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Die kluge Kathrin

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Man erzählt, daß einmal ein reicher Kaufmann war, der hatte eine Tochter, die, kaum der Wiege entwachsen, so klug wurde, daß alle und über alles nur immer zuerst ihre Meinung wissen wollten. Der Vater hatte seine Freude an dem Mädchen und nannte sie nur: die kluge Kathrin. Sie studirte bald alle Dinge der Welt, die hohen wie die niedern, wußte alle Sprachen und hatte bald alle Bücher, die geschriebenen wie die gedruckten, gelesen.
Da starb ihr die Mutter. Der Kummer des Mädchens war so groß, daß sie sich in ihre Kammer verschloß und nicht mehr herauswollte. Sie aß in der Kammer, weinte und schlief darin, und kein Vergnügen, kein Spaziergang, kein Theaterspiel konnte sie mehr verlocken. Wie der Vater seine einzige Tochter so in Trübsal verfallen sah, wollte er seine Freunde um Rath fragen. Er berief die vornehmen Herren der Stadt und sprach: »Ihr Herren, es ist euch bekannt, daß ich eine Tochter habe, die mein Augapfel ist. Nun, da ihre Mutter gestorben, hat sie sich eingeschlossen wie eine Schnecke in ihrer Schale und steckt nicht einmal ihre Nasenspitze heraus. Was ist zu thun?«
Die Freunde sagten: »Alle Welt kennt Euere Tochter wegen der gar großen Klugheit, die ihr geworden. Wie wär’s also, wenn Ihr derselben eine große Schule errichtetet? Gewiß würde sie im Unterrichten die gewünschte Zerstreuung finden.« Das leuchtete dem Vater ein; er rief die Tochter und sagte zu ihr: »Mein liebes Kind, weil du auch gar keine Zerstreuung hast, bin ich gesonnen, dir eine Schule einzurichten, wovon du die Regentin sein sollst. Was meinst du?« Der Vorschlag gefiel der Tochter, und wie die Bauleute kamen, war sie selbst mitten unter ihnen, den Bau zu leiten, denn auch davon verstand sie genug. Die Schule ward bald fertig, und nun ließ sie bekannt machen: »Freie Schule bei der klugen Kathrin.«
Da kamen die Kinder, Knaben und Mädchen, und sie setzte sie bunt durcheinander ohne Unterschied des Standes. Da half keine Einrede: der Bettlerssohn wurde neben den Grafensohn gesetzt, nach dem Sprichwort: »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.« So begann der Unterricht. Sie lehrte alle gleich, und wer seine Aufgabe nicht wußte, bekam Schläge mit einer Peitsche, woran eine Bleikugel befestigt war.
Ihr Name war auch bis zum Königsschloß gedrungen, und der Königssohn beschloß, ihre Schule zu besuchen. Mit prächtigen Kleidern angethan, kommt er zur klugen Kathrin; aber er bekommt einen Platz wie alle andern. Und als er auf eine Frage, die sie ihm stellte, keine Antwort wußte, bekam er auch eine Ohrfeige wie alle andern, so stark, daß er meinte, die Wange müsse ihm verbrennen.
Beschämt und zornig eilt er zu seinem Vater, dem Könige, und bittet ihn und sagt: »Herr Vater, ich will mich verheirathen, erweist mir die Gnade und laßt mich die kluge Kathrin zur Frau nehmen.« Der König befiehlt, den Vater des Mädchens zu rufen, und wie der hört, um was es sich handelt, sagt er: »Herr König, Ihr habt nur zu befehlen, aber bedenkt, ich bin nur ein Kaufmann und Euer Sohn ist königlichen Blutes.« – »Das thut nichts«, sagte der König, »mein Sohn will sie und das ist genug.«
Der Vater geht nach Hause und ruft Kathrin: »Kathrin, der Sohn des Königs will dich zur Frau haben. Was meinst du dazu?« Kathrin war aber damit einverstanden. Acht Tage lang rüstete man zur Hochzeit, zwölf Mädchen waren die Brautjungfern; die königliche Kapelle ward geöffnet, und so wurden sie bald ein Paar.
