Ein alter Mann hatte einen einzigen Sohn namens Opitschi, der war gerade in dem Alter, in dem der allgemeine Brauch verlangte, sich durch Fasten eines Schutzgeistes für das weitere Leben zu versichern.
Der Vater bildete sich viel auf seinen Knaben ein, und da er sehr ehrgeizig war, so hoffte er ihn durch außergewöhnlich langes Fasten dereinst zu einem berühmten Mann zu machen, der alle seine Vorfahren an Weisheit und Tapferkeit überträfe. Er baute ihm also für den betreffenden Zweck eine kleine Hütte, führte ihn hinein und sagte zu ihm: »Mein Sohn, sei standhaft in dieser heiligen Zeit, damit sich ein mächtiger Manitu deiner erbarme! Nach zwölf Tagen werde ich dir nahrhafte Speisen und meinen Segen bringen!«
Opitschi legte sich ruhig hin, kehrte sein Gesicht der Erde zu und wartete geduldig auf beglückende Träume. Sein Vater besuchte ihn regelmäßig jeden Tag und redete ihm von seinem künftigen Ruhm allerlei schmeichelhafte Dinge vor, damit er seine Leiden vergäße. Der Knabe sagte kein Wort dazu; doch am Morgen des neunten Tages, als ihn Hunger und Durst schon halb getötet hatten, seufzte er: »Ach Vater, meine Träume bedeuten nichts Gutes; laß mich aufhören zu fasten.«
Der Vater aber hatte ein Herz aus Stein und beschwor ihn, zu gehorchen und noch weitere drei Tage auszuhalten. Traurig nickte ihm Opitschi zu und verhüllte sein Gesicht.
Am Abend des elften Tages wiederholte er nochmals seine Bitte, und zwar so leise, daß sie der Vater kaum hören konnte; aber er mußte gehorchen. Er lag da wie ein Toter, und nur ein schwaches Atmen zeigte, daß der Lebensfunke noch nicht ganz in ihm erloschen war.
Als am folgenden Morgen der Vater wiederkam, hörte er, wie sein Sohn laut mit sich selbst sprach. Er schlich sich daher leise vor die Tür und sah durch eine Ritze, wie er sich den Hals mit roter Farbe bemalte, wobei er seufzte: »Mein Vater hat mein Glück als Mensch zerstört; nur er allein ist der Verlierer und der Leidende, denn er setzte meinen Bitten taube Ohren und ein kaltes Herz entgegen. Aber ich bin ihm gehorsam gewesen, und dafür werde ich auch in meinem neuen Stand recht glücklich sein. Mein Schutzgeist ist mächtig und gerecht.« Darauf flog Opitschi wie ein Vogel auf die höchste Stange seines Wigwams, verwandelte sich in ein Rotkehlchen und rief seinem unglücklichen Vater zu: »Bedaure nicht, was du getan hast! Ich werde stets der Freund der Menschen sein, werde mich stets in ihrer Nähe aufhalten, sie mit meinem Gesang erfreuen und ihnen Frieden und Freude bringen!«
Darauf schwang es seine Flügel und flog lustig ins nächste Wäldchen.
Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas