Suche

Die Erbschaft

1
(2)
„Alt sind wir zwei geworden, Mutter, lange machen wir nicht mehr, und unser reicher Besitz ist uns nicht mehr vonnöten. Deshalb will ich ihn unter unseren beiden Töchtern aufteilen, sie werden ihn sowieso eines Tages erben. Danach lassen wir uns abwechselnd von ihnen zum Essen einladen, haben keine Scherereien mit dem Vermögen mehr und können unsere Tage in Frieden beschließen. Obendrein verhindern wir, daß sich die Kinder nach unserem Tode um das Erbe zanken. Was meinst du dazu, Mutter?“ — „Wüßte ich, wie die Schwiegersöhne sich verhalten werden, dann hätte ich nichts dagegen“, sagte die alte Frau. „Aber so fürchte ich, daß es wird wie im Sprichwort: >Wer Geld hat, empfängt Liebe, wer keins hat, der kriegt Hiebe.< Gut möglich, daß die Schwiegersöhne zwar anfangs nett zu uns sind, aber auf die Dauer werden sie uns satt bekommen. Wo sollen wir dann hin? Und was wird aus mir, falls ich dich überlebe? >Bitter schmeckt das Brot beim Schwiegersohn!< sagt das Sprichwort. Tu, was du willst, aber gib nicht alles Geld weg, damit es uns erspart bleibt, eines Tages um unseren eigenen Besitz betteln zu müssen. Wir wissen nicht, wann unser letztes Stündlein schlägt.“
Da lud der alte Kaufmann seine Töchter und Schwiegersöhne zu einem Festmahl ein und setzte sie dabei von seinem Entschluß in Kenntnis, Ihnen schon zu seinen Lebzeiten das Erbe zukommen zu lassen. Diese Nachricht nahmen die Erben selbstverständlich mit der größten Freude auf, und sie beteuerten, daß sie die alten Eltern bis an ihr Lebensende hegen und pflegen würden. So teilte der Alte sein Hab und Gut unter ihnen auf, behielt jedoch eingedenk des Rates, den ihm seine Frau gegeben hatte, insgeheim einen Notgroschen zurück wie ein Jäger, der sich Reservemunition aufspart.
Anfangs wurden die alten Leute tatsächlich mit größter Herzlichkeit von ihren Schwiegersöhnen zum Essen eingeladen und von der ganzen Familie liebevoll aufgenommen. Nun hatte der Alte früher seinen vielen kleinen Enkeln stets Geschenke mitgebracht, wenn er sie besuchte, aber nun mußte er diese Gewohnheit aufgeben, denn sein Beutel war dafür zu schmal geworden. Darüber wunderten sich die Töchter und Schwiegersöhne ungemein, ihre Herzlichkeit schwand, sie warfen den Alten scheele Blicke zu und luden sie immer seltener zum Essen ein. Traurig saß der Alte seitdem oft vor seinem ausgeplünderten Haus auf der Bank, tief bekümmert darüber, daß er sichern seinen Kindern getäuscht hatte.
In der Nachbarschaft wohnte sein gleichaltriger Freund und ehemaliger Kompagnon. Der sah ihn vom Fenster aus so niedergeschlagen dahocken, und das ging ihm zu Herzen. Deshalb nahm er Stock und Hut und ging zu ihm hin. „Guten Tag, mein Freund! Warum läßt du den Kopf hängen? Was für Sorgen quälen dich? Ich weiß doch, daß du genügend Geld und Gut gespart hast, um damit zu überwintern wie ein alter Hamster. Zudem bist du für dein Alter gesund und kräftig.“ — „Ach Freund“, seufzte der Kaufmann, „frage mich nicht, du kannst mir doch nicht helfen, ich trage allein die Schuld daran. All mein Geld und Gut ist futsch.“ — „Wie geht das zu?“ — „Ich habe es verfrüht meinen undankbaren Kindern gegeben.“ —„Ja, das war falsch!“ meinte der Freund. „Schwiegersöhne sind fremdes Blut, und Frauen hören immer auf ihre Männer, daran hättest du denken müssen. Aber ich kann dir aus der Not helfen. Mach dir um die Zukunft keine Sorge. Wer sich an Milch den Mund verbrennt, pustet auch auf Wasser. Hör mir zu. Du veranstaltest auf meine Rechnung ein Festessen, zu dem du deine Töchter und Schwiegersöhne, aber auch deine Gevattern, Nachbarn und Freunde einlädst. Ich werde als letzter kommen und etwas mitbringen, über das du kein Erstaunen zeigen darfst. Sage nur: >Mußtest du das ausgerechnet jetzt bringen? Das sieht ja so aus, als hätte ich kein Geld mehr!< Dadurch streuen wir ihnen Sand in die Augen und erinnern sie außerdem an die Lebensweisheit: >Die Krönung jeder Schuld ist die Bezahlung.<“
Der alte Kaufmann folgte dem Rat seines Freundes. Seine Kinder wunderten sich zwar über die Einladung, kamen aber aus Neugier, auch die Gevattern, Nachbarn und Freunde stellten sich ein, und als alle Eingeladenen schon bei Tische saßen, tat sich die Tür auf, und als letzter erschien der Freund und schleppte keuchend einen Sack herein. „Lieber Kompagnon!“ redete er den alten Kaufmann an. „Verzeih mir, daß ich so spät erscheine, aber die Schamröte wäre mir ins Gesicht gestiegen, wenn ich mir auch diesmal wieder den Wanst bei dir vollgeschlagen hätte, ohne meine alte Schuld zu begleichen. Du weißt, wie oft ich dich schon bat, Geld und Abrechnung von mir entgegenzunehmen, aber du verschobst es stets von einem Tag auf den anderen. Deshalb bringe ich dir jetzt dein Geld ins Haus. Es ist genau nachgezählt, und die Abrechnung liegt ebenfalls bei. Damit fällt mir ein Stein von der Seele.“ — „Lieber Kompagnon“, antwortete der alte Kaufmann, „ich habe dich nicht eingeladen, damit du mir Geld und Abrechnung bringst, sondern damit du mit uns ißt und fröhlich bist. Doch weil der Geldsack nun einmal hier ist, wirf ihn hinter den Schrank. Morgen, wenn ich Zeit habe, zähle ich das Geld nach und prüfe die Abrechnung. Wären meine anderen Schuldner ebenso redlich wie du, so würde ich mein Geld fristgemäß zurückerhalten und brauchte mir wegen meiner übermäßigen Großzügigkeit keine Vorwürfe zu machen.“
Die Schwiegersöhne, Töchter und sonstigen Gäste saßen mucksmäuschenstill dabei und hörten jedes Wort. „Schau dir den Schwiegervater an!“ tuschelte ein Schwiegersohn dem anderen zu. „Tut so, als hätte er keinen roten Heller mehr, aber in Wirklichkeit besitzt er das Geld noch säckeweise! Und wer weiß, wieviel er von seinen Schuldnern noch zu kriegen hat!“ — „Höre mal“, sagte die eine Tochter zu ihrem Mann, „wir wollen die Eltern doch wieder regelmäßig zum Essen einladen!“ — „Aber selbstverständlich!“ pflichtete er ihr bei. „Sein wir nett zu den alten Leuten!“ — „Hörst du, was meine Schwester sagt?“ flüsterte die andere Tochter ihrem Mann zu. „Wir müssen uns Mühe geben, daß uns die Eltern auf ihrem Sterbebett nicht vergessen. Schau doch, einen ganzen Sack voll Geld hat der Vater gekriegt, und wie großzügig er uns bewirtet! Die Schränke im Hause scheinen auch nicht leer zu sein.“ — „Du hast recht, Frau“, antwortete er. „Wenn wir deine Eltern hegen und pflegen, werden sie es uns hundertfach später vergelten.“ Seitdem ging es den alten Leuten gut – ihre Töchter kochten ihnen um die Wette ihre Lieblingsspeisen und versorgten sie derart liebevoll, daß sich,, wie man so sagt, keine Fliege auf sie setzen konnte.
Eines Tages begrub der alte Kaufmann seine Frau, und wenig später verschied er ebenfalls. In seinem Testament stand zu lesen: „Liebe Kinder, wenn Ihr mich zum Friedhof gebracht habt, dann öffnet die große Truhe, die Euer Erbe enthält.“ Nachdem ihm nun die Töchter und Schwiegersöhne die letzte Ehre erwiesen hatten, gingen sie zu der großen, lederbezogenen Truhe mit den drei Schlössern und schlossen sie auf. Aber die Truhe war leer. Nur ein Brief lag darin, der folgende Worte enthielt: „Liebe Kinder. Ihr habt schon zu meinen Lebzeiten viel Geld und Gut von mir erhalten, und wie Ihr seht, besitze ich jetzt nichts mehr, was ich Euch vererben könnte. Aber ich will Euch einen Rat geben: Arbeitet fleißig, seid sparsam, dann werdet Ihr auch ohne Erbschaft wohlhabend werden. Euer Vater.“

Quelle:
(Märchen aus Jugoslwien)

Wie hat dir das Märchen gefallen?

Zeige anderen dieses Märchen.

Gefällt dir das Projekt Märchenbasar?

Dann hinterlasse doch bitte einen Eintrag in meinem Gästebuch.
Du kannst das Projekt auch mit einer kleinen Spende unterstützen.

Vielen Dank und weiterhin viel Spaß

Skip to content