Nach der Trauung befiehlt die Königin den zwölf Mädchen, der Braut die köstlichen Kleider auszuziehen, damit sie zu Bett gehen könne. Der Königssohn aber tritt dazwischen und sagt: »Ich will weder Kammerfrauen noch Kammerherren, auch keine Wachen hinter der Thür. Ich will allein sein.« Als sie allein waren, fragt er: »Kathrin, denkst du der Ohrfeige noch, die du mir gegeben, und bereust du sie?« Sie antwortet kecklich: »Was doch soll ich sie bereuen? Wenn Ihr wollt, könnt Ihr eine zweite haben.« – »Was, du hast sie also nicht bereut?« – »O, nicht einmal im Traume.« – »Und willst du sie nicht bereuen?« Sie fragte: »Ja, mit wem sprichst du denn eigentlich?« Da wurde der Prinz zornig und rief: »Ich will dir zeigen, mit wem ich spreche und wer ich bin.« Und er nahm einen Strick, sie in ein finsteres Loch hinabzulassen. Ehe er dies that, fragte er sie nochmals: »Kathrin, bereue jetzt, oder ich lasse dich in dieses Loch hinab!« – »O, immer zu«, rief Kathrin voller Muth, »da drunten ist’s gewiß frischer.« Da sagte er weiter kein Wort, und ließ sie in das Loch hinunter, und gab ihr nichts als einen Tisch, einen Stuhl, einen Krug Wasser und eine Schnitte Brot.
Am andern Morgen kommen Vater und Mutter, um dem jungen Paar nach des Landes Sitte einen Guten Morgen zu wünschen. Der Königssohn aber ruft: »Niemand darf eintreten, Kathrin ist krank.« Dann öffnet er das Loch und fragt hinab: »Nun, wie hast du die Nacht verbracht?« Und von unten klingt es herauf: »O, frisch und angenehm!« – »Denkst du der Ohrfeige, die du mir gegeben hast?« – »Denkt nur an die, die Ihr noch kriegen werdet.«
Wie zwei Tage um waren, fühlte sie großen Hunger, und da sie nicht wußte, was thun, zieht sie das Blankscheit aus ihrem Leibchen und fängt an, damit ein Loch in die Mauer zu graben. Sie gräbt und gräbt und sieht nach vierundzwanzig Stunden das Tageslicht schimmern. Da war ihre Freude groß, sie wurde aber bald noch größer, als sie durch das Loch, wie sie es vergrößert, den Schreiber ihres Vaters vorbeigehen sieht, Don Tommaso. »Don Tommaso«, ruft sie, und wieder: »Don Tommaso!« Der schaut sich um und vermag sich nicht zu erklären, wie die Stimme aus der Mauer kommt. »Don Tommaso, ich bin die kluge Kathrin, geht und sagt meinem Vater, daß ich ihn augenblicklich sprechen muß.«
Der Vater kommt eiligst in Begleitung des Schreibers herbei, der ihm das Loch zeigt, und die Tochter sagt: »Das Schicksal, lieber Vater, hat mich in dieses Loch verbannt; aber laßt einen Gang von unserm Hofe bis hierher graben, laßt seine Decke mit Balken stützen und hängt alle zwanzig Schritte eine Lampe auf. Ich weiß schon, was ich zu thun habe.« Der Gang war gemacht, und nun schickte ihr der Vater alle Tage köstliche Speisen in Hülle und Fülle. Der Königssohn aber schaute jeden Tag dreimal hinab und rief: »Kathrin, bereust du die Ohrfeige, die du mir gegeben hast?« Sie rief dagegen: »Was ist da zu bereuen, denkt lieber an die, die Ihr noch kriegen werdet.«
Kaum wie er das Loch geschlossen hatte, ging sie zu ihrem Vater hinüber und hatte den Königssohn dergestalt zum Narren. Die Sache wurde ihm allmählich unheimlich und er beschloß, abzureisen. Er öffnete das Loch und sagte: »Kathrin, ich gehe jetzt nach Neapel, hast du mir nichts zu sagen?« – »Viel Vergnügen, macht Euch lustig, und vergeßt mir nicht Euere Ankunft zu melden. Aber Ihr wißt, was man sagt: ‚Siehe Neapel und stirb‘ – daß Ihr mir ja nicht sterbt.« – »Ich soll also fortgehen?« fragte der Prinz. – »Was, Ihr steht noch immer oben? Ich wähnte Euch schon auf der Reise.« Da ging er fort.
