Schon viele Ritter hatten versucht, auf den Berg hinaufzukommen. Auf scharf beschlagenem Pferde kletterte mancher hinan, aber auf halbem Wege stürzte er von dem glatten und steilen Berge hinunter. Einer brach sich den Arm, der andere das Bein, mancher gar das Genick.
Die schöne Prinzessin sah von ihrem Fenster aus, wie die herrlichen Ritter vergebens in die Höhe zu kommen suchten, und schon sieben Jahre wartete sie auf ihren Retter.
Rund um den Berg lagen viele Leichen – Ritter und Pferde. Die ganze Gegend sah aus wie ein Kirchhof.
Es fehlten bloß noch drei Tage zu den sieben Jahren, als ein Ritter in goldener Rüstung auf mutigem Rosse zum Glasberge ritt. Mit mächtigem Anlauf kam er bis zur halben Höhe und kehrte glücklich zurück.
Nach dieser glücklichen Probe machte er am nächsten Tage einen zweiten Versuch. Das Roß stampfte auf dem harten Glase, daß die Funken sprühten. Schon war der Ritter oben bei dem Apfelbaume. Da erhob sich ein großer Falke, rauschte mit seinen breiten Flügeln und traf damit die Augen des Pferdes. Das Pferd wird scheu, bäumt sich hoch empor, seine Hinterfüße glitschen aus, – es fällt mitsamt dem Ritter den steilen Berg hinunter. Von beiden blieben bloß die Knochen übrig, und die klapperten in der zusammengestoßenen Rüstung wie Erbsen in einer Blase.
Jetzt fehlte nur noch ein Tag bis zum Schlusse des siebenten Jahres. Da kam ein flotter Student heran, ein schmucker, kräftiger und großer Jüngling. Er hatte schon zu Hause bei seinen Eltern von der Prinzessin gehört und deshalb im Walde einen Luchs getötet. Jetzt machte er sich dessen Krallen an Händen und Füßen fest, und so kam er glücklich bis zur halben Höhe. Die Sonne war schon im Untergehen. Er konnte kaum atmen vor Müdigkeit, der Mund war ihm ganz trocken vor Durst. Eine schwarze Wolke flog vorüber, doch vergebens bat und flehte er, sie möchte wenigstens einen Tropfen fallen lassen; vergebens öffnet‘ er den Mund, – die Wolke fliegt vorüber, kein Tröpflein Tau feuchtet seine trockenen Lippen.
Seine Füße sind ganz blutig; er hält sich nur noch mit den Händen. Die Sonne ist verschwunden, – und er blickt nach oben, um noch des Berges Gipfel zu erschauen. Dabei muß er den Kopf so heben, daß ihm die schöne Mütze herunterfällt. Dann blickt er nach unten: – Himmel, was für ein Abgrund, und was für ein schrecklicher Geruch kommt von den Leichen herauf!
Es wird ganz finster. Die Sterne beleuchten blaß den gläsernen Berg. Der kühne Student hängt wie angeschmiedet an seinen Händen. Seine Kraft ist zu Ende, und er erwartet den Tod. Da schließt ihm der Schlaf die Augen. Er vergißt seine gefährliche Lage und schlummert süß ein. Die scharfen Krallen sind aber so fest in das Glas gehackt, daß er bis Mitternacht ganz ruhig schläft und nicht hinunterfällt.
Der Falke, der den Apfelbaum verteidigte und den Ritter mit dem Pferde hinabgeworfen hatte, flog jede Nacht als wachsamer Wächter um den Berg. Als nun der Mond aufgegangen war, kreiste er wieder in der Luft, erblickte den Jüngling und ließ sich bei ihm nieder, denn er glaubte, es gebe da eine frische Leiche zu fressen. Aber der Bursche schlief nicht mehr; er sah den Vogel und dachte nach, wie er sich mit dessen Hilfe retten könnte.
Der Falke schlug seine scharfen Krallen in das Fleisch des Jünglings. Da packte dieser plötzlich die Beine des Vogels und ließ sich von ihm emportragen in die Luft. Das Schloß auf dem Berge glänzte im bleichen Mondlichte wie eine trübe Lampe. Jetzt war der goldene Apfelbaum in der Nähe. Der Bursche zog ein Messer aus dem Gürtel und schnitt dem Falken beide Füße ab. Der Vogel stieg vor Schmerz bis zu den Wolken hinauf, der Jüngling aber fiel in die breiten Äste des Apfelbaums.
Da zog er die Falkenfüße, die noch mit den Krallen in seinem Fleische steckten, heraus, legte die Schale eines goldenen Apfels auf die Wunde, – und gleich war sie geheilt.
Dann pflückte er sich die Taschen voll solch goldener Äpfel und ging dreist ins Schloß hinein. Der Hofplatz war voll Blumen und schöner Bäume, und auf dem Balkon saß die verzauberte Prinzessin mit ihrem Gefolge. Sie ging dem Jüngling entgegen und begrüßte ihn als ihren Herrn und Gemahl. Sie überlieferte ihm alle Schätze, und der junge Bursche wurde ein reicher, mächtiger Herr. Auf die Erde kehrte er nicht mehr zurück.
Einmal ging er mit seiner Gemahlin im Garten spazieren. Da sahen sie unten am Berge eine große Menschenmenge. Sie riefen die Schwalbe herbei, die im Schlosse als Botin diente, und sagten zu dem kleinen Vogel: „Flieg hin und frage, was es da Neues gibt!“
Die Schwalbe flatterte eilig fort, kam bald zurück und sagte: „Das Falkenblut hat die Leichen da unten wieder lebendig gemacht. Alle erwachen heute wie aus einem Schlafe, setzen sich auf die rüstigen Rosse, und alles Volk schaut auf das unerhörte Wunder.“
Quelle:
(Kasimir Wladislaw Woycicki, Polnische Volkssagen und Märchen)