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Die Sterndeutung

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Einst lebte ein Schäfer, der ein Weib und zwei Söhne hatte. Dieser Schäfer führte jeden Tag alle im Orte befindlichen Schafe auf eine, zwischen Bergen liegende Wiese und liess sie dort weiden. Gegen Abend trieb er die Schafe wieder zusammen und führte sie ihren Eignern zu. Diese gaben ihm dafür fünf bis zehn Para, wofür er sich Lebensmittel kaufte und diese seinem Weibe und seinen Kindern nach Hause brachte.
Eines Tages starb dieser Schäfer. Der schon ziemlich erwachsene Sohn übernahm die Beschäftigung seines Vaters, als ihm eines Tages auch die Mutter hinstarb. Der Junge grämte sich so über den Tod seiner Eitern, dass er in seinem Heimatsorte nicht bleiben konnte; er machte sich daher eines Tages auf den Weg und wanderte aus. Ohne zu zaudern ging er durch Berg und Tal, über Wald und Flur, bis er endlich die Stadt Bagdad erreichte. Als er sich in den Gassen der Stadt herumtrieb, erblickte ihn ein Mann, der an ihn folgende Fragen richtete: »Woher bist du, mein Sohn? Was machst du hier und wie heisst du?« Der Junge antwortete: »Ich kam aus einem fremden Lande hieher, suche mir irgend eine Beschäftigung und heisse Mahmud«. Als ihn der Mann fragte, ob er geneigt wäre bei ihm als Diener einzutreten, ging er darauf ein, worauf sie zusammen in’s Haus des fremden Mannes gingen.
Er hielt sich dort schon seit einigen Tagen auf, verrichtete alle möglichen häuslichen Arbeiten und war, um nur von seinem Herrn geduldet zu werden, ein sehr gehorsamer und treuer Diener seines Herrn. Eines Tages sprach sein Herr folgendes: »Mein Sohn, Mahmud. Nimm diesen Strick und diesen Sack in die Hand und machen wir uns auf den Weg.« Der Junge nahm den Strick und den Sack und sie traten nun ihre Wanderung an.
Nach langem Wandern erreichten sie den Fuss eines Berges. Dort befand sich ein Brunnen, und als sie die über dem Brunnen liegende Steinplatte entfernten, sagte der Mann: »Mahmud! Ich werde dich nun mittels dieses Strickes in diesen Brunnen hinunterlassen, du wirst dann den Sack mit allem, was du dort unten findest, anfüllen, dann wirst du ihn an diesem Stricke befestigen, worauf ich zuerst den Sack und dann erst dich heraufziehen werde.« »Es ist schon recht,« sagte Mahmud, indem er den Strick um seinen Leib band, und den Sack in die Hand nehmend, sich in den Brunnen hinunterliess. Dort am Grunde des Brunnens sah er eine Menge von Gold, Silber, Diamanten und Perlen; er füllte damit den Sack und befestigte diesen am Stricke Der Mann zog den Strick mit dem Sacke in die Höhe, dann nahm er den Stein, legte diesen auf die Öffnung des Brunnens und ging nach Hause; den Jungen hingegen liess er dort.
Als dieser am Grunde des Brunnens hin und her ging, erblickte er einen kleinen schmalen Weg. Er ging nun in der Richtung des Weges so lange, bis er zum Saume eines Tales gelangte. Dort setzte er sich ein wenig nieder, ruhte sich aus und dachte darüber nach, wieso er die Schlechtigkeit jenes Menschen heimzahlen könnte. Darauf setzte er seinen Weg fort und erreichte, indem er sich mittlerweile umkleidete, wieder die Stadt. Als er sich dort herumtrieb, erblickte ihn wieder jener Mann, der ihn beim Brunnen so schmählich verliess. Dieser erkannte seinen ehemaligen Diener nicht mehr und sprach ihn also an: »Woher bist du, mein Sohn?« Der Junge gab sich nicht zu erkennen und sagte, er sei von dort und dort; man habe ihn, als er sich als Kaufmann in einen anderen Ort begeben wollte, unterwegs seiner Habe beraubt, ihm sein Geld und sein Vermögen weggenommen und er suche sich nun als armer Mensch eine Stelle. »Möchtest du zu mir kommen?« fragte ihn der Mann. »Mit Vergnügen,« sagte der Junge, und auf die Frage, wie er heisse, antwortete er: »Mein Name ist Hasan.« Dann gingen beide in das Haus des Mannes und er blieb dort.