Kaum war er gegangen, läuft Kathrin zu ihrem Vater und sagt: »Lieber Vater, jetzt müßt Ihr mir helfen. Ich brauche ein Schiff, Kammermädchen, Kleider und Schmuck, das alles schickt Ihr schleunigst nach Neapel. In Neapel soll man mir einen Palast miethen, gegenüber dem königlichen Schlosse, und soll auf mich warten.« Der Vater bereitete alles nach Wunsch der Tochter, und das Schiff ging ab. Unterdessen befiehlt der Königssohn eine schöne Fregatte, schifft sich ein und segelt gen Neapel. Wie die kluge Kathrin von der Terrasse ihres Vaters aus sah, daß der Königssohn abreiste, besteigt sie eine Brigantine und ist vor ihm in Neapel, denn die Brigantine segelte schneller als die Fregatte.
Angekommen, zieht sie ihre schönsten Kleider an und spaziert vor dem Palaste auf und ab. So that sie es jeden Tag, bis sie der Königssohn sah und sich alsbald in sie verliebte. Er schickte einen Boten zu ihr, der mußte sagen: »Schöne Frau, so Ihr es erlauben möchtet, würde Euch der Königssohn wol besuchen.« Sie antwortet: »Wenn es ihm gefällig ist, mag er kommen.« Er kam und war voller Artigkeiten gegen sie und begann ein Gespräch: »Sagt mir, Frau, ist Euer Herz noch frei?« Sie antwortet: »Es ist noch frei, aber das Euere?« – »Auch dieses ist frei. Und nun hört, was ich Euch sage: Ihr gleicht so ganz einem Mädchen, das ich in Palermo liebte, und ich möchte Euch zur Frau haben.« Die Frau sagte Ja, und nach acht Tagen wurde die Hochzeit gefeiert.
Die Zeit verging rasch, und ein Knäblein erblickte das Licht der Welt, das war so schön wie die Sonne. Sein Vater fragte: »Welchen Namen geben wir dem Kinde?« – »Neapel«, antwortete die Frau, und so wurde er Neapel genannt.
Nach zwei Jahren will der Königssohn abreisen, und trotz des Zürnens seiner Frau führt er seinen Vorsatz aus. Vor der Abreise jedoch schreibt er ihr einen Brief, worin er sagt, daß das Kind als sein Erstgeborener mit der Zeit König werden solle. So ging er nach Genua. Schnell schreibt sie ihrem Vater, er solle eine Brigantine mit Möbeln, Kleidern, Kammerfrauen und allem Nöthigen nach Genua schicken, solle ein Haus gegenüber dem königlichen Schlosse miethen und sie erwarten lassen. Der Vater war der Tochter zu Willen und schickte alles nach Genua. Sie fährt mit einem Schnellsegler dem Königssohn voraus und richtet sich noch vor ihm in dem neuen Hause ein.
Kaum sieht der Prinz die königlich gekleidete Frau, die in Schmuck und Reichthum einherging, rief er verwundert aus: »Bei allen Himmeln, diese gleicht aufs Haar der klugen Kathrin.« Und wieder schickt er einen Diener zu ihr, mit der Bitte, sie besuchen zu dürfen. Sie erlaubt es, und er kommt und fragt die alte Frage: »Seid Ihr noch frei?« – »Ich bin Witwe«, antwortet Kathrin, »und Ihr?« – »Ich bin Witwer und habe einen Sohn. Ich sehe Euch an und Ihr gleicht aufs Haar einer Frau, die ich in meiner Heimat kannte!« – »Da ist nichts zu verwundern, sieben müssen sich auf dieser Welt einander gleichen.« Kurz, in acht Tagen waren sie ein Paar.
Die Monate verflossen, und wie die Stunde der Geburt kommt, wird ihr ein Knabe, schöner noch als der erste war. Und wie der Prinz fragte: »Welchen Namen geben wir dem?« sagte sie: »Genua«, und so wurde er Genua getauft.
Doch kaum sind zwei Jahre um, so hält es den Königssohn nicht länger und er will abreisen. »Aber wie möget Ihr mit einem Wickelkind abreisen!« fragte sie. – »Das lass‘ ich dir und einen Zettel, worauf ich kundthue, daß es mein Kind und zwar der Kronprinz ist.« So rüstete er sich zur Abreise nach Venedig. Inzwischen hat die kluge Kathrin schon an den Vater geschrieben und ihn um die neue Sendung gebeten, und sie erreicht auch Venedig in ihrer Brigantine schneller als der Prinz mit seiner Fregatte, und richtet sich ein.
