Nun brach der Jüngling auf; und nach drei Tagereisen traf er einen bartlosen und kehrte wieder nach Hause zurück. Nach einigen Tagen machte er sich wieder auf; und nach sechs Tagereisen traf er wieder einen bartlosen. Diesmal aber kehrte er nicht mehr nach Hause zurück, sondern zog weiter. Der bartlose fragte ihn: »Wohin gehst du?« Da erzählte ihm der Jüngling: »Ich habe einen Bruder, der ist Pascha in Bagdad, und dorthin will ich gehen«. Da sprach der bartlose zu ihm: »Auch ich bin auf dem Wege dorthin; wir wollen also als Gefährten zusammen ziehn«.
Während sie ihres Weges zogen, wurde der Jüngling durstig. Der bartlose schickte ihn zu einem Brunnen, aber dieser Brunnen hatte weder Eimer noch Seil. Da sprach der bartlose: »Ich will dich am Gürtel hineinlassen, damit du Wasser trinken kannst«. Der Jüngling ließ sich am Gürtel anbinden und kam hinein. Nachdem er Wasser getrunken hatte, sprach er: »Jetzt zieh mich herauf, denn ich habe mich satt getrunken«. Aber der bartlose erwiderte: »Ich ziehe dich nur unter der Bedingung aus dem Brunnen, dass ich mich für den Bruder des Pascha ausgebe und dich für den bartlosen«. Da der Jüngling keinen andern Ausweg sah, gab er ihm das Versprechen. Jener zog ihn aus dem Brunnen, und sie machten sich auf und gelangten in das Haus des Pascha, und der Pascha nahm ihn mit Freuden auf.
Am folgenden Tage sprach der bartlose zum Pascha: »Hast du vielleicht in dieser Stadt etwas feindliches? denn mein bartloser ist sehr tapfer und er tötet jede Gattung Tiere«. Der bartlose trachtete nämlich den Jüngling bei Seite zu schaffen, da er fürchtete, er möchte dem Pascha eines Tages sagen: »Ich bin dein Bruder und nicht dieser bartlose«. Und der Pascha sagte zu ihm: »An dem und dem Orte befindet sich eine Kulschedra, geh hin und töte sie«. Der Jüngling antwortete: »Ich will ein großes Feuer angezündet haben und zwei Äxte«. Der Pascha erfüllte ihm geschwind seinen Wunsch, und der Jüngling ging an jenen Ort; da kam die Kulschedra heraus und stürzte auf ihn zu, um ihn zu verschlingen. Aber er hieb sie rasch mit der Axt auf den Kopf und tötete sie.
Der Pascha bekam die Nachricht, dass der Jüngling die Kulschedra getötet habe; er zeichnete ihn aus und hatte ihn sehr lieb. Der bartlose aber sprach wieder zu ihm: »Hast du noch einen Wunsch?« »Ja,« sagte der Pascha, »ich bin verlobt mit der Tochter des Schahs von Persien; und das ganze Heer, das ich dorthin geschickt habe, haben sie mir getötet«. Also schickten sie diesen Jüngling hin. Und der Jüngling nahm siebenundneunzig Mann und machte sich auf. Unterwegs traf er einen Burschen am Ufer eines Wassers. Dieser Bursche trank dieses Wasser bald ganz aus, bald spie er es aus. Der Jüngling mit seiner Truppe blieb stehen, sah ihm zu und fragte ihn: »Was machst du hier?« Er antwortete: »Ich habe nichts andres zu tun als mit diesem Wasser zu spielen«. Und jener sprach: »Willst du mit mir kommen?« Er erwiderte: »Ja, ich komme«. Indem er weiter zog, traf er einen andern Burschen, der mit Hasen spielte: bald ließ er sie laufen und bald fing er sie, so rasch konnte er laufen. Er fragte ihn: »Was machst du hier?« Und jener antwortete: »Ich habe nichts andres zu tun als mit diesen Hasen zu spielen«. »Willst du mit mir kommen?