Nach Verlauf von fünf bis zehn Tagen, sagte der Herr des Jungen folgendes zu ihm: »Hasan! Nimm diesen Strick und diesen Sack zur Hand, wir gehen irgendwo hin.« Der Junge nahm den Strick und den Sack und sie gingen abermals zum Brunnen. Dort sprach der Mann also: »Ich werde dich hinuntersenken und du wirst diesen Sack mit dem, was du unten im Brunnen findest, anfüllen.« Darauf sagte der Junge folgendes: »Unverschämter Mensch! Einmal hast du mich schon hintergangen, jetzt hättest du wieder Lust mich da drinnen im Brunnen zu lassen, nicht wahr?« Nach diesen Worten nahm er aus seinem Gürtel ein Messer hervor, schnitt damit den Kopf des Menschen ab und warf ihn in den Brunnen. Darauf deckte er mit der Steinplatte den Brunnen wieder zu und ging in die Stadt zurück. Dort mietete er ein Haus, richtete sich ein, verheiratete sich, veranstaltete grosse Hochzeitsfeierlichkeiten und führte ein glückliches Leben. Auch das im Brunnen gefundene Gold und Silber liess er sich in sein Haus bringen und wurde dadurch ein so reicher Mann, dass er die Grosse seines Vermögens garnicht übersehen konnte.
In derselben Zeit geschah es, dass der Padischah der Stadt einem anderen Padischah den Krieg erklärte. Ersterer litt an Geldmangel und man begann von allen Seiten Geld zu sammeln. Da nun Mahmud sehr reich war, so streckte er soviel Geld vor, als man nur von ihm verlangte. Infolge dieser Geldmacht besiegte nun der Padischah seinen Feind. Da ereignete es sich, dass der Padischah eines Tages starb. Die Landesgrössen hielten nun eine Sitzung und wollten Mahmud als den Reichsten der Stadt zum Padischah wählen. Sie beratschlagten so lange, bis sie ihn wirklich wählten und so wurde aus Mahmud ein Padischah. Dann hielten seine Wezire eine Sitzung und beschlossen nach längerer Besprechung, dass sie für den Padischah, der des Lesens und Schreibens unkundig war, einen Hodscha aufnehmen werden, der ihn im Lesen und Schreiben unterweisen wird Sie bestellten infolgedessen einen Hodscha, der den Unterricht begann.
Eines Tages sprach der Hodscha: »Padischah, ich muss dich in der Sterndeutung unterrichten.« Da erwiderte der Padischah: »Was für eine Wissenschaft ist diese Sterndeutung und welchen Nutzen werde ich daraus haben? Lernen wir lieber etwas anderes.« Worauf der Hodscha folgendes sagte: »Draussen neben dem Stiegenhaus liegt ein Buch, bringe es her, ich werde dir dann sagen, was die Sterndeutung ist.« Der Padischah nahm darauf eine Kerze und als er wegen des Buches hinausging, sah er, dass neben der Stiege wirklich ein Buch lag. Er stellte darauf die Kerze auf die Erde und als er das Buch in die Hand nahm, kam plötzlich ein Vogel herbeigeflogen, packte den Padischah und flog mit ihm fort. Sie flogen nun eine geraume Zeit weiter, bis sie sich endlich irgendwo niederliessen; der Vogel liess jedoch den Padischah stehen und flog für sich fort.
Der Padischah blieb zu seiner grossen Bestürzung auf seinem Platze, und als er gegen Morgen ringsherumblickte, da bemerkte er, dass er sich in der Nähe eines Friedhofes befand. Er stand dann auf und ging in eine Stadt und indem er daselbst hin und her streifte, fragte er die Vorübergehenden, ob sie nicht wissen, in wie vielen Tagen man Bagdad erreiche. Niemand konnte ihm Auskunft erteilen und es fand sich niemand, der etwas von einer Stadt Bagdad gehört haben wollte. Er ging daher weiter und als er wieder einige Menschen fragte, da sprach ein sehr alter Mann: »Ich weiss zwar nicht, wo Bagdad ist, aber der Vater meines Grossvaters war vor etwa zweihundert Jahren dort, Dies habe ich von meinem Vater gehört, aber wie weit die Stadt von hier entfernt ist, das weiss ich nicht.« Als der Padischah dieses hörte, da seufzte er auf, indem er glaubte, dass er Bagdad nie mehr erreichen werde. Nach und nach fügte er sich aber in sein Schicksal, ging in ein Kaffeehaus, setzte sich nieder, trank seinen Kaffee und rauchte Tschibuk. Als er aber aufstand und den Kaffee bezahlen wollte, da fand er seine Geldbörse nicht in der Tasche. Er sagte dies erst dem Kaffeesieder, ging dann zu dem Friedhof hin, wo er sich früher aufgehalten hatte, suchte dort sein Geld, fand es aber nicht. Da kehrte er in’s Kaffeehaus wieder zurück, wo ihm der Kaffeesieder den Rat erteilte, den Bedestan aufzusuchen, dort befände sich ein Mann, der ihm das Geld wieder finden wird.
Der Padischah machte sich auf den Weg, fand den betreffenden Mann, dem er dann den Fall erzählte. Auf die Frage des Mannes, wie die Börse aussah, antwortete der Padischah: »Die Börse war rötlich und bläulich.« Darauf öffnete der Mann einen Kasten und entnahm demselben die Börse des Padischah. »Ist es diese?« fragte er ihn. »Jawohl, das ist meine Börse,« sagte er, indem er diese in Empfang nahm und darüber nachdachte, wieso seine Börse zu dem Manne gelangte; da ihm aber die Stadt gefiel, so entschloss er sich dort zu bleiben.