Wie sich der Königssohn ein wenig in der Stadt umthut, sieht er an einem Fenster die Frau sitzen, staunt und ruft: »Bei allen Himmeln, diese gleicht ganz und gar der klugen Kathrin! Wie geht das zu? In Neapel dieselbe, in Genua dieselbe, und jetzt wieder hier! Aber nein, wie wäre das möglich? Kathrin liegt im Loche, jene ist in Neapel und die dritte in Genua … und doch, und doch gleicht sie allen Dreien.« Er schickt seinen Boten, besucht sie und sagt zu ihr: »Das ist mir doch zu sonderbar: Ihr gleicht einer Frau, die ich in Palermo, in Neapel und in Genua kennen gelernt!« – »Da ist nichts Sonderbares«, antwortete sie, »sieben müssen sich auf dieser Welt einander gleichen.« Wiederum fragt er, ob sie frei sei, und wie sie ihm sagt, sie wäre Witwe, sagt er, er sei Witwer und habe zwei Kinder. Nach acht Tagen haben sie sich geheirathet.
Da auch diesmal die Zeit erfüllt war, bekam sie eine Tochter, schön wie ein Stern. Der Prinz fragt: »Wie nennen wir die?« Kathrin antwortet: »Venezia.« Und so geschah es.
Zwei Jahre waren vergangen, da sagte eines Tages der Prinz: »Weißt du was? Ich denke, meine Reise ist beendigt, ich kehre am besten wieder nach Palermo zurück und lasse dir einen Schein, daß diese da meine Tochter und zwar königliche Prinzessin ist.« Kathrin mochte sich sträuben, wie sie wollte, er reiste ab; aber sie reiste ihm hintennach. In Palermo angekommen, geht sie in das Haus ihres Vaters, geht durch den unterirdischen Gang und kriecht in das Loch. Der Königssohn kommt an, sein erster Gedanke ist natürlich, nach Kathrin zu schauen. Er ruft hinab: »Kathrin, wie geht’s dir?« Und sie von unten: »Gut, ganz gut.« – »Hast du die Ohrfeige bereut, die du mir gegeben hast?« – »Was sprichst du nur von der? Denke nur an die, welche du noch zu kriegen hast.« – »Kathrin, bedenke dich wohl! Ich werde mich verheirathen!« – »Verheirathet Euch, mit wem Ihr wollt, kein Mensch hält Euch ab.« – »Aber bedenke, so du bereust, bist du wieder meine Frau.« Aber Kathrin antwortet: »Ich habe nichts zu bereuen.«
Da also gar kein Mittel anschlägt, sie zu bekehren, beschließt er, sie für todt zu erklären und sich neuerdings zu vermählen. Er schickt Boten in alle Welt, um die Bilder aller heirathsfähigen Prinzessinnen zu haben. Die Bilder kommen und er findet, daß die Tochter des Königs von England die allerschönste sei. Er läßt ihr sagen, sie möge mit ihrer Mutter kommen, da er sie zur Frau nehmen wolle.
Es kommen die Prinzessin und ihr Bruder und werden im königlichen Schlosse empfangen. Wie das Kathrin vernimmt, läßt sie für ihre drei Kinder Neapel, Genua und Venezia schöne königliche Kleider machen, und am nächsten Tage, wo die Trauung stattfinden sollte, kleidet sie sich als Königin, was sie auch in Wirklichkeit war, an, nimmt Neapel, der als Kronprinz, und Genua und Venezia, die als Prinz und Prinzessin geschmückt waren, setzt sich in die Galakutsche und fährt vor das Schloß. Den Kindern sagt sie: »Wenn ich Euch sage: küßt Euerm Vater die Hand, so geht hin und thut also.« So traten sie ein.
Der Königssohn saß auf dem Throne; sie ruft: »Neapel, Genua und Venezia, küßt Euerm Vater die Hand!« und läßt sie vorgehen. Der Königssohn erstarrt vor Schreck und ruft: »Ah, das also ist die versprochene Ohrfeige, nun, sie ist stark genug.« Steigt aber vom Thron hinunter und drückt die Kinder an sein Herz. Die Prinzessin von England stand da wie aus den Wolken gefallen, und reiste andern Tages wieder ab.
Kathrin hat ihrem Manne das ganze Geheimniß erzählt, und er konnte nichts anderes thun, als sie um Verzeihung zu bitten für die vielen Kümmernisse, die er ihr bereitet, und von dem Tage an liebte er sie in Treuen.

So lebten sie glücklich und zufrieden,
Uns ist auch nicht ein Bißlein beschieden.

[Italien: Waldemar Kaden: Unter den Olivenbäumen. Süditalienische Volksmärchen]

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