In einer einsamen Höhle, die weit im Norden am Ufer eines von hohen Felsen umgebenden Sees stand, lebten einmal zwