallenschuhe gestürzt, und die Kerze, woran sie ihre Pfeifen anzuzünden pflegten, flackerte unordentlich und wollte durchaus die seidene Gardine anstecken. Pinkus aber hatte sie alle schon lange auf dem Korn und eine gründliche Verachtung vor der Luft, dem landstreicherischen Windbeutel, sowie vor dem Wasser, das keine Balken hat und immer nur von Stein zu Stein springen, glitzern, schlängeln und die unnützen Vergissmeinnichts küssen möchte, und vor dem Feuer, das nichts tut, als vertun und verzehren. Er trat daher entrüstet in den Garten hinaus, zivilisierte ohne Verzug jene ungeschlachten Elemente durch seine weitschweifigen Zaubersprüche, die keine Kreatur lange aushält, und stellte sie dann in dem verstorbenen Schlosse an. In demselben Schlosse aber legte er sofort eine Gedankendampffabrik an, die ihre Artikel zu Benlowskys Zeiten bis nach Kamtschatka absetzte und eben den außerordentlichen Lärm machte, den sich die dummen Leute in der Umgegend nicht zu deuten wussten. So war also der Staatsbürger Pinkus ein überaus reicher Mann und Baron geworden und befand, dass alles gut war.
Seitdem waren viele Jahre vergangen, da gewahrte man in einer schönen Nacht dort in der Gegend ein seltsames Zittern und Blinkern in der Luft, als würde am Himmel ganz was Absonderliches vorbereitet. Die Vögel erwachten darüber und reckten und dehnten noch verschlafen ihre Flügel, da sahen sie droben auch den Adler schon wach und fragten erstaunt:
„Was gibt’s, dass vom Horste
An der zackigen Kluft
Der Adler schon steigt
Und hängt überm Forste
In der stillen Luft,
Wenn alles noch schweigt?“
Der Adler aber vernahm es und rief hinab:
„Ich hörte in Träumen
Ein Rauschen gehn,
Sah die Gipfel sich säumen
Von allen Höhn –
Ist’s ein Brand, ist’s die Sonne,
Ich weiß es nicht,
Aber ein Schauer voll Wonne
Durch die Wälder bricht.“
Jetzt schüttelten die Vögel geschwind den Tau von den bunten Wämsen und hüpften und kletterten nun selber in ihrem grünen Hause bis in die allerhöchsten Wipfel hinaus, da konnten sie weit ins Land hinaussehen, und sangen:
„Sind das Blitze, sind das Sterne?
Nein, der Aar hat recht gesehn,
Denn schon leuchtet’s aus der Ferne,
Dass die Augen übergehn.
Und in diesen Morgenblitzen
Eine hohe Frau zu Ross,
Als wär‘ mit den Felsenspitzen
Das Gebirge dort ihr Schloss.
Geht ein Klingen in den Lüften,
Aus der Tiefe rauscht der Fluss,
Quellen kommen aus den Schlüften,
Bringen ihr der Höhen Gruß.
Und die grauen Schatten sinken,
Wie sie durch die Dämmrung bricht,
Und die Kreaturen trinken
Dürstend alle wieder Licht.
Ja, sie ist’s, die wir da schauen,
Unsre Königin im Tal!
O Libertas! schöne Fraue,
Grüß‘ dich Gott vieltausendmal!“
„Habt Dank, meine lustigen Kameraden!“ rief da eine wunderliebliche Stimme, die wie ein Glöcklein durch die Einsamkeit klang, und die Lerche stieg sogleich kerzengerade in die Höh‘ und jubilierte: „Die Libertas ist da, die Libertas ist da!“ – es wollt’s niemand glauben. Sie war’s aber wirklich, die soeben zwischen dem Gesträuche auf den Schlossberg heraustrat. Sie ließ ihr Rösslein frei neben sich weiden und schüttelte die langen, wallenden Locken aus der Stirn; die Bäume und Sträucher hatten sie ganz mit funkelndem Tau bedeckt, dass sie fast wie eine Kriegsgöttin in goldner Rüstung anzusehen war. Hinter ihr aber, wo sie geritten, zog sich’s wie eine leuchtende Furt durchs Land, denn sie war über Nacht gekommen, der Mond hatte prächtig geschienen und die Wälder seltsam dazu gerauscht, in den Tälern aber schlief noch alles, nur die Hunde bellten erschrocken in den fernen Dörfern, und die Glocken auf den Türmen schlugen von selbst an, wo sie vorüber zog.
„Ich wollte doch auch wieder einmal meine Heimat besuchen“, sagte sie jetzt, „die schönen Wälder, wo ich aufgewachsen. Da ist viel abgeholzt seitdem, das wächst sobald nicht wieder nach auf den kahlen Bergen.“ Nun erblickte sie erst das geheimnisvolle Schloss und den Ziergarten. „Aber wo bin ich denn hier hingeraten?“ fragte sie erstaunt. Es schwieg alles; was wussten die Vögel von dem Baron Pinkus! Es war ihr alles so fremd, sie konnte sich gar nicht zurechtfinden. „Das ist die Burg nicht mehr, wo sonst meine liebsten Gesellen gewohnt. Mein Gott! wo sind die alten Linden hin, unter denen wir damals so oft zusammengesessen?“ – Darüber wurde sie auf einmal ganz ernsthaft, trat an den Abhang und sprach laut in die Tiefe hinaus:
„Die gebunden da lauern,
Sprengt Riegel und Gruft,
Du ahnend Schauern
Der Felsenkluft,
Unsichtbar Ringen
In der stillen Luft,
Du träumend Singen
Im Morgenduft!
Brecht auf! schon ruft
Der webende blaue
Frühling durchs Tal.“
Und die Vögel jubelten wieder:
„O Libertas, schöne Fraue,
Grüß dich Gott vieltausendmal!“
Da ging erst ein seltsames Knistern und Flüstern durch die Buchsbäume und Spaliere, fast grauenhaft, wie wenn sie heimlich miteinander reden wollten in der großen Einsamkeit, drauf kam von den Waldbergen auf einmal ein Rauschen immerfort wachsend über den ganzen Garten, es war, als stiege über die Hecken und Gitter von allen Seiten verwildernd der Wald herein, die Fontäne fing wie eine Fee mit kristallenen Gewändern zu tanzen an, und Krokus, Tulipanen, Königskerzen und Kaiserkronen kicherten lustig untereinander; im Schloss aber entstand zu gleicher Zeit ein entsetzliches Krachen und Tosen, dass alle Türen und Fenster aufsprangen. Da kam plötzlich Pinkus, ganz verstört und zerzaust, aus dem Haupttore mit solcher Vehemenz dahergeflogen, dass die Schöße seines punktierten Schlafrocks weit hinter ihm dreinrauschten. Er wollte vernünftig reden, aber der Frühlingssturm hatte ihn mit erfasst, er musste zu seinem großen Ärger in lauter Versen sprechen und schrie ingrimmig:
„Bin ich selber von Sinnen?
Im Schlosse drinnen
Ein Brausen, Rumoren,
Alles verloren!
Die Wasser, die Winde,
Das Feuer, das blinde,
Die ich besprochen,
Wild ausgebrochen,
Die rasen und blasen
Aus feurigen Nasen
Mit glühenden Blicken
Brechen alles in Stücken!“
Hier stutzte er auf einmal, er hatte die Libertas erblickt, da schoss ihm plötzlich das Blatt. Er kannte sie zwar nicht von Person, aber der schlaue Magier wusste nun sogleich, wer die ganze Verwirrung angerichtet. Ohne Verzug schritt er daher auf sie los und forderte ihren Pass. Sie betrachtete ihn von oben bis unten, er sah vom Schreck so windschief und verschoben aus; sie musste ihm hellauf ins Gesicht lachen. Da wurde er erst recht wild und rief die bewaffnete Macht heraus, die sich nun von allen Seiten mit großer Anstrengung mobil machte, denn der Friedensfuß, auf dem sie solange gestanden, war ihr soeben etwas eingeschlafen. Libertas stand unterdessen wie in Gedanken und wusste gar nicht, was die närrischen Leute eigentlich wollten. Doch sie sollte es nur zu bald erfahren. Pinkus befahl, die gefährliche Landstreicherin im Namen der Gesittung zu verhaften. Sie ward eiligst wie ein Wickelkind mit Stricken umwunden und ihr, in gerechter Vorsicht, darüber noch die Zwangsjacke angelegt. Da hätte man sehen sollen, wie bei dieser Arbeit manchem würdigen Krieger eine Träne in den gewichsten Schnurrbart herabperlte; aber der Patriotismus war groß, und Stockprügel tun weh. So wurde Libertas unter vielem Lärm in das mit dem Schlosse verbundene Arbeitshaus abgeführt.
