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Wie der Zigeuner den Riesen übertölpelte

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Im Waldesdickicht stand eine verlassene Mühle. Seit langer Zeit wohnte dort niemand mehr, auch wagte keiner, dort sein Korn zu mahlen, denn das Gerücht ging, daß es in der Mühle spukte. Eines Tages stahl ein Zigeuner irgendwo einen Sack Mais, und als er überlegte, wo er den Mais mahlen könnte, ohne dabei ertappt zu werden, fiel ihm die Mühle im Walde ein. „Pack mir Brot und Käse in den Quersack, ich will nachts in die Mühle gehen und den Mais mahlen“, sagte er zu seiner Frau. Schlich auch um Mittenacht zur Mühle hin, zündete einen Kienspan an, verschloß die Tür und machte sich an die Arbeit.
Zufällig kam ein Riese vorbei, der hörte die Mühlräder klappern, wurde neugierig, und klopfte an die Tür. „Mach auf!“ — „Ich denke nicht daran!“ antwortete der Zigeuner von drinnen. „Wenn du nicht aufmachst, drücke ich das Dach über dir ein!“ brüllte der Riese. Da griff sich der Zigeuner seinen Käse, schob ihn durch ein Loch in der Mauer und preßte ihn mit der Faust derart zusammen, daß der Saft heraustropfte. „He, du Flegel!“ rief er lachend. „Siehst du, wie das Wasser aus diesem Stein tropft? Soll ich dir deine Eingeweide ebenso auspressen?“ Der Riese erschrak. „Warum bist du gleich so wütend?“ brummte er versöhnlich. „Wir können doch im Guten miteinander auskommen, ich bin auch nicht der Schwächsten einer.“ Daraufhin öffnete ihm der Zigeuner die Tür, sie setzten sich zusammen und prahlten mit ihren Heldentaten, bis der Morgen graute.
Schließlich bekam der Riese Hunger. „He, Zigeuner!“ sagte er. „Was wollen wir frühstücken?“ — „Ich hab, was ich brauche, du. mußt schon für dich allein sorgen“, antwortete der Zigeuner. „Na, schön, dann will ich versuchen, irgendwo einen Ochsen aufzutreiben. Der reicht notfalls für zwei. Hole du inzwischen Brennholz, damit wir ihn braten können.“ Er holte von der nächstgelegenen Weide einen Ochsen, schlachtete ihn, zog ihm das Fell ab und wollte ihn auf den Spieß stecken. Aber er hatte keinen, weil der Zigeuner noch immer nicht mit dem Brennholz zurück war. Ungeduldig ging der Riese in den Wald und sah, daß der Zigeuner seelenruhig unter einer riesengroßen Buche die Erde ausschachtete. „Was machst du da?“ schrie der Riese. „Warte ab, dann wirst du’s sehen! Ich hab keine Lust, dauernd nach Brennholz zu laufen, darum grabe ich lieber gleich die ganze Buche aus und trage sie zur Mühle.“ — „Was sollen wir mit einem ganzen Baum?“ versetzte der Riese wütend, brach ein paar gewaltige Äste ab, lud sie sich auf die Schulter und ging zur Mühle zurück. „Was willst du lieber — Wasser holen oder den Ochsen am Spieß drehen?“ fragte er dann. „Den Ochsen am Spieß drehen“, erwiderte der Zigeuner.
Da nahm der Riese die Ochsenhaut und holte Wasser. Bei seiner Rückkehr sah er, daß die eine Seite des Ochsen fast gar, die andere hingegen noch ganz roh war. „Warum drehst du den Ochsen nicht? Er muß doch von allen Seiten braten!“ brummte er vorwurfsvoll. „Für mich genügt eine Seite!“ versetzte der Zigeuner. „Wenn dir das nicht paßt, dann dreh ihn dir um!“ Also mußte der Riese auch den Ochsen braten. „So“, sagte er, als er fertig war, „beim Essen werden wir nun feststellen, wer von uns beiden der stärkere Recke ist!“
Er setzte sich an die rechte Seite des Ochsen, der Zigeuner an die linke, beide futterten, was das Zeug hielt, und der Zigeuner stopfte sich dabei beide Taschen und obendrein den Quersack voll. Als sich der Riese so vollgefressen hatte, daß er nach Luft schnappen und aufhören mußte, sah er, daß der Zigeuner ein viel tieferes Loch in den Ochsenbraten gegessen hatte als er, und umarmte ihn gerührt. „Lieber Bruder, komm mit mir. Gar zu gern möchte ich meinen Gefährten einen richtigen Recken vorführen!“ Das schmeichelte dem Zigeuner, sie machten sich auf den Weg und langten auch bald vor dem Riesenhaus an.
