Hoch oben am nördlichen Ufer des Huronsees lebte ein altes Weib mit ihrem Sohn und dessen Frau nebst einem kleinen Waisenknaben, den sie aus Mitleid angenommen hatte. Ihr Sohn ging tagtäglich auf die Jagd und brachte seiner Gemahlin stets fette Hirschlippen, wohlschmeckende Bärennieren und sonstige Leckerbissen mit, die sie sich dann braun und hart röstete. Diese zärtliche Aufmerksamkeit war aber der Alten ein Dorn im Auge, und sie beschloß daher, ihre Schwiegertochter umzubringen.
Nahe am Seeufer stand ein großer Baum, an dem sie mit langen Lederriemen eine Schaukel befestigte. Dort setzte sie sich nun hinein und befahl der jungen Frau, sie hin und her zu stoßen, was diese auch, nachdem sie ihren Säugling dem Waisenknaben zur Aufsicht übergeben hatte, bereitwilligst tat. Danach mußte sie sich ebenfalls hineinsetzen, und als die Schaukel recht weit über den See hin und her flog, schnitt die heimtückische Schwiegermutter plötzlich die Riemen ab, und das Opfer ihrer List stürzte hinab in die brausenden Wellen.
Nun ging sie vergnügt nach Hause, zog dort die zurückgelassenen Kleider der Unglücklichen an, ahmte ihren Gang und ihre Manieren so gut sie konnte nach und suchte das Geschrei des Säuglings mit ihrer milchlosen Brust zu stillen. Als der Waisenknabe darauf nach der Mutter des Kindes fragte, sagte sie ihm, daß diese noch schaukele; sie verbot ihm aber gleichzeitig, hinzugehen und nachzusehen.
Am Abend kam der Jäger nach Hause, und da er bei der schlechten Beleuchtung seines Wigwams die Alte für seine Frau hielt, übergab er ihr seiner Gewohnheit nach die mitgebrachten Leckerbissen. Was ihm jedoch etwas auffiel, war, daß seine Frau ihr Gesicht soviel wie möglich zu verbergen suchte und daß das Kleine nicht ruhig war, obwohl sie es ständig an die Brust hielt.
Der Waisenknabe war inzwischen zum Seeufer gelaufen, hatte aber niemanden dort gesehen, und da bei seiner Rückkehr die Alte ausgegangen war, um Holz zu sammeln, erzählte er dem Jäger die ganze Geschichte. Dieser schwärzte sein Gesicht, steckte seinen Jagdspieß in die Erde und flehte den Großen Geist an, Donner, Blitz und Regen zu schicken und den Wellen zu befehlen, seine arme Frau wieder an Land zu spülen. Dann legte er sich stumm zum Fasten nieder.
Als seine Frau ins Wasser gefallen war, hatte sie der große Wasserjaguar in Empfang genommen, sie mit seinem langen Schwanz in die Tiefe seiner Wohnung hinabgezogen und dort geheiratet.
Nun begab es sich einst, daß der Waisenknabe das kleine Kind ans Ufer setzte und zu seiner Belustigung flache, runde Steine ins Wasser warf, als plötzlich ein großer Wasservogel aus den Wellen tauchte, dann dem Land zuflog und dabei immer mehr und mehr die Gestalt einer Frau annahm, in der er zuletzt die Mutter des Kleinen erkannte. Um ihre Lenden hatte sie einen großen metallenen Gürtel; dies war nämlich der Schwanz ihres Jaguargemahls, an dem er sie festhielt, damit sie nicht etwa auf der Erde zurückbliebe. Die Frau nahm ihr Söhnchen auf den Arm, säugte es und sagte dem Knaben, er solle es jedesmal, wenn es schreie, ans Ufer bringen, dann würde sie kommen und es stillen.
Dies erzählte der Knabe seinem Pflegevater, und als das Kind wieder schrie, ging er heimlich mit und verbarg sich hinter einem dicken Baumstamm. Nachdem seine Frau herausgekommen war, sprang er schnell aus seinem Versteck hervor, zerschnitt den Gürtel, an dem sie der Wasserjaguar festhielt, und nahm sie mit nach Hause.
Als dies die Alte, die ihrem Sohn immer auf Weg und Steg nachschlich, sah, machte sie sich so schnell wie möglich über alle Berge, und es hat seit jener Zeit niemand mehr eine Spur von ihr gesehen.
Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas