Mitleidige Menschen nahmen die fremde Waise zu sich, und mit den Jahren wurde aus dem Knaben ein Jüngling. Das schönste Mädchen des Dorfes fand an ihm Gefallen, und sie liebten einander so sehr, daß es schon sündhaft war, mehr als Gott und die ewige Seligkeit. Der Jüngling wollte das Mädchen heimführen, und darum mußte er sich entschließen, auf ihren Anblick für einige Tage zu verzichten, um zu dem eine Tagreise entfernt wohnenden Pfarrer zu gehen und das Nötige zu vereinbaren. In jenem Orte war er noch niemals früher gewesen, und als er an der Kirche vorüberkam, erfaßte ihn die Neugierde. Eben wollte er die Kirchenschwelle überschreiten, als der Meßner, sich umwendend, gegen ihn das Rauchfaß schwang. Da fühlte er sich wie von hinten gepackt und niedergerissen. Als die Leute zu ihm traten, war er tot.
Das Mädchen schlug sich bei der Todesnachricht auf die Brust und riß sich mit den Nägeln das Gesicht blutig. Herzzerreißend waren die Klagegesänge, in denen sie vierzig Tage und vierzig Nächte lang um den Entschwundenen jammerte. Unaufhörlich rief sie ihn herbei und wünschte bei ihm im Grabe zu liegen. Am vierzigsten Abende ging das Mädchen noch zu später Stunde Wasser holen. Sie rief seinen Namen sehnsuchtsvoll in die Nacht hinaus, und wie sie zu dem Brunnen kam, fand sie ihren Liebsten in ein weißes Leichentuch gehüllt im Mondenscheine am Trogrande sitzen.
»Du Gute, Liebe«, sprach er zu ihr, »da du mich so herbeisehnst, so bin ich gekommen und will dich nun mit mir nehmen.« Und er griff mit seiner Hand, die so leicht und kühl war, wie ein Blumenblatt, nach der ihren und führte sie auf eine Anhöhe. Dort wellte sich der Rasen über schmale, flache Erdhügel mit niedrigen Holzkreuzen, und zwischen diesen standen über den Schollenhaufen Jüngstverstorbener, junge, hohe Birkenstämme, von welchen die bunten Tränentüchlein, die letzten Liebesgaben, im Winde flatterten.
Eines dieser Gräber stand weit offen, und wie im Traume sah das Mädchen hinab. Sie sah weite Räume, die alles enthielten, was zu einem guten Hausstande gehört, schöne Stuben und volle Kammern, so voll wie ein Kaufladen. »Komm‘!« sagte er und wollte sie umfassen. »Nicht doch«, wehrte sie sanft; »morgen will ich kommen, samt meiner Ausstattung, samt allem, was ich für uns gesponnen und gewebt habe. Es tut nicht gut, mit leeren Händen in des Mannes Haus einzuziehen.« – Er wollte zuerst nicht nachgeben, aber sie weinte und flehte. »Gut denn«, sagte er endlich, »aber morgen ist Hochzeit und wenn Himmel und Erde uns trennen wollten.« Da krähte ein Hahn und das Mädchen stand allein zwischen den stummen Gräbern.
Wieder zog der Vollmond herauf. Das Mädchen saß still an dem Fenster ihrer Stube mit weit geöffneten, trockenen Augen. Jetzt schwebte sie heran, die weiße Gestalt, bis an das Fenster. »Komm‘!« sagte er winkend, »komm‘! Gar schnell verfliegt solch eine Nacht.« – »Lasse mich nur noch mein Hochzeitsgewand anlegen«, flehte sie. Bebend entnahm sie der Truhe die gestickten Leinengewänder, die reich gezierten Überkleider, den blinkenden, klirrenden Münzenschmuck und legte alles an, nahm dann eine dicke Rolle feines Linnen in den Arm und trat hinaus. Er ergriff ihre Hand, und es war ihr, als ob sie der Abendwind durch die stille Nacht dahintrüge.
»Hej, hej!« rief er jauchzend; »Musikanten herbei!« Es erstanden vor ihnen vierundzwanzig Zigeuner mit Geigen und Tamburin, Schellen und Pfeifen, und hüpfend zog die lustige Schar voran. Und noch lustiger war der Bräutigam:
»Ist dir wohl bang, oh Liebchen mein,
In stiller Nacht mit mir allein? …«
sang er übermütig hinaus in das flimmernde Schweigen, worauf sie erwiderte:
»Und führst du in die Hölle mich,
Ich will nichts weiter sonst als dich.«
So kamen sie bis an das geöffnete Grab. »Steig hinab«, befahl er kurz. Es ward plötzlich totenstill ringsum, und es überfiel sie wie ein Schauer. »Weise mir den Weg«, bat sie zagend »und reiche mir dann die Hand!« Er sank hinab, legte sich nieder und streckte sich aus. »Ach!« wehte es aus dem Grabe herauf, – ein langer, banger Seufzer, der durch die Bäume des Friedhofs strich, daß sie sich neigten und wisperten. »Komm, ach komm, Liebste«, flehte er, »komm!« schrie er gequält auf. Sie kniete am Rande des Grabes nieder und beugte sich hinab. Das Mondlicht lag auf ihm, durchdrang das Leichentuch und sie sah den grinsenden Totenkopf, die fletschenden Zähne … Er streckte die Knochenarme nach ihr aus, und sie reichte ihm zuerst die Linnenrolle hinab. Gierig griff er danach. Seine Knochenfinger krallten sich in das Ende des Gespinnstes und zerrten daran. Da erfaßte das Mädchen Grauen und entsetzt floh sie hinweg. Und die Linnenrolle, die sie nicht losließ, wickelte sich ab auf der eiligen Flucht.
Als sie die Türe ihres Hauses erreicht hatte, ertönte ein Hahnenschrei: »Kukuriku-u-u! …« Das Linnen war aufgerollt, und sie brach zusammen.
Am nächsten Morgen fanden die Nachbarn das bräutlich geschmückte Mädchen entseelt vor ihrer Türe, auf dem Ende des Linnens liegend. Wie eine schmale, weiße Straße führte dieses hinauf auf den Friedhofshügel zu des Jünglings Grab, über dem vom schwankenden Birkenstamme der rote Brautschleier des Mädchens im Frühwinde wehte.
Quelle:
(Bosnien: Milena Preindlsberger-Mrazovic: Bosnische Volksmärchen)