Vor langer, langer Zeit lebten ein Indianer und seine Frau. Die beiden hatten zwei Töchter, die ältere hieß gelber Mais und die jüngere wurde Putentochter genannt, denn sie allein hatte sich um eine Schar Puten zu kümmern.
Einmal, als die Tage der Tanzfeste begannen, legten der Vater und die Mutter schon in der Frühe ihre besten Kleider an. Sie wollten keinen Tanz versäumen und sich darum schon bald auf den Weg machen. „ Du kannst mit uns gehen“, sagten sie zu gelber Mais. „ Und ich? dachte Putentochter bekümmert. Aber sie wagte nicht zu fragen, ob sie auch mitgehen dürfte. Sie kannte die Antwort, sie wusste, daß sie die Puten auf die Ebene treiben mußte. Vater und Mutter gingen mit Gelber Mais davon. Die Puten sahen ihnen nach, und die älteste fragte: „ Warum gehst du nicht mit ihnen?“
„ Wie sollte ich mit ihnen gehen?“ seufzte das Mädchen, und es wunderte sich nicht, daß die Puten , die es schon lange betreute, auf einmal zu ihr sprechen konnten. „ Ich muß auf euch Acht geben. Und ich in meinen Flickenkleidern kann ich doch nicht gehen. Auch meine Schuhe sind ganz vertreten.“
Die Puten streckten ihre Hälse, und die älteste sagte: „ Du sollst bekommen , was du brauchst.“ Dann sprang eine von ihnen auf einen dicken Ast und schlug mit den Flügeln. Da fiel ein wunderschönes Tuch herunter. Die zweite Pute schlug mit den Flügeln, und ein bunter Gürtel fiel heraus. Die dritte Pute zauberte leichte Schuhe aus Antilopenleder, die vierte ein zartes Schultertuch. „ Jetzt kann niemand mehr sagen, du seist für das Fest schlecht vorbereitet“, sagte die älteste Pute. „ Eile dich, denn die Tänze haben gewiß längst begonnen.“
Da legte Putentochter ihr Flickenkleid ab, hüllte sich in das große Tuch und tat den Gürtel um, da zog sie ihre alten Schuhe aus und schlüpfte in die neuen. Dann schlang sie das zarte Tuch um ihre Schultern, dankte den Puten und eilte davon. Als sie den großen Platz erreicht hatte, stand die Sonne schon hoch am Himmel, aber die Tänze würden noch lange kein Ende nehmen. Putentochter blieb hinter einem Baum stehen und schaute mit glänzenden Augen den Tanzenden zu. Ach, wenn sie doch auch an einem der Tänze teilnehmen könnte. Doch die ältere Schwester Gelber Mais, entdeckte sie.
„ Mutter!“ rief sie. „ Putentochter ist uns ohne Erlaubnis nachgegangen
“ Wer hütet denn jetzt die Puten? Und woher hat sie das Kleid und die Schuhe? Und sieh nur das Schultertuch!“ Die Mutter wurde böse, lief zur Putentochter hin und sagte: „ Gleich gehst du wieder nach Hause. Wie, wenn ein Raubtier unsere Truthennen holt? Woher du das Kleid und die Schuhe hast, wirst du uns morgen erzählen.“ Da ging das Mädchen traurig nach Hause, „ Warum kommst du denn schon wieder zurück?“ fragten die Puten.
„ Weil ich euch auf die Ebene treiben und acht geben muß, dass euch kein Raubtier holt“, sagte das Mädchen, und es schickte sich an, die neuen Schuhe auszuziehen. Heute brauchst du uns nicht mehr auf die Ebene zu treiben“,sagten die Puten. „ Und ein Raubtier wird uns nicht holen. Nein, nein, uns nicht!“ „Raubtiere sind schlau“, sagte das Mädchen. „ Wir sind nicht weniger schlau“, sagten die Puten. Was sie aber tun wollten, käme wirklich ein Raubtier, wussten sie auch nach langem Überlegen nicht. Doch Putentochter wußte etwas. „ Wenn ihr mir helfen würdet“, sagte sie, „ könnte ich noch einmal auf das Tanzfest gehen.“
„ Sag nur, was du denkst“, forderten die Puten das Mädchen auf. „ Ich könnte, bevor ich fortginge, einen Topf Maiskörner auf dem Hof ausausschütten. Käme ein Raubtier, würde es ausrutschen. Da verginge ihm der Hunger“, sagte das Mädchen. „ Was für ein guter Gedanke!“ riefen die Puten aus. „ Aber sag, was sollen wir noch dazu tun?“ „ Ihr“, sagte Putentochter, „ sollt die Maiskörner nicht aufpicken, denn pickt ihr sie auf, könnte es leicht um euch geschehen sein.“ Zuerst sahen die Puten betroffen einander an, aber dann sagte die älteste Pute; „ Es sei, wie du willst. Aber merke dir wohl, daß du dein Glück uns zu verdanken hast. Mit Perlen und Bändern wollen wir dich jetzt schmücken, so daß dich keiner erkennt und alle nur Augen für dich haben werden. Du siehst es, wir denken an dich, wir geben, was wir geben können. Darum denke du auch an uns und kehre, bevor die Sonne wieder zum Himmel hinaufrollt, zu uns zurück. Denn, wenn du bis dahin nicht wieder bei uns bist, werden wir meinen, du hättest uns vergessen. Und dann müssten wir uns sagen, dass du unserer nicht wert gewesen bist.“
„ Wie sollte ich euch vergessen?“ rief Putentochter aus. „ Ich werde zurück sein, bevor die Sonne wieder den Himmel hinaufrollt.“ Dann eilte sie mit Perlen und Bändern geschmückt davon. Und als sie auf dem Festplatz ankam, war alles, wie die Puten es gesagt hatten. Weder von Vater und Mutter noch von Gelber Mais oder jemand anderem wurde sie erkannt, und doch hatten alle nur Augen für sie. „ Was ist das für ein schönes Mädchen? Woher kommt es? Zu wem mag es gehören?“ dachten alle, und der stattlichste unter den jungen Männern trat auf sie zu und bat sie, mit ihm in den Kreis der Tanzenden zu treten. Putentochter errötete, sie wusste nicht wie ihr geschah, ihre Füße bewegten sich zaghaft, dann schneller und immer schneller. Und nichts, war mehr da, was ihre Gedanken trübte. Aber bald dachte sie auch nicht mehr an ihre Puten und an das, was sie ihnen versprochen hatte. Die Tänze gingen weiter, und alle wollten sie dabei haben und sie wollte auch keinen auslassen. Was machte es schon aus, ob sie gleich oder später nach Hause lief? Und sollte sie es nicht auskosten, daß man so um sie warb, daß die Alten noch immer dastanden und sich fragten, wer wohl das schöne Mädchen sei, woher es komme, zu wem es gehöre? Oh, sie sollten sich ruhig weiter fragen und nach einer Antwort suchen. Sie würde sie ihnen nicht geben, und darum würden sie auch keine erhalten. So und nicht anders dachte das Mädchen. Und ihre Puten? Was dachten die Puten, als der Mond den Himmel hinabgerollt war, und die Sonne begann hinaufzurollen?
Ihre Puten trippelten unruhig hin und her. „ Was kann nur mit unserem Mädchen geschehen sein?“ fragten sie sich. „ Es wird uns doch nicht etwa vergessen haben. Nein, nein, gewiß hat es uns nicht vergessen – gewiß hält es etwas zurück, daß wir nicht haben voraussehen können.“ Da hörten sie Schritte. Es waren die Schritte des Mädchens. Und eine Stimme hörten sie. Es war die Stimme des Mädchens, und die sang ein Lied. Und die Puten wußten, daß ihr Mädchen dieses Lied nur sang, wenn sie glücklich war. Also hatte es nichts Betrübliches gegeben, also war das Mädchen durch nichts als durch den Tanz aufgehalten gewesen, also hatte es sie, ihre Puten, vergessen, denn es war ja nicht zurückgekehrt, bevor die Sonne begonnen hatte, den Himmel wieder hinaufzurollen.
„ Das Mädchen hat sein Glück nicht verdient“, sagte die älteste Pute traurig, „ Es hat nicht verdient, daß wir bei ihm bleiben. Mag es das Leben führen, daß ihm zusteht. Arm und einsam soll es fort an wieder sein.“
Als Putentochter dann kam und sah, daß ihre Puten nicht mehr da waren, als sie entdeckte, dass sie über die Ebenen davonliefen und, obwohl sie laut nach ihnen rief, nicht auf sie hörten, erschrak sie. Was war geschehen? Wer hatte die Puten verjagt? – Ach, sie war es selbst gewesen, sie hatte ihre Puten verjagt, weil sie nur noch an sich selbst gedacht hatte. Und so besaß sie auch jetzt nichts mehr, als ihre alten Kleider und Schuhe, denn alles was ihr die Puten geschenkt hatten, war mit ihnen verschwunden.
Quelle:
Märchen aus Nordamerika