« fragte jener; und er sagte: »Ja, ich komme«. Indem sie weiter zogen, ruhten sie unter einem Baume aus. Auf diesem Baume war ein Nest mit den jungen eines Adlers. Eine Schlange kroch auf den Baum, um die jungen zu fressen, und diese schrien. Da erhob sich der Jüngling und tötete die Schlange. Nach einiger Zeit kam das Adlerweibchen grade auf den Jüngling zu, um ihm die Augen auszuhacken, aber die jungen schrien: »Hacke ihm nicht die Augen aus, denn er hat uns von der Schlange befreit«. Da sprach das Adlerweibchen zu dem Jüngling: »Du, der du meine Kinder gerettet hast, was verlangst du von mir?« Der Jüngling erwiderte: »Ich will gar nichts«. Da gab ihm das Adlerweibchen eine Flaumfeder aus ihrem Flügel und sprach zu ihm: »Wenn du meiner bedarfst, wirf sie ins Feuer, und ich werde sofort kommen«. Er nahm die Feder, steckte sie in die Tasche, und sie zogen weiter. Unterwegs traf er auf eine Schar Ameisen; er zog nicht mitten durch sie hindurch, sondern an ihrer Seite vorbei, um sie nicht zu töten. Da sprach die erste der Ameisen zu ihm: »Warum bist du nicht mitten durch uns hindurch gezogen, sondern an der Seite vorbei?« Er antwortete: »Um euch keinen Schaden zuzufügen«. Da sprach die erste der Ameisen: »Für diese Rücksicht, die du auf uns genommen, gebe ich dir einen Flügel von mir; wann du meiner bedarfst, wirf ihn ins Feuer, dann werde ich sofort mit meinem Heere erscheinen«.
Endlich gelangten sie zu dem Schah von Persien. Der Jüngling ließ ihm sagen: »Ich bin gekommen, um die Braut des Pascha zu holen«. Da sprach der Schah: »Erst sollt ihr jeder dreihundert Schüsseln Speisen essen, und dann kannst du die Braut bekommen«. Nun sagte jener Bursche, der das Wasser getrunken hatte: »Sage ja, denn ich esse selbst alles auf«. Der Schah schickte für jeden dreihundert Schüsseln Speisen; und das übrige Heer aß zuerst, soviel jeder konnte; den Rest aber aß jener ganz auf und scheuerte die Schüsseln. Da ergriff den Schah Schrecken, und er sprach wieder: »Wenn einer von euch meine Reiter zu überholen und ihre Fahne zu nehmen vermag, dann kannst du die Braut bekommen«. Und der, welcher die Hasen gefangen hatte, sprach: »Erschrick nicht, denn ich nehme die Fahne«. Die Reiter kamen auf einen Platz hinaus und sagten zu jenen: »Macht euch bereit und besteiget eure Pferde«. Jene antworteten: »Wir brauchen keine Pferde«. Und der, welcher die Hasen gefangen hatte, sprach: »Reitet ihr voraus«. Sie ließen ihre Pferde rasch laufen, und der, welcher die Hasen fing, blieb ganz zuletzt zurück; dann stürzte er schnell los, überholte die, welche zu Pferde waren, und nahm ihnen die Fahne. Sie meldeten das dem Schah, und es ergriff ihn große Furcht. Und wieder gab er ihm seine Tochter nicht, sondern sprach zu ihm: »Ich habe einen Getreideboden voll Weizen, Gerste und Hirse; ihr sollt den Weizen, die Gerste und die Hirse, jedes für sich, herauslesen; ihr habt dazu drei Tage Frist, und dann gebe ich euch das Mädchen«. Da erschrak der Jüngling, weil er diese Arbeit nicht machen konnte; aber bald fiel ihm der Flügel ein, den ihm die erste der Ameisen gegeben hatte. Er warf denselben ins Feuer, und sofort kam die erste der Ameisen mit ihrem ganzen Heere an und sprach zu ihm: »Was verlangst du von mir?« Der Jüngling antwortete: »Ich will, dass du auf diesem Getreideboden Weizen, Gerste und Hirse, jedes für sich, auslesest«. Sie schickte sogleich die Ameisen hinein, und sie vollbrachten die Aufgabe in drei Stunden. Hierauf ließ er dem Schah sagen: »Gib mir jetzt das Mädchen, denn ich habe das Getreide gesondert«. Und der Schah erstaunte: »Ist es möglich, dass er in drei Stunden fertig geworden ist?« Sie gingen hin und schauten, und sieh, es war alles gesondert, wie es sollte. Da sprach der Schah: »Ich verlange von euch, dass ihr eine Flasche Wasser holt inmitten jener zwei Berge, welche an einander schlagen«. Jenes Wasser war von großer Heilkraft, indem es auch tote auferweckte, aber es war unmöglich, es zu holen. Nun fiel dem Jüngling die Flaumfeder des Adlerweibchens ein, er nahm sie, warf sie ins Feuer, und sogleich kam das Adlerweibchen und sprach: »Was willst du von mir?« Er sagte: »Ich will, dass du mir eine Flasche mit Wasser holst hinter jenen zwei Bergen, welche zusammenschlagen«. Das Adlerweibchen ging hin, holte das Wasser und gab es dem Jüngling; und sie schickten es dem Schah. Nun nahm der Jüngling die Braut, und sie kehrten nach ihrer Heimat zurück. Aber das Mädchen hatte ein wenig von diesem Wasser an sich genommen.
Sie näherten sich dem Hause des Pascha unter Gesang und Fröhlichkeit. Der bartlose hörte, dass sie kamen, ging ihnen entgegen und aus Zorn darüber, dass der Jüngling gesund und mit Ehren zurückkehrte, zog er sein Schwert und hieb ihn mitten durch; und der Jüngling fiel tot hin. Als der Pascha, hörte, dass der bartlose den Jüngling getötet hatte, den er sehr lieb hatte, wurde er aus Zorn fast närrisch. In dieser Nacht schlief er nicht bei seiner Frau, noch aß er Brot oder irgend etwas; aber da der bartlose sein Bruder war, wusste er nicht, was er ihm tun konnte; er durfte ihm bloß nicht vor Augen kommen.
Aber die Braut hatte den Jüngling mit jenem Wasser bestrichen, und er war wieder auferweckt worden, ohne dass der Pascha davon wusste. Am andern Morgen ging der Jüngling in das Haus des Pascha, aber sie wussten nicht, wer es sei. Und er sprach: »Ich will zum Pascha hinein, denn ich habe ihm etwas zu sagen, und ich will auch, dass seine Räte dort seien«. Da erwiderten ihm die Diener: »Es ist unmöglich, mit dem Pascha zu sprechen, denn er ist sehr zornig, weil sie ihm seinen Adjutanten getötet haben«. Der Jüngling sprach: »Ich will ihn auf jeden Fall sprechen«. Da sagten sie dem Pascha: »Ein Jüngling ist da, der mit deiner Herrlichkeit sprechen will«. Der Pascha befahl: »Lasst ihn herein«. Der Jüngling trat ein, begann zu sprechen und sagte: »Jemand, der ein Versprechen fürs Leben gibt, darf es nicht brechen?« Der Pascha und die Räte sagten: »Nein, er soll es nicht brechen«. »Und wenn er stirbt und wieder lebendig wird, dann gilt das Versprechen nicht mehr?« »Nein, dann hat das Versprechen geendigt.« »Und darum sage ich jetzt, was ich bei meinem Leben nicht gesagt habe; aber ich bin gestorben und wurde wieder erweckt, und ich sage, ich bin der Bruder des Pascha und dieser bartlose ist es nicht; aber ich hatte ihm das Versprechen gegeben, so lange ich lebe, es nicht zu verraten;« und er erzählte, was jener auf dem Wege an ihm getan hatte. Da freute sich der Pascha sehr, umarmte den Jüngling und veranstaltete ein großes Gastmahl; und er befahl einen Backofen zu heizen und ließ den bartlosen lebendig hineinwerfen. Und mir haben sie nichts gegeben.
Quelle:
(Gustav Meyer: Albanische Märchen)