Pinkus aber, nachdem er sich von der Alteration einigermaßen wieder erholt hatte, schrieb sogleich ein großes Renaissancefest aus, das in einem feierlichen Aufzuge aus dem chinesischen Lusthause nach dem Schloss bestand und wohl einer würdigeren Feder wert wäre. Da sah man nämlich zuerst zwölf weißgekleidete Mädchen, eine hinter der anderen vorschreitend, in den chinesischen Saal hereinschweben, sie trugen auf ihren Achseln eine wunderliche Festgabe, die wie eine lange Wurst oder wie ein gräulicher Wurm aussah. Damit traten sie in einer Reihe vor Pinkus, stellten sich auf das eine Bein und streckten das andere anmutsvoll in die Luft, während eine jede die rechte Hand auf ihr Herz legte, mit der linken aber das langschweifige Weihopfer hoch in die Höhe hob und alle lieblich dazu sangen:
„Wir bringen dir der Treue Zopf
Von eigner Locken Seide,
Lang‘ trag ihn dein erhabner Kopf
Zu deines Landes Freude,
Kopf, Zopf und Lockenseide!“
Es war wirklich ein ungeheurer Zopf, den sie eiligst aus ihren eigenen Locken zusammengewunden hatten. Der gerührte Pinkus riss sich sofort den Haarbeutel vom Haupt, verehrte ihn unter angemessenen Worten den Jungfrauen, um ihn als teures Andenken in dem Prüfungssaale ihrer Pensionsanstalt aufzuhängen, und ließ sich dann den patriotischen Zopf im Genick befestigen, was sich sehr feierlich ausnahm, denn er schleppte ihn hinten etwas nach, so dass ihm jeder drei Schritt vom Leibe bleiben musste, um nicht unversehens darauf zu treten. Jetzt aber begann der Zug durch den Garten. Voran schritten, wie eine Schar schneeweißer Gänse, die glücklichen Jungfrauen mit dem Haarbeutel auf sammetnem Kissen, ihnen folgte der Haushofmeister, an dessen Allongeperücke in der feuchten Abendluft die Locken aufgegangen waren und wie ein Fürstenmantel fast bis an die Fersen herab fielen, endlich kam Pinkus selbst, dem der Kammerdiener den Zipfel des Opferzopfes ehrerbietig nachtrug. Auch der Ziergarten, der seit Libertas gebunden war, hatte unterdes seine vorige würdige Haltung wiedergewonnen, und wo Pinkus vorüber schritt, präsentierte der marmorne Herkules mit seiner Keule, der geigende Apollo salutierte mit dem Fiedelbogen, und die Tritonen in den steinernen Becken bliesen auf ihren Muscheln aus Leibeskräften: Heil dir im Siegerkranz!
Die Geschichte machte damals großes Aufsehn in Deutschland. Die Schwalbe schoss ängstlich hin und her und schwatzte, und schrie von allen Dächern und Zäunen: „Weh, weh, Frau Libertas ist gefangen!“ Die Lerche stieg sogleich wieder kerzengerade in die Höh‘ und meldete es dem Adler, die Nachtigall schluchzte und konnt‘ sich gar nicht erholen, selbst der Uhu seufzte einige Male tief auf; die Rohrdommel aber trommelte sofort Alarm, und der Storch marschierte im Paradeschritt durch alle Wiesen und Felder und klapperte unablässig zum Appell. Bald wurde es auch weiter im Walde lebendig; der Hase duckte sich im Kohl und mochte von der ganzen Sache nichts wissen, der Fuchs wollte erst abwarten, welche Wendung sie nehmen würde; der biedere Bär dagegen ging schnaubend um und wurde immer brummiger, und die Hirsche rannten verzweiflungsvoll mit ihren Geweihen gegen die dicksten Eichen oder fochten krachend miteinander, um sich in den Waffen zu üben.
