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Der Streit der Glieder des Menschen

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Einst in alten Zeiten hub ein gewaltiger Streit an. Mund, Augen, Ohren, Nase, Herz, Hände und Füße zankten sich, wer von ihnen dem andern im Range über wäre. Sie konnten bei ihren Streitereien kein Ende finden.
Das Auge sprach: »Ich bin der erste, denn ich nehme alles eher wahr als ihr.« »Nein,« meinte das Ohr, »ich bin der erste, denn ich höre alles zuerst.« Sagte die Nase: »Du irrst, lieber Freund, ich bin der erste, denn ich rieche alles zuerst.« Doch der Mund erwiderte: »O nein, ich bin der erste, weil ich alles esse.« Hierauf mischte sich die Hand ein und sagte: »Liebe Freunde, ihr täuscht euch, ich bin der erste. Nehme ich nicht von euch allen die Dinge zuerst in Empfang?« – »Nein, nein, mein Lieber,« sprach der Fuß, »ich bin der erste unter euch all‘ zusammen, ich gehe ja umher; überall, wohin man mich schickt, gehe ich und mühe mich auf dem Wege ab.«
Das Herz verhielt sich ganz ruhig; es saß in der Brust und schwieg. Es hörte nur auf die Worte und war neugierig, wohinaus sie noch wollten und was sie zum Schlusse sagen würden. Die Sechse zankten sich den ganzen lieben Tag, niemand wollte dem andern den Vorrang lassen; neun Tage und neun Nächte währte der Streit; jeder hoffte, daß der andere endlich nachgeben würde. Aber sie waren sämtlich Dickköpfe, jeder blieb bei seiner Ansicht.
Endlich, als der Lärm und das Gezänk kein Ende nehmen wollten, hatte das Herz davon genug. Es erhob seine Stimme und redete: »Auge, Nase, Ohr, Mund und Hand, von euch Füßen will ich vorerst noch absehen, euch will ich jetzt die Wahrheit sagen. Was ihr redet, ist Unsinn; ich bin der erste unter euch, und nach mir kommen die Füße. Ich bin der erste, denn durch mich erhaltet ihr eure Bewegung. Schlägt das Herz nicht, hat es auch mit euch keine Art. Sobald ich mich rege, folgen die Füße nach, dann die Arme und dann auch du, Mund. Du, Auge, brauchst nur zu sehen, zu weiterm bist du nicht nütze. Du, Ohr, taugst nur zum Hören; zu nichts anderm; ebenso nützst du, Nase, nur durch dein Riechen; und du, Mund, machst dich nur durch’s Essen nützlich. Wenn ich nicht arbeite, bewegt sich kein Fuß, nimmt keine Hand etwas auf, und dann bekommst du, Mund, kein Essen. Nur wenn ich mich bewege, kommen die Füße ins Gehen, und erst wenn die Hand etwas aufgenommen hat, kannst du, Mund, essen. Deshalb bin ich unter euch der erste. Ich mache den Anfang, dann könnt Ihr euer Tagewerk beginnen. Aber wenn ich mich nicht rühre, dann bleibt auch ihr in Ruhe; und wenn ich mich bewege, dann bewegt ihr euch ebenfalls. Wenn ihr euch schon zankt, ich bleibe doch der Älteste, Erste und Vornehmste.«

[Paul Hambruch, Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde, Märchen der Welt]

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