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Der Steinknabe

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In uralter Zeit lebte in Amerika das Indianermädchen Hiladih. Hiladih ist ein schöner Name, er bedeutet „reine Quelle“. Hiladih wohnte mit ihren zehn Brüdern in einem Tiefen Wald. Des Morgens früh, wenn die Sonne aufging, badete Hiladih im klaren Bach, und die Drossel sang ein Lied dazu. Auf der Wiese am Bach stand das Mädchen und flocht ihr schwarzes Haar in zwei lange Zöpfe. Hiladih wartete auf ihre Brüder, die am vergangenen Tag zur Jagd aus gezogen waren. Sie hatte die ganze Nacht auf sie gewartet, aber keiner war heimgekommen. Das Mädchen ging in das runde lederne Zelt, in dem sie mit ihren Brüdern wohnte, aber das Zelt war noch immer leer. Da nahm sie ein wenig getrocknetes Fleisch in ihren Beutel und zog aus, ihr Brüder zu suchen. Ihre Füße liefen so leicht und so schnell wie die Füße eines Rehs. Sie fragte das Moos im Wald: „Haben meine Brüder nicht auf deinem weichen Polster geschlafen?“ Aber das Moos wusste nichts. Hiladih wanderte weiter aus dem Wald hinaus auf die großen Wiesen, die in Amerika Prärien genannt werden. Dort fand sie den kleinen „Präriehund“. Er sah nicht aus wie ein Hund, sondern eher wie ein dickes Eichhörnchen. „Hast du nicht meine zehn Brüder gesehen?“ fragte Hiladih. Aber der kleine Dicke pfiff nur und verschwand in seinem Loch. Müde kehrte Hiladih nach ihrer langen heim. Sie schaute zu Boden und wollte die helle Sonne nicht mehr sehen. Am Ufer des Baches stand sie und weinte. Aber der Bach hatte Mitleid mit dem Mädchen, das so traurig war, und rollte mit seinen schönsten Kieselstein vor ihre Füße. Als Hiladih den Stein sah, freute sie sich. Der Stein war rund und bunt. Sie bückte sich und hob ihn auf und drückte ihn an ihr Herz. Sie nahm ihn mit ins das Zelt, und aus dem Stein wurde ein kräftiger Knabe. Er wuchs heran, und Hiladih nannte ihn „Steinknabe“. Sie liebte ihn sehr und auch Steinknabe liebte seine Mutter.
Eines Tage schnitt er sich einen starken Zweig, krümmte ihn, spannte ihn mit einer Sehne und schnitzte sich Pfeile. Mit Pfeil und Bogen konnte er nun auf die Jagd gehen und seiner Mutter Fleisch nach Hause bringen. Sie kochte es in einem blanken Kessel über dem Feuer im Zelt. Als der Steinknabe groß und stark genug war, zog er aus, um die zehn Brüder seiner Mutter zu suchen. Er wanderte durch den Wald und kam zu einem Berg. Am Hang der Berges stand ein uralter riesiger Baum. Der Baum war so hoch wie ein hoher Turm. Er wurde Mammutbaum genannt. Steinknabe kletterte hinauf und hielt von oben Ausschau. Er erblickte einige fremde Zelte. In diesen Zelte wohnten feindliche Männer. Steinknabe glaubte, das die feindlichen seine Onkel getötet hätten. Wie sollte er sie wieder lebendig machen? Er wusste sich keinen Rat. Aber neben ihm in dem starken Zweigen des Mammutbaumes saß ein großer Vogel auf einem Nest. Den fragte Steinknabe: „Bitte, lieber Vogel, willst du mir nicht einen Rat geben, wie ich meine Onkel wieder lebendig machen kann? Meine Mutter weint sosehr!“ „Ja“, antwortete der Vogel freundlich. „Sieh hier, ich sitze auf meinem Nest mit zehn großen Eiern. Weil deine Mutter so weint, will ich dir meine Eier schenken. In den Eiern ist Leben hineingezaubert. Wenn du die Eier aufbrichst, kommt das Leben deiner Verwandten wieder heraus.“ Steinknabe bedankte sich. Schnell ergriff er die Eier, die der große Vogel ihm geschenkt hatte, und brach sie auf. Dann schaute er mit Spannung nach den Zelten der feindlichen Männer. „Da!“ rief der Vogel, der noch schärfere Augen hatte als der Steinknabe. „Siehst du nicht schon deine Onkel?“ Steinknabe hielt die Hand über die Augen, damit ihn die Sonne nicht mehr blendete, und spähte. Wirklich, der Rat des Vogels war ein guter Rat gewesen. Die Lebenskraft war in seine Onkel zurückgekehrt. Froh kamen alle zehn Brüder seiner Mutter aus den feindlichen Zelten hervor. Sie gingen mit Steinknabe nach Haus.
Glücklich und in Freuden lebte Hiladih, ihre zehn Brüder und Steinknabe in dem Zelt auf der Waldwiese. Steinknabe ging jeden Tag auf die Jagd. Er merkte bald, das ihn kein Tier verletzten konnte, denn sein Fleisch war hart wie Stein. Der Wolf konnte ihn nicht beißen. Mato, der Bär, hatte zwar starke Tatzen mit großen Krallen und vermochte ein Mann niederzuschlagen, aber dem Steinknaben konnte er nichts anhaben. Wenn der Büffel Tatanka den Steinknaben auf die Hörner nahm und durch die Luft auf den Boden warf, so lachte der Steinknabe nur und stand wieder auf. Steinknabe wurde immer übermütiger, weil kein Tier ihn besiegen konnte. Er tötete nicht nur die Tiere, deren Fleisch er mit seiner Mutter und seinen Onkeln zum Essen brauchte. Er tötete alle Tiere, die er im Wald und auf den Wiesen fand.
Oft sagte seine Mutter Hiladih der Abends im Zelt zu ihm: „Bitte, mein Steinknabe, töte nicht so viele Tiere. Die Bären sind so klug wie die Menschen , und die großen Büffel sind uns heilige Tiere, weil sie uns ihr Fleisch zum Essen und ihre Haut als Schutz vor Wind und Wetter geben. Ein mal, vor langer Zeit, sind alle Menschen und Tiere Brüder und Schwestern gewesen. Du darfst keinen Bären und keinen Büffel, keinen Hirsch und keine Antilope mutwillig töten!“
Steinknabe hörte die Worte seiner Mutter Wohl, aber er folgte ihr nicht. Immer wieder holte er Bogen und Pfeil hervor und schoss die Tiere Tot. Not und Jammer herrschten darum unter den Tieren im Wald und auf den grünen Prärien. Zu jener Zeit lebte auf den Blumenwiesen an dem großen gelben Strom „Mini-Sose“ eine zierliche Antilope. Auch sie hatte ein Kind. Jeden Tag führte sie die kleine Antilope zu dem frischen Gras und den zarten Blüten, die sie besonders gern fraß. Der große Büffel freute sich, wenn die Antilope auf der Wiese spielte. Mato, der Bär, hatte sich am Rande des Waldes auf die Hinterbeine gesetzt, er schleckte Honig und brummte gutmütig, wenn er das Antilopenkind sah. Auf dem Mammutbaum am Berg aber saß der Vogel, der dem Steinknaben die zehn Eier gegeben hatte. „Vorsicht!“ rief jetzt der Vogel hinunter zu den Tieren. „Vorsicht, der Steinknabe kommt! Ich sehe ihn von meinen hohen Baum. Er kommt mit Pfeil und Bogen und er wird euch alle töten.“ Der kluge Bär und der mächtige Büffel flohen. Aber die kleine Antilope wollte nicht hören. Sie knabberte weiter das grüne Gras und sprang lustig davon, als ihre Mutter sie warnte. Da stand auch schon der Steinknabe am Waldrand. Er schoss seinen Pfeil der kleinen Antilope ins Herz. Die Mutter Antilope blieb trauernd bei ihrem Kind. Steinknabe schoss auch sie tot.
Der Vogel auf dem Mammutbaum hatte die Untat gesehen. Er stieß einen lauten Ruf aus, schwang die Flügel und flog über den weiten Wald und Prärien, über die Berge, über die Ströme und über die Seen des großen Landes Amerika. Er flog und rief alle Tiere. „Steinknabe hat der Mutter Antilope und ihrem Kind seine Pfeile ins Herz geschossen!“ rief er. „Kommt alle und tötet den Steinknaben!“ Heimlich in der dunklen Nacht kamen die großen Tiere zusammen, die den Ruf des Vogels gehört hatten. Sie kamen, um den Steinknaben zu bestrafen. Tatanka, der Büffelstier, versammelte die Büffel. Sie zogen von allen Seiten heran, in einem großen Zug, der kein Ende nehmen wollte. Mato, der Bär, rief die Bären mit tiefen Gebrumm, und auch sie zogen aus den Wäldern des Osten, des Nordens und des Westens zu der Wiese am Strom. Bären kamen, braune und schwarze, mit großen Tatzen und scharfen Zähnen. In dieser nacht war keine Feindschaft zwischen den Tieren. Den gefährlichen Wölfen hing die lange Zunge aus dem Maul, denn sie waren schnell gelaufen, um gleich zur stelle zu sein. Graue Wölfe kamen aus den Wäldern, und von den Prärien kamen weiße Wölfe.
Als alle Tiere versammelt waren, wählten sie ihren Anführer. Die Büffel wählten Tatanka, den mutigen Büffelstier. Die Bären wählten Mato, den kräftigen Bären. Die Wölfe wählten Schunktoketscha, den wilden Wolf. Auch die Elche mit den großen Schaufelgeweih und die zierlichen Antilopen mit den spitzen Hörnern wollten mitkämpfen. Tatokano hatte sie gerufen, der Antilopenvater, denn er trauerte um die kleine Antilope und ihre Mutter. Mit ihren Anführern an der Spitze zogen die Herden der Büffel, die Rudel der Elche und Wölfe und der Antilopen und die Scharen der Bären zu der Waldwiese, wo Steinknabes Zelt stand. Steinknabe aber zauberte für sich und seine Mutter und seine Onkel ein steinernes Zelt und dicke steinerne Mauern. Da stürmten auch schon die Tiere heran. Steinknabe hatte den Bogen und viele Pfeile zur Hand. Er verbarg sich hinter den steinernen Mauern und schoss auf die Tiere, die über die Mauer springen wollten. Er schoss Wölfe tot, Elche, Antilopen, Bären und Büffel. Auch Tatanka, der tapfere Büffelstier, und Mato, der gute starke Bär, lagen blutend vor den steinernen Wällen. Die Tiere, die noch am Leben waren, flohen vor Steinknabes Pfeilen.
Steinknabe aber lachte und zeigte seiner Mutter Hiladih und seinen Onkeln die gefallenen Tiere. Und er nahm seinen Bogen und wanderte wieder hinaus, um noch mehr Tiere zu töten. Seine Mutter Hiladih aber freute sich nicht. Sie ging zu dem Bach, der ihr den Kieselstein geschenkt hatte, setzte sich nieder und weinte. Der Bach war nicht mehr klar. Es floss das Blut der Tiere darin, die Steinknabe getötet hatte. Es flossen die Tränen Hiladihs mit den Wellen abwärts. Das Blut und die Tränen trug der Bach zu dem weisen Biber Tschapa. Der alter Biber wohnte mit seinen Söhnen und Töchtern im Bach. Er hatte sich sein Haus geschickt in das Wasser gebaut. Mit seinen scharfen Zähnen hatte er junge Bäume gefällt und sie dann mit vieler Mühe in den Bach geschleppt. Seine Söhne und Töchter hatten Reisig gesammelt. Das Haus hatte viele geheime Gänge und Schlupfwinkel. Wenn der Steinknabe jagte, hatte sich der alte Biber mit seinen Söhnen und Töchtern immer gut in seinem Haus versteckt, und der Steinknabe hatte ihn nicht gefunden. Als jetzt der Bach das Blut der Tiere und die Tränen Hiladihs herantrug, wurde der Biber zornig. Er rief seine Söhne und Töchter zusammen. Die hörten aufmerksam auf das was ihr Vater ihnen zu sagen hatte, denn sie wussten, das er klug war. „Heute verlange ich viel von euch“ sprach der alte Biber zu seinen Söhnen und Töchtern. „Ihr müsst großen Mut zeigen. Steinknabe ist mit seinen Bogen und Pfeilen unterwegs. Aber heute dürft ihr euch nicht in unseren Wasserbau verstecken. Ihr müsst hinaus in den Wald und den Dachsen eine Botschaft überbringen.“ Als die jungen Biber das hörten, fürchteten sie sich, denn sie waren gewohnt, im Bach zu schwimmen und fische zu fangen; darin waren sie flink und geschickt. Auf dem trockenen Boden aber kamen sie nur langsam vorwärts. Sie hatten Angst, in den Wald zu gehen, wenn der Steinknabe dort war. „Obwohl ihr Angst habt“, sprach der alte Biber, „müsst ihr doch in den Wald gehen und meine Botschaft zu den Dachsen bringen. Die großen Tiere hat Steinknabe alle getötet, und er wird auch uns alle töten, wenn wir uns nicht rechtzeitig verbünden.“ „Ich gehe“, antwortete die jüngste Tochter des Bibers, ein zierliches Bibermädchen. „Wir wollen alle gehen. Zwar bin ich die kleinste, aber ich verspreche dir, dass ich zuerst gehe. Sage uns die Botschaft, die wir den Dachsen bringen sollen, damit Steinknabe bestraft wird und wider Frieden zwischen Tieren und Menschen. Es ist genug Blut geflossen.“ Der alte Biber lobte seine jüngste Tochter, und ihre Brüder und Schwestern schämten sich, das sie nicht so mutig gewesen waren. Sie versprachen mitzugehen. Dann sagte er: „Die Dachse sollen viele Gänge in die Erde graben – bis unter die Mauern und unter das Haus des Steinknaben. Schnell, schnell, beeilt euch!“
Die Söhne und Töchter des Bibers zögerten nicht länger. Sie liefen in den Wald und suchten die Dachsbauten unter der Erde. Als sie sie gefunden hatten, erzählten sie den Dachsen, was sie tun sollten. Die Dachse machten sich auch gleich ans Werk. Sie gruben Gänge unter der Erde bis unter die steinernen Mauern und das steinerne Zelt, in dem der Steinknabe wohnte. Der merkte von der heimlichen Arbeit der Dachse nichts. Er zog alle Tage sorglos auf die Jagd und tötete noch mehr Tiere. Der alte weise Biber aber rief inzwischen die dunkle Wolke am Himmel. Es war eine große Wolke. Ganz schwer war sie, eine rechte Gewitterwolke. „Dunkle Wolke!“ rief Tschapa, der Biber. „Schwarze Wolke“ Hole alle dunklen Wolken am ganzen Himmel herbei und regne mit ihnen einen großen, großen Regen über meinen Bach hier! Mein Bach muss mächtig, und stark werden wie der Strom Mini-Sose! Hilf mir, dunkle Wolke!“ Die Wolke vernahm die Worte des weisen Bibers, und sie rief den Wind, und der Wind blies weit über den ganzen Himmel und holte die schwarzen Wolken herbei. Es wurde am Tage so dunkel wie in der Nacht. Als die Wolken sich alle versammelt hatten, begannen sie zu regnen. Sie schickten ihren Regen in den Wald und auf die Wiese und in den Bach. Es war ein furchtbarer, brausender Regen. Der Blitz fuhr wie ein Zickzackfeuer vom Himmel in die Erde, und der Donnervogel schrie mit lauter Stimme dazu. Der Waldbach schwoll an und wurde zu einem mächtigen Strom. Der Biber und seine Söhne und Töchter aber hatten schon einen Damm gebaut und leiteten das wilde Wasser unter die Erde in die unterirdischen Gänge der Dachse. In diesen Gängen floss das Wasser unbemerkt bis unter die Steinernen Mauern und unter das steinerne Haus, das sich der Steinknabe sich gezaubert hatte. Immer mehr Wasser floss unter die Erde, und die Erde wurde weich; das Wasser spülte sie unter dem aus und den Mauern weg. Auf einmal hatte das Haus und die Mauern des Steinknaben keinen festen Grund mehr. Mit Schrecken spürte Steinknabe, wie das Haus wankte und in die erde einsank. Auch er selbst sank in den Boden ein wie in einen Sumpf und blieb bis zu den Hüften darin stecken. Als der Regen aufhörte und die Sonne wieder schien, war der Steinknabe halb in die Erde eingesunken. Er konnte sich nicht mehr rühren und niemanden mehr ein Leid antun. Seine Onkel waren alle in dem großen Wasser umgekommen. Seine Mutter aber stand bei ihm und sang Tag und Nacht das Lied von Steinknabes Ende.
Hoch oben am Himmel flog der große Vogel, der dem Steinknaben die zehn Eier gegeben hatte. „Weh, Weh!“ rief er. „Da stehst du nun und wirst dich nie mehr rühren können! Ein Stein warst du, und zu Stein bist du wieder geworden. Ich habe die geholfen, aber schlecht hast du uns armen Tieren gedankt!“ Durch die Wiese floss der Bach wieder klar und friedlich. „Weh, Weh, was hast du getan, mein schöner Kieselstein!“ murmelte er. „Und wie übel musste es dir ergehen! Ich selbst habe dich mit meinen Wassern bestrafen müssen.“ Der weise Biber aber saß auf seinem Wasserbau in der Sonne, und seine Söhne und Töchter tummelten sich fleißig in der klaren Flut. „es ist gut so“, sprach er. „Nun können wir Tiere wieder in Frieden leben. – Komm her, Hiladih!“ rief der Biber der Mutter des Steinknaben zu. „Du bist lange genug traurig gewesen. Der Steinknabe muss eingegraben stehen! Er soll jeden, der vorbeikommt, daran erinnern, wie es ihm ergangen ist. Du aber, Hiladih, besitzt ein schwesterliches Herz. Du sollst noch viele Söhne und Töchter haben, die Menschen und Tieren freund sind.“

Quelle:
(Nordamerika)

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