Die Riesen waren gerade beim Kirschenpflücken. Das machten sie so: Mit der einen Hand drückten sie den Baumwipfel nieder, mit der anderen pflückten sie die Kirschen ab. Der Zigeuner ging zu einem Riesen hin, tat so, als wollte er ihm helfen, den Baum herunterzudrücken, steckte sich aber in Wirklichkeit mit der freien Hand eine Kirsche nach der andern in den Mund. Plötzlich ließ der Riese den Wipfel los, der Baum schnellte zurück, der Zigeuner flog durch die Luft und klatschte — bums! — ins Gebüsch, wo eine Dohle mit ihren Jungen nistete. Geistesgegenwärtig steckte er sie sich in die Tasche und kroch aus dem Gebüsch. „Warum hast du den Baum losgelassen?“ fragte der Riese. „Losgelassen? Wieso? Ich hab am Himmel einen Vogel erblickt und bin ihm nachgesprungen. Schau, hier ist er!“ Und er zog die Dohle aus der Tasche.
Da rannte ein Hase vorbei. „Fang ihn! Fang ihn!“ schrie der Zigeuner. Der Riese rannte dem Hasen nach, so schnell er konnte, aber es gelang ihm nicht, ihn zu fangen. „Du bist mir einer!“ lachte der Zigeuner. „Während ich die Vögel am Himmel erjage, bringst du es nicht einmal fertig, auf der Erde ein Tier zu fangen!“
Die Riesen nahmen seine Lügen für bare Münze, glotzten ihn bewundernd an und führten ihn in die Stube zu ihrem Hauptmann. Dieser hörte sich an, was sie von den Heldentaten des Zigeuners berichteten, und schlug ihm vor, bei ihnen zu bleiben. Am nächsten Morgen schickte der Hauptmann zwei Riesen und den Zigeuner zum Wasserholen und gab jedem einen zusammengerollten Lederschlauch mit. Der Zigeuner vermochte schon den leeren Schlauch kaum zu tragen und überlegte unterwegs, wie er sich aus der Klemme ziehen könnte. An der Quelle füllten die Riesen ihre Schläuche, währenddessen nahm der Zigeuner einen Spaten und hüb an, einen Kanal zu graben, der von der Quelle bis zum Haus führen sollte. „Was machst du da?“ forschten die Riesen. „Das seht ihr doch“, versetzte der Zigeuner. „Weshalb sollen wir Tag für Tag Wasser schleppen, da wir es doch bis an unser Haus leiten können? Ist der Kanal fertig, werden wir frisches Wasser in Hülle und Fülle haben!“ — „Gib dein Vorhaben auf, um Gotteswillen!“ baten die Riesen. „Das Wasser würde doch unser Haus überfluten!“ — „Das schert mich nicht!“ beharrte der Zigeuner. „Wenn ich nicht graben darf, hole ich auch kein Wasser!“ — „Grabe nicht, lieber Freund, wir wollen dich auch mitsamt deinem Wasserschlauch auf den Schultern heimtragen!“ Und als die Riesen ihrem Hauptmann meldeten, welches Unglück sie noch im letzten Augenblick verhindert hätten, meinte dieser: „Gut, dann will ich dem Zigeuner eine andere Arbeit geben.“
Am nächsten Morgen sandte er einige Riesen in den Wald, um Brennholz zu holen, mit ihnen auch den Zigeuner. Als sie in den Wald kamen, suchte sich jeder Riese eine Buche aus, fällte sie und lud sie auf die Schulter. Der Zigeuner entrollte indessen einen ungeheuer langen Strick, den er mitgebracht hatte, und schlang ihn um den halben Wald. „Was machst du da?“ f ragten die Riesen verblüfft. „Nun, warum sollen wir Tag für Tag in den Wald rennen und Brennholz holen? Ich nehme lieber einen Vorrat für zehn bis fünfzehn Tage mit.“ — „Laß das, lieber Freund!“ baten die Riesen. „Du würdest ja den ganzen Hof mit dem Brennholz versperren, so daß wir beim Hinein- und Hinausgehen jedesmal über die Holzstöße klettern müßten!“ — „Das schert mich nicht!“ beharrte der Zigeuner. „Wenn ich das nicht tun darf, dann hole ich überhaupt kein Holz.“ — „Tust du es nicht, lieber Freund, dann tragen wir dich mitsamt deinem Holz auf den Schultern heim!“
Zu Haus angelangt, meldeten sie ihrem Hauptmann, was der Zigeuner schon wieder im Sinne geführt hatte. Dieser beriet sich mit den Ältesten und ließ dann den Zigeuner rufen. „Unser Haus ist zu eng für einen Recken wie dich“, setzte er ihm auseinander. „Da hast du fünfzig Dukaten, geh und such dir eine andere Unterkunft!“ — „Ich denke gar nicht daran“, versetzte der Schlaukopf. „Hier geht’s mir doch gut. Ihr und ich, wir sind wie Nadel und Faden: Wohin ihr geht, dahin zieht ihr mich nach!“
Der Zigeuner hatte vor dem Küchenherd sein Nachtlager aufgeschlagen, denn dort war es warm und gemütlich. Als er sich niederlegen wollte, hörte er die Riesen in der Stube miteinander tuscheln: „Wir müssen ihn umbringen, anders werden wir ihn nicht los!“ Da holte er vorsorglich einen Sattel aus der Kammer, legte ihn an seiner Stelle vor den Herd, deckte ihn zu und versteckte sich in der Kammer.
Nach einiger Zeit kam ein Riese mit einem gewaltigen Eisenhammer in die Küche geschlichen und ließ ihn dreimal auf den Sattel niedersausen, daß es nur so krachte. „Mit dem ist es aus!“ murmelte er und ging schlafen. Da brachte der Zigeuner den Sattel in die Kammer zurück und legte sich seelenruhig an seinen Schlafplatz. Bei Tagesgrauen stand er auf und machte singend Feuer im Herd. Die Riesen rannten in die Küche, und als sie ihn heil und ganz vor sich sahen, rissen sie vor Staunen Mund und Nase auf. „Wie hast du geschlafen?“ schrien sie. „Vorzüglich! Nur die Flöhe haben mich gebissen. Gott mag wissen, wie viele es hier gibt!” Die Riesen glotzten ihn wieder fassungslos an. „Wir haben wirklich keinen Platz für dich, Zigeuner!“ sagte der Hauptmann, als er sich von seinem Staunen erholt hatte. „Ein so gewaltiger Recke, wie du es bist, paßt auch nicht zu uns. Hier hast du hundert Dukaten, schau, daß du weiterkommst!“ — „Auch für tausend Dukaten würdet ihr mich nicht los“, lachte der Zigeuner. „In eurer Gesellschaft fühle ich mich wohl, zudem habe ich daheim weder Weib noch Kind, die nach Brot schreien.“
Es war gerade Sonntag, deshalb arbeiteten die Riesen nicht, sondern übten sich im Weitwurf. Das ist bekanntlich ein beliebtes Spiel, für das sich nicht nur Riesen begeistern. Der erste Riese nahm einen Granitblock, stemmte ihn bis in Schulterhöhe und warf. Aber wie! Der zweite, der dritte machten es ebenso, und schließlich war auch der Zigeuner an der Reihe. „Was für ein Turm erhebt sich dort in der Ferne?“ fragte er. „Weshalb willst du das wissen?“ — „Fragt nicht so dumm!“ schimpfte der Zigeuner. „Reißt die Augen auf, dann werdet ihr sehen, wie er gleich umkippt!“ — „O weh!“ schrien die Riesen im Chor. „Bitte, wirf den Stein in eine andre Richtung. Im Turm wohnt unser König, der läßt uns allesamt köpfen, wenn du seine Wohnung zerstörst!“ — „Das schert mich nicht!“ lachte der Zigeuner. „Ich fürchte weder euch noch euren König.“ Und er krempelte sich die Ärmel auf. „Teurer, lieber Bruder, höre uns an!“ jammerten die Riesen. „Wir schenken dir einen Wasserschlauch, bis an den Rand mit Golddukaten vollgestopft, wenn du uns verläßt. Obendrein tragen wir dich und den Schlauch bis in dein Haus, damit du keine. Mühe hast.“
Ein Frosch springt ohne Zureden ins Wasser, ein Zigeuner nimmt ohne Zureden Golddukaten! Deshalb stimmte auch unser Zigeuner zu. Er nahm Abschied vom Hauptmann, kletterte einem Riesen auf die Schultern, ein zweiter Riese lud sich den mit Golddukaten vollgestopften Wasserschlauch auf den Buckel, und dann brachen sie auf. „Aber die Dukaten müßt ihr ihm wieder wegnehmen !“ flüsterte der Hauptmann dem Lastträger zu. Das hörte der Zigeuner, ließ sich aber nichts anmerken. Vor seinem Hause angelangt, duckten sich die Riesen, um sich durch die niedrige Tür zu zwängen, und der hinter dem Zigeuner gehende Lastträger stöhnte: „Ufff!“ Und pustete dadurch den Zigeuner versehentlich aufs Dach. „Was willst du da oben?“ riefen die Riesen verblüfft. „Wartet nur, gleich wird mein Schornsteinrohr euch eine Antwort geben, die ihr eurem Hauptmann ausrichten könnt, falls ihr mit dem Leben davonkommt!“ Da nahmen die Riesen Reißaus, so schnell ihre Füße sie tragen wollten, und ließen den Wasserschlauch mit den Golddukaten bei dem Zigeuner zurück. Es waren so viele, daß sie auch für dich und mich gereicht hätten!

Quelle:
(Fabel aus Jugoslawien)

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