Da kam zur selben Stunde der Doktor Magog dahergewandert, der seinen Verleger nicht finden konnte und daher soeben in großer Verlegenheit war. Der hörte mit Verwunderung das ungewöhnliche Geschrei der Vögel; durch einen entflogenen Star, der reden gelernt, erfuhr er alles, was geschehen, und wollte aus der Haut fahren über diese Nachricht. „Ha!“ rief er, und dabei fuhr ihm wirklich der Ellbogen aus dem Ärmel. Aber sein Entschluss war sogleich gefasst: er wandte sich eiligst seitwärts nach dem Walde hin. Da erblickte ihn ein Köhler von fern und rief ihm zu, wohin er ginge. – „Zum Urwald“, erwiderte Magog. – „Seid Ihr toll?“ schrie der Köhler wieder herüber:
„Kehrt um auf der Stelle,
Dort steht ein Haus,
Da brennt die Hölle
Zum Schornstein heraus,
Und auf der Schwelle
Tanzt der Teufel Kehraus.“
„Lasst ihn tanzen!“ entgegnete Magog und schritt stolz weiter. Der fromme Köhler sah ihm nach, bis er im Walde verschwunden war. „So gnad‘ ihm Gott“, sagte er dann und schlug ein Kreuz. Magog aber räsonierte noch lange innerlich: „Abergläubisches Volk, das im Mittelalter und in der Religion stecken geblieben! Darum wächst auch der Wald hier so dumm ins Blaue hinein, dass man keinen vernünftigen Fortschritt machen kann.“
So war er eine Weile durch das Dickicht vorgedrungen, als er unverhofft eine dünne Gestalt sehr eilfertig auf sich zukommen sah. Es war eine lange, hagere alte Dame in ganz verschossenem altmodischem Hofstaat, das graue Haar in lauter Papilloten gedreht, wie ein gespickter Totenkopf, die hatte unter jedem Arm eine große Pappschachtel, hielt mit der einen Hand ein zerrissenes Parasol über sich und stützte sich mit der anderen auf einen Haubenstock, – „Ist das der rechte Weg zum Urwald?“ fragte Magog. – „Gewiss, leider, mein Herr“, erwiderte die Dame, sich feierlich verneigend. „Ja“, setzte sie darin mit außerordentlicher Geschwindigkeit in einem Striche fortredend hinzu – „ja, diese bäuerische ungesittete Nachbarschaft macht sich von Tag zu Tag breiter, besonders seit einigen Tagen, man sagt, die famose Libertas sei wieder einmal in der Luft, es ist nicht mehr auszuhalten in dieser gemeinen Atmosphäre, keine Gottesfurcht mehr vor alten Familien, aber ich hab‘ es meinem hochseligen Herrn Neveu immer vorausgesagt, das war auch so ein herablassender Volksfreund, wie sie es nennen, ja das eine Mal embrassierte er sich gar mit dem Pöbel, da haben sie ihn jämmerlich erdrückt, und nun gar wir Jungfrauen sind beständigen Attacken ausgesetzt, und so sehe ich mich soeben bemüßigt zu emigrieren; o Sie glauben gar nicht, mein Herr, was so eine arme Waise von Distinktion sich zerärgern muss in der gegenwärtigen Abwesenheit aller Tugenden von Stande!“ Hier kam sie vor großem Eifer ins Singen und machte plötzlich einen langen, feinen Triller wie eine verdorbene Spieluhr, bis sie sich endlich ganz verhustete. Magog, der ihr voll Erstaunen zugehört, brach in ein schallendes Gelächter aus. Darüber geriet die Dame in solchen Zorn, dass sie verächtlich und ohne Abschied zu nehmen eiligst weiter emigrierte. – „Ohne Zweifel die Urtante, da kann ich nicht mehr weit haben“, dachte Magog und schritt getrost wieder vorwärts. Bald aber verlor sich der Fußsteig vor seinen Füßen, der Forst wurde immer wilder und dichter, von fern nur sah er eine seltsame Rauchsäule über die Wipfel aufsteigen; da gedachte er der Warnung des Köhlers und des wüsten Hauses, aus dem die Hölle brennen sollte. Aber ein rauchender Schornstein war ihm von jeher ein anziehender Anblick, und so klomm er mühsam eine Anhöhe hinan, um das ersehnte Haus zu entdecken. Doch zu seinem Schrecken bemerkte er, dass es ringsum bereits zu dunkeln anfing. Jetzt begann es auch unten am Boden schon sich geheimnisvoll zu rühren, Eidechsen raschelten durch das trockene Laub, die Fledermäuse durchkreuzten mit leisem Flug die Dämmerung, aus den feuchten Wiesen krochen und wanden sich überall trägringelnd lange Nebelstreifen und hingen sich an die Tannenäste wie Trauerflöre, und als Magog endlich droben ins Freie trat, stieg die kühle stille Nacht über die Wälder herauf und bedeckte alles mit Mondschein. Auch die Rauchsäule konnte er nicht mehr bemerken, es war, als hätte die fromme Nacht die Hölle ausgelöscht. Da beschloss er, hier oben den Morgen abzuwarten, streckte sich auf das weiche Moos hin, schob sein mit Manuskripten voll gepfropftes Reisebündel unter den Kopf, betrachtete dann noch eine Zeitlang die zerrissenen Wolken, die über ihm dahinjagten und manchmal wie Drachen nach dem Monde zu schnappen schienen, und war endlich vor großer Müdigkeit fest eingeschlafen.
So mochte er eine geraume Zeit geruht haben, da meinte er mitten durch den Schlummer ein Geflüster zu vernehmen und dazwischen ein seltsames Geräusch, wie wenn ein Messer auf den Steinen gewetzt würde. Die Stimmen kamen immer näher und näher. „Er schläft“, sagte die eine, „jetzt ist’s die rechte Zeit.“ – „Ein schlechter Braten“, entgegnete eine andere tiefe Stimme, „er ist sehr mager, hab‘ seinen Futtersack untersucht, den er unterm Kopfe hat, er lebt bloß von Papier.“ – Nun schien es dem Magog, als hörte er auch die emigrierte Tante leise und eifrig dazwischenreden in verschiedenen unbekannten Sprachen, die anderen antworteten ebenso, die Wipfel rauschten verworren drein, auf einmal schlug sie wieder ihren schrillenden Triller. Da sprang Magog ganz entsetzt auf – es war ein heiserer Hahn, der fern im Tale krähte. Verstört blickte er um sich, der Morgen blitzte zu seinem Erstaunen schon über die Wälder, er wusste nicht, ob ihm das alles nur geträumt oder sich wirklich ereignet hatte.
Jetzt sah er auch die Rauchsäule von gestern wieder empor wirbeln, er hielt es für einen unverhofften Feuer speienden Berg. Als er indes näher kam, erkannte er, dass es nur eine ungeheure Lehmhütte war, in welcher wahrscheinlich das Frühstück gekocht wurde. In diesen tröstlichen Gedanken ging er also unaufhaltsam darauf los. Auf einmal aber blieb er ganz erschrocken stehen. Denn auf dem Rasenplatze vor der Hütte war ein Riesenweib wahrhaftig soeben damit beschäftigt, ein großes Schlachtmesser zu wetzen. Sie schien ihn nicht zu bemerken oder weiter nicht zu beachten, weil er so klein war, und in demselben Augenblick brachen auch mehrere Riesenkinder mit großem Geschrei aus der Hütte und zankten und würgten und rauften untereinander, dass die Haare davonflogen. Über diesem Lärme aber erhob sich plötzlich eine wunderbare, baumlange Gestalt und gähnte, dass ihr die Morgensonne bis tief in den Schlund hinein schien. Der Mann war gräulich anzusehen, ungewaschen und ungekämmt, wie ein zerzaustes Strohnest, und hatte eine ungeheure Wildschur an, die war aus lauter Lappen und Fetzen von Fuchsbalg, wilden Schweinshäuten und Bärenfellen zusammengeflickt. – „Herr Rüpel?!“ rief da Magog in freudigem Erstaunen. – „Wer ruft mich?“ erwiderte der Riese noch halb im Schlafe und sah den Fremden verwundert an. – „Sie eben hab‘ ich aufgesucht“, entgegnete Magog, „eine höchst wichtige Angelegenheit.“ – Aber Rüpel hatte gerade mit der Kindererziehung zu tun. „Hetzoh!“ schrie er den Jungens zu, die noch immerfort rauften, „du da wirst dich doch nicht unterkriegen lassen, frisch drauf!“ Dann streckte er unversehens sein langes Bein vor, da stürzten und kollerten die Verbissenen plötzlich verworren übereinander, während die Riesenmutter voller Zorn ihren Kehrbesen mitten in den Knäuel warf. Darüber kamen alle in ein so herzhaftes Lachen, dass der Wald zitterte.
Da nun Magog die Familie in so guter Laune sah, fasste er sich ein Herz und rückte sogleich mit seinem eigentlichen Plane heraus. „Herr Rüpel“, sagte er, „ich bin ein Biedermann und kenne kein Hofieren und keinen Hof, als den Hühnerhof meiner Mutter, aber das muss ich Ihnen rund heraussagen: Ihre Macht und Gesinnungstüchtigkeit ist durch ganz Europa ebenso berühmt als geschätzt und ebenso geschätzt als gefürchtet. Darum wende ich mich vertrauensvoll an Ihr großes Herz und rufe: Wehe und abermals wehe! die Libertas ist geknechtet! – wollen wir das dulden?“ – „Libertas? wer ist die Person?“ fragte Rüpel. – „Libertas?“ erwiderte Magog, „Libertas ist die Schutzpatronin aller Urwälder, die Patronin dieses langweiligen – wollt‘ sagen: altheiligen Waldes?“ „I bewahre“, fiel ihm hier die Riesin ins Wort, „unsere Grundherrschaft ist das gnädige Fräulein Sibylla da draußen.“ – „Was? die mit den Papilloten und großen Haubenschachteln?“ rief Magog, den dieser unerwartete Einwurf ganz aus dem Konzept gebracht hatte. Aber er fasste sich bald wieder. „Grundherrschaft!“ fuhr er fort, „schützt die Grille Krokodile, der Frosch das Rhinozeros, der Weißfisch den Haifisch? – Wer die Macht hat, ist der Herr, und Ihr habt die Macht, wenn die Libertas regiert, und habt die Macht nicht, wenn die Libertas gefangen ist, und die Libertas ist gefangen – ich frage also nochmals, wollen wir das dulden?“
Hier aber wurde er, da er eben im besten Zuge war, durch einen seltsamen Auftritt unterbrochen. Ein Reiher kam nämlich pfeilschnell dahergeschossen, setzte sich gerade auf seinen zerknitterten Kalabreser, drehte ein paar Mal mit dem dünnen Halse, verneigte sich dann feierlich vor der Gesellschaft und sagte: „Sie lassen alle ihren Respekt vermelden und es tut ihnen sehr leid, aber sie können heut und morgen nichts bringen, wir haben alle außerordentlich Wichtiges zu tun; schönen guten Morgen!“ Und damit sich abermals höflich verneigend, schwang er sich wieder in die Lüfte. – „Guten Morgen, Herr Fischer“, erwiderte Rüpel, ihm ganz verblüfft und mit einer verzweifelten Resignation nachschauend. Jetzt sah man auf einmal auch einen ungeheuren Schwarm wilder Gänse über den Wald fortziehen, einen alten gewiegten Gänserich voran, alle die Hälse wie Lanzen weit vorgestreckt und in einem spitzen Keile dahinstürmend, als wollten sie den Himmel durchbrechen, und dabei machten sie ein so entsetzliches kriegerisches Geschreie, dass man sein eigenes Wort nicht hören konnte. Währenddes aber hatte der eine Riesenknabe sich mit dem Ohre auf den Boden gelegt und sagte: „Draußen im Grunde hör‘ ich ein groß‘ Getrampel, man kann die Tritte deutlich unterscheiden: Hirsche, Auerochsen, Bären, Damhirsche, Rehe, zieht alles wild durcheinander den großen See entlang.“ – „Die Tollköpfe!“ rief die Riesenmutter aus, „da haben sie gewiss wieder Verdruss gehabt mit dem gnädigen Fräulein und haben unseren guten Wald in Verruf getan und wandern aus; denn das Fräulein ist ihnen immer spinnefeind gewesen und ließ sie mit Hunden hetzen und schinden und braten obendrein.“
„Nein, nein, die alte Spinne ist ja selber ausgewandert, ich bin ihr gestern begegnet“, sagte Magog voll Verwunderung, „aber warum nehmen Sie sich denn die Sache so sehr zu Herzen, teuerste Frau von Rüpel?“
„Wie sollt‘ ich nicht!“ erwiderte die Riesin, „ach wir armen Waldleute müssen uns gar kümmerlich durchhelfen mit der großen Familie. Sehen Sie, lieber Herr, ich und mein Mann arbeiten hier für die vornehmen Tiere: Hirsche, Rehe und anderes Hochwild um Tagelohn, den wir von ihnen in Naturalien beziehen. Des Abends spricht mancher Edelhirsch bei uns ein, wenn er nachts auf die Freite gehen will, da muss ihm mein Mann die Pelzstiefelchen putzen, dafür erhalten wir denn die Felle der verunglückten Kameraden und die abgeworfenen Geweihe in die Wirtschaft. Alle Morgen aber kommen die Bären und lassen sich ihre Pelze ausklopfen und bringen uns große Honigfladen, oder ein paar wilde Schweine lassen sich ihre Hauer schleifen und werfen uns zum Dank einen fetten Frischling auf die Schwelle, denn die Zeiten sind schlecht, da kommt es ihnen auf ein Kind mehr oder weniger nicht an. Ich aber flechte Nester für die Adler, Habichte und Auerhühner, und die lassen uns dann im Vorüberfliegen einen Hasen oder ein Zicklein herunterfallen oder legen uns nachts einige Schock Eier vor die Tür, wenn sie eben nicht Lust haben, alle auszubrüten. Und nun – ach das große Unglück! jetzt haben wir unsere Kundschaft verloren und stehen ganz verlassen in der Welt, o! o!“ – und hier fing sie jämmerlich zu heulen an, und der Riese, der sich lange gehalten, stimmte plötzlich furchtbar mit ein.
Da trat Magog mannhaft mitten unter sie. „Das soll bald anders werden!“ rief er; „kennt ihr das Schloss des Baron Pinkus?“ Der Riese entgegnete, er habe es wohl von fern gesehen, wenn er manchmal zur Unterhaltung bis all den Rand des Waldes gegangen, um die Köhler und andere kleine Leute zu schrecken. – „Nun gut“, fuhr Magog fort, „dort eben sitzt die Libertas gefangen. Seht, mich hat auch die Welt nur auf elende Lorbeeren gebettet, dass ich mir an dem stacheligen Zeug schon den ganzen Ärmel am Ellbogen durchgelegen; darum habe ich ein Herz für das arme Riesenvolk. Die Libertas ist eine reiche Partie, wir müssen sie befreien! Dabei kann es vielleicht einige Püffe setzen, was frag’ich darnach! Ihr habt ja ein dickes Fell, alles für meine leidenden Brüder! Mit einem Wort: Ihr befreit sie und ich heirate sie dann und Ihr seid auf dem Schlosse Portier und Schloßwart und Haushofmeister, eh‘ man die Hand umdreht. Topp, schlagt ein – aber nicht zu stark, wenn ich bitten darf.“
Darüber war Rüpel ganz wild geworden und schritt, ohne ein Wort zu sagen, so eilig in die Hütte, dass Magog nur mühsam und mit vorgehaltenen Händen tappend folgen konnte. Denn sie stiegen über viele ungeschickte Felsenstufen in eine große Höhle hinab, über welcher der Berg, den Magog für die Hütte gehalten, nur das Dach und den Schornstein bildete. Im Hintergrunde der Höhle hing ein Kessel über dem Feuer, ein zahmer Uhu mit großen funkelnden Augen saß in einem Felsenspalt daneben und fachte mit seinen Flügeln die Flamme an und schnappte manchmal nach den Fledermäusen, die geblendet nach dem Feuer flogen. Die Flamme warf ein ungewisses Licht über die rauen und wunderlichen Steingestalten umher, die bei den flackernden Widerscheinen sich heimlich zu bewegen schienen, und mächtige Baumwurzeln drängten sich überall wie Schlangen aus den Wänden, in der Tiefe aber hörte malt ein Picken und Hämmern und unterirdische Wasser verborgen gehen, und dazwischen rauschte der Wald immerfort durch die offene Tür herein. Rüpel aber rumorte eifrig in der Höhle herum, er schien allerlei zusammenzusuchen. Auf einmal wandte er sich zu Magog: „Und damit Punktum, ich geh‘ mit auf die Befreiung!“

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