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Die kleine Fee

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Es waren einmal ein König und eine Königin, die hätten einen Sohn. Als er mannbar geworden war, ließen sie ihn nach alter Sitte taufen und ihm das Haar stutzen. Zu diesem Anlaß veranstalteten sie ein großes Fest und luden die angesehensten Leute des Königreiches ins Schloß ein. Die Diener entzündeten viele tausend Kerzen, deren Licht sich in dem goldenen, silbernen und edelsteinbesetzten Eßgeschirr spiegelte. Am Abend tanzten die Jungfrauen, eine schöner als die andere, im Garten einen Reigen, und alle warfen dem Prinzen feurige Blicke zu, so daß er nicht wußte, in welche er sich verlieben sollte. Um Mitternacht, als die Gäste heimgekehrt waren, ging der Prinz gedankenversunken in den alten Lindenhain, der in der Nähe des Schlosses stand. Der Mond schien, es war taghell, die dicken Stämme der alten Bäume warfen schwarze Schatten, und dazwischen malte das Mondlicht wunderliche Muster auf Gras und Laub. Die Linden blühten, und die Luft war erfüllt von sinnverwirrendem Wohlgeruch. Der Königssohn ging über das weiche Gras, bis er unversehens zu einer Waldwiese kam. Dort stand im Mondenschein eine kleine Fee, angetan mit einem goldbestickten weißen Festgewand. Ihr Lockenhaar fiel bis auf die Schultern, auf dem Kopf trug sie eine güldene Krone, mit funkelnden Edelsteinen besetzt. Und winzig war sie wie eine Puppe.
Der Prinz blieb stehen und schaute sie wie verzaubert an. „Schöner Prinz!“ redete sie ihn mit zarter, glockenklarer Stimme an. „Auch ich war zu deinem Fest geladen, aber ich wagte nicht zu kommen, weil ich allzu winzig bin. Nun aber will ich dir meine Glückwünsche im Mondenschein darbringen, sein Licht soll uns die Sonnenstrahlen ersetzen.“ Die kleine Fee entzückte den Prinzen so sehr, daß er zu ihr hinging und nach ihrer Hand griff. Doch sie riß sich los und verschwand. Nur ein Fäustling blieb ihm in der Hand, so winzig, daß er ihn nur mit Mühe auf den kleinen Finger schieben konnte. Betrübt kehrte er ins Schloß zurück und erzählte keinem, was er im Lindenhain erlebt hatte.
In der folgenden Nacht ging er wiederum dorthin und spähte im hellen Mondenschein überall nach der kleinen Fee aus. Aber sie war nirgendwo zu entdecken. Da holte er den winzigen Fäustling traurig aus der Tasche und küßte ihn. Und im selben Augenblick stand die Fee vor ihm. Vor Freude hüpfte ihm das Herz, sie setzten sich ins weiche Moos, und während sie bei Mondenschein fröhlich miteinander plauderten, sah der Prinz zu seiner Verwunderung, daß die kleine Fee merklich größer wurde. Als sie sich voneinander verabschiedeten, war sie doppelt so groß wie in der vergangenen Nacht. Nun paßte ihr der Fäustling nicht mehr, und sie gab ihn dem Prinzen zurück. „Behalte ihn als Pfand und hüte ihn gut!“ sprach sie und verschwand. „Ich werde deinen Fäustling an meinem Herzen tragen!“ rief er ihr nach.
Seitdem traf sich der Prinz mit der kleinen Fee allnächtlich im Lindenhain, und tagsüber, wenn die Sonne schien, irrte er ruhelos umher und sehnte sich nach der Nacht. Seine Liebe zu der kleinen Fee wuchs unablässig, und im gleichen Maße wurde sie unablässig größer, bis sie in der neunten Nacht die Größe des Prinzen erreicht hatte. „Jetzt kann ich dich in deinem Schloß besuchen!“ sagte sie fröhlich mit ihrer klaren Stimme. „O nein, Geliebte, du sollst immer bei mir bleiben, du sollst mein Weib, meine Königin werden!“ — „Mein Liebster“, erwiderte sie, „ich bin damit einverstanden, aber du mußt mir versprechen, dein Leben lang nur mich zu lieben.“ — „Aber natürlich!“ rief der Königssohn. „Nie mehr werde ich eine andere anschauen.“ — „Gut. Aber merke dir, ich werde nur so lange die Deine bleiben, wie du dein Wort hältst.“
Drei Tage später machten sie Hochzeit, und alle Gäste bewunderten die liebliche Braut.
Sieben Jahre lang lebten sie glücklich miteinander. Dann starb der alte König. Zur Beerdigung kamen unzählige Menschen, und die schönsten, vornehmsten Frauen des Königreiches weinten an seinem Grabe. Unter ihnen befand sich auch eine schwarzäugige Schöne mit rotem Haar. Sie betete nicht zu Gott, sie vergoß keine Träne, sondern sah den jungen Prinzen nur unverwandt an. Das merkte er und freute sich darüber. Während der Leichenzug zum Friedhof zog, blickte sich der Königssohn, der seine Frau am Arm führte, dreimal nach der schwarzäugigen Schönen um. Plötzlich stolperte seine Frau über ihr Kleid und fiel fast zu Boden. „Oh, schau, mein Kleid wird mir zu lang!“ rief sie. Und das war die Wahrheit. Aber der Königssohn merkte nicht, daß es daran lag, weil seine Frau kleiner wurde.
Nachdem sie den alten König zu Grabe getragen hatten, wandelten sie ins Schloß zurück. Die schwarzäugige Schöne ging unmittelbar hinter dem Prinzen, und er blickte sich ständig nach ihr um. So merkte er nicht, daß seine Frau sich wieder in eine kleine Fee verwandelte. Und als sie an dem Lindenhain vorüberkamen, verschwand sie. Nun nahm der Königssohn die schwarzäugige Schöne mit dem roten Haar zur Frau. Aber er erlebte nur drei Tage lang mit ihr ein ungetrübtes Glück. Danach verlangte sie von ihm, daß er ihr ein diamantenes Bett und andere ausgefallene Dinge kaufen sollte. Erfüllte er ihre Wünsche nicht, dann plärrte und zeterte sie. So habgierig war sie, daß er sie bald wieder davonjagte. Erst jetzt begriff er, was er sich eingebrockt hatte, und sehnte sich nach seiner ersten Gemahlin, der gütigen, sanften Fee, zurück. Wieder ging er bei Mondenschein in den Lindenhain, rief nach ihr, suchte sie allüberall und beschwor sie unter bitteren Tränen, ihm zu erscheinen, zu ihm zurückzukehren. Die Jahre vergingen, er wurde alt und grau, und immer noch streifte er bei Mondenschein durch den Lindenhain und rief nach seiner Fee. Doch sie kehrte niemals mehr zu ihm zurück.

Quelle:
(Märchen aus Jugoslawien)

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