Es war einmal ein Müller, der hatte niemals Glück.
Wenn es eine reiche Ernte gab und die Bauern mit ihren Wagen voll Getreide zur Mühle gefahren kamen, war so wenig Wasser im Mühlbach, daß das Wasser stillstand. Da trieben die Bauern die Pferde an und fuhren zu einem anderen Müller. Wenn unser Müller aber genügend Wasser im Bach hatte, gab es wenig Getreide. Und so verging es Jahr um Jahr. eines Abends ging der Müller am Mühlbach spazieren, rauchte seine Pfeife und überlegte, wie er Geld zum ausbessern des Schindeldaches auftreiben könnte. Da tauchte aus dem Bach die Wasserfrau auf und fragte freundlich:
„Warum bist du so traurig? Sag Müller, was fehlt dir?“ – „Freilich bin ich traurig“, antwortete der Müller, „aber du wirst mich gewiß nicht von meinen Sorgen befreien können!“
„Wer weiß, Müller“, sagte die Wasserfrau, „Vielleicht kann ich dir helfen. Wenn du versprichst, mir zu schenken, was in der Mühle zuerst geboren wird, soll sich in deinem Haus alles ändern, das Glück wird in der Mühle Einzug halten.“
Der Müller lächelte. So ein törichtes Angebot! Was könnte in der Mühle geboren werden? Er überlegte – und dann hatte er es: junge Hunde würde es geben. Und eines bekäme die Wasserfrau, wenn ihr so sehr daran lag.
„Gut“, sagte er, „du bekommst was bei uns in der Mühle zuerst geboren wird.“ Dann tauchte die Wasserfrau wieder unter, und der Müller ging heim. Unter der Linde saß der Nachbar und rauchte.
„Um Eure Hündin ist es geschehen“, sagte er.
Der Müller rief erstaunt: „Was sagst du da?“
„Ich kann es mir selbst nicht erkären. Sie lief an den Bach, fiel unters Mühlrad und tauchte nicht mehr auf.“ Der Müller sagte nichts und ging in die Stube. Die Müllerin goß die Blumen am Fenster und lächelte. „Mir scheint, du bist heute guter Laune“, sagte der Müller. – „Wie sollte ich denn nicht“, wandte sich die Müllerin ihrem Mann zu, – „zehn Jahre haben wir vergebens auf ein Kind gewartet, und eben weissagte mir eine freundliche Alte, daß wir übers Jahr einen Sohn haben werden.“
„Ach“, sagte der Müller, und mehr nicht.
Von jenem Tag an ging es dem Müller gut. Wasser gab es im Bach das ganze Jahr lang genug, auf den Feldern reifte das Getreide, nach der Ernte kamen die ganzen Bauern aus der Gegend gefahren, die Wagen barsten beinahe unter der Last der schweren Säcke. Die Mühle klapperte von früh bis spät, aber dem Müller ging die Forderung der Waschfrau nicht aus dem Sinn.
Im Frühjahr gebar die Müllerin einen Sohn. Der Müller ging traurig in der Mühle umher.
„Hast du du denn gar keine Freude?“, fragte die Müllerin betroffen. „So lange haben wir gewartet, und jetzt, da sich unser Wunsch erfüllt hat, bist du den ganzen Tag mürrisch und verdrießlich.“
„Ich habe Sorgen“, antwortete der Müller kurz. Aber von der Wasserfrau und von seinem Versprechen sagte er kein Wort.
Der Junge wuchs heran, und bald spielte er draußen vor der Mühle. Der Müller war aber, obwohl die Wasserfrau sich nicht mehr hat blicken lassen, in ständiger Angst um seinen Sohn.
„An den Bach geh nur nicht“, warnte er immer wieder, und meistens fügte er hinzu: „Lauf lieber in den Wald.“ Im Wald kannte sich der Junge aus.
„Wie habe ich es doch so gut eingerichtet“, dachte der Müller oft, – „meinen Sohn wird die Wasserfau niemals bekommen!“
Als der Müllerssohn zu einem stattlichen Jüngling herangewachsen war, stellte er eines Tages einem Dachs nach. Da begegnete er der Tochter des Waldhüters, die einen Korb voller Tannenzapfen trug. Der Jüngling nahm ihr den Korb ab, und ehe die beiden bis an das Haus des Waldhüters gekommen waren, hatten sie sich ineinander verliebt. Und ehe der Müller das Getreide der neuen Ernte gemahlen hatte, feierte sein sohn mit der Tochter des Waldhüters Hochzeit.
Nicht lange danach schoß der Müllerssohn einen stattlichen Hirsch, aber das Tier sprang hoch und floh. Der Jäger eilte ihm nach. Er brach durch das Dickicht und lief, bis er an den Bach gelangte.
Am Ufer lag der Hirsch. Der Jäger beugte sich nieder, und da tauchte aus dem Bach die Wasserfrau auf, ergriff den Jäger und zog ihn mit sich in die Tiefe. Ungeduldig wartete die junge Frau auf ihren Mann, aber der kam und kam nicht.
Am anderen Morgen ging die junge Frau in den Wald, um ihren Mann zu suchen. Aber dort war er nicht. so ging zu dem Bach, dort saß unter einem alten Weidenbaum ein greises Mütterchen.
„Du suchst wohl deinen Mann, Töchterchen?“ fragte es.
„Ja, Mütterchen“, sagte die junge Frau, „ich suche ihn.
„Nun, tue, was ich dir sage. Hier hast du einen goldenen Kamm. Wenn der Mond am Himmel steht, setze dich an den Mühlbach und kämme das Wasser damit.“ Als der Mond groß und rund am Himmel stand, ging die junge Frau zum Mühlbach, beugte sich über den Wasserspiegel und kämmte das Wasser mit dem goldenen Kamm. Der Wasserspiegel kräuselte sich, und der Kopf des Müllerssohnes tauchte aus dem Wasser empor. Er lächelte seine Frau an, tauchte aber gleich wieder in die Tiefe. Es dauerte nicht lange und die junge Frau traf auf dem Waldweg wieder das Mütterchen.
„Nimm diese goldene Harfe“,sagte die Alte freundlich, „und setz dich damit ans Ufer des Mühlbaches. Wenn der mond wieder groß und rund am Himmel steht, spiele ein Lied.“ Nach diesen Worten verschwand das Mütterchen im Wald. Die junge Frau wartete, bis es wieder Vollmond war.
Da nahm sie die goldene Harfe, ging zum Bach und begann zu spielen.
Das Wasser kräuselte sich, und aus der Tiefe tauchte der Müllerssohn empor. Das Wasser um ihn sank, bis es ihm nur noch an die Brust reichte.
Er lächelte seine Frau an und winkte ihr zu, und das Wassser schlug wieder über ihm zusammen.
Zum dritten Mal begegnete die junge Frau dem alten Mütterchen.
„Ich habe dich erwartet“, sagte die Alte. „Hier hast du ein goldenes Spinnrad. Setze dich in einer Vollmondnacht an den Mühlbach und spinne.“
Dann verschwand die Alte, wie der Schatten eines Nachtvogels. Die junge Frau wartete, bis es wieder Vollmond war. Dann nahm sie das goldene Spinnrad, ging zum Mühlbach und begann am Ufer zu spinnen.
Kaum hatte das Rädchen zu surren begonnen, tauchte der Müllerssohn aus dem Wasser empor. Der Wasserspiegel sank und sank, und bald reichte ihm das Wasser nur noch bis an die Knöchel.
„Reich mir eine Hand“, rief ihm seine Frau zu, und sie beugte sich zu ihm hinunter. Kaum aber hatte sie seine Hand berührt, da rauschte es oben auf der Waldwiese über dem Wehr, und das Wasser jagte mit Getöse herab.
Aber die junge Frau war jetzt stärker als alle Wasser der Erde zusammen. Sie zog ihren Mann aus dem Mühlbach heraus, und nie wieder gelang es der Wasserfrau, ihn in ihren Bann zu ziehen.
Mittelamerikanisches Märchen