Nachdem er sich dort eine Zeit aufgehalten hatte, da ging er eines Tages wieder in’s Kaffeehaus und sagte dem Kaffeesieder, er habe die Absicht zu heiraten und ob er ihm nicht eine anständige Frau empfehlen könnte. »Willst du ein Mädchen oder eine Witwe?« fragte ihn der Kahwedschi. »Mir ist es gleichgiltig, ob Mädchen oder Witwe, nur anständig soll sie sein,« sagte der Padischah. Darauf schickte ihn der Kaffeesieder wieder in das Bedestan und sagte ihm, es wäre dort ein Mann, der ihm eine passende Frau verschaffen wird. Mahmud suchte den Mann sofort auf und bat ihn, ein für ihn passendes Weib zu suchen. Darauf öffnete der Mann sein Defter und sagte, er hätte für ihn dort und dort eine anständige Witwe. Dann schrieb er etwas auf ein Papier auf und übergab es dem Mahmud mit dem Auftrage, es zum Imam zu bringen, der ihm dann die Frau übergeben werde.
Mahmud übernahm das Papier und trug es zum Imam, der folgendes sprach: »Es ist alles in Ordnung, wenn du aber die Frau geheiratet haben wirst, dann darfst du dich in Allahs Angelegenheiten nicht mengen; denn wenn du es ja tust, ist alles verloren«. Darauf verlobte er ihn mit der Frau und führte ihn gegen Abend in ihr Haus, wo er die Nacht verbrachte.
Am anderen Tage nahm die Frau hundert Goldstücke, übergab sie ihrem Manne und sprach also zu ihm: »Nimm dieses Geld und eröffne dir damit ein Geschäft; du darfst jedoch die Ware nur um den Einkaufspreis und keinesfalls teurer verkaufen.« Mahmud befolgte die Mahnung seiner Frau, errichtete sich im Bedestan ein Geschäft, kaufte allerhand Waren zusammen und begann diese zu verkaufen; für das Geld jedoch, das ihm als Erlös der verkauften Waren bis Abend zufloss, kaufte er dann Lebensmittel ein, und davon lebte er zu Hause mit seiner Frau.
So lebten sie von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr, bis eines Tages im Geschäfte gar keine Ware übrig blieb und auch das Geld gänzlich ausging. »Was sollen wir nun machen?« fragte er seine Frau. Die Frau öffnete darauf einen Schrank, entnahm demselben einen Sack und nachdem sie aus diesem hundert Goldstücke herausholte, sprach sie also: »Hier sind die hundert Goldstücke, die ich dir gegeben hatte, kaufe dafür abermals, was du willst und verkaufe es wieder.« Darauf sagte Mahmud: »Aber, liebe Frau! Was ist hier geschehen? Das, was ich für die hundert Goldstücke eingekauft hatte, habe ich doch für dasselbe Geld wieder verkauft; und das durch den Verkauf eingeflossene Geld haben wir doch verzehrt und du sprichst dennoch immer von diesen hundert Goldstücken? Wie ist das möglich?« Darauf erwiderte die Frau: »Das ist Allahs Sache, darin können wir uns nicht mengen.« Ihr Mann setzte ihr aber sehr zu und fragte sie, wer ihr diese Goldstücke gebracht habe und wieso dies möglich ist. Darauf öffnete die Frau das Fenster und schrie folgendes in die Gasse hinaus: »Liebe Nachbarn, kommet einmal hieher, mein Mann will sich in Allahs Angelegenheiten mengen.«
Infolge ihres lauten Ausrufens und Geschreies eilten die Nachbarn, jeder mit einem Stock bewaffnet, herbei und schlugen auf Mahmud derartig los, dass dieser die Flucht ergreifen und die Stadt verlassen musste. Während seiner Flucht kam wieder der Vogel herbeigeflogen, ergriff ihn, trug ihn mit sich fort und setzte ihn wieder bei jener Stiege ab, wohin ihn der Hodscha geschickt hatte, um das Buch zu holen. Als der Padischah sich nun umschaute, da bemerkte er, dass sich die Kerze eben dort und in demselben Zustande befand, als zu jener Zeit, da er das Buch abholte. Er nahm das Buch, ging damit in sein Zimmer und übergab es dem Hodscha. »Lange bist du ausgeblieben,« sagte ihm der Hodscha. Darauf erzählte ihm der Padischah, was mit ihm seither geschehen ist. »Nun siehest du«, sagte ihm der Hodscha, »das ist die Wissenschaft der Sterndeutung.«
Der Padischah kam nach diesen Worten zu Besinnung und küsste dem Hodscha die Hand, dann begannen sie zu lernen und verbrachten ihre Zeit mit Lesen und Schreiben.

[Asien: Türkei. Märchen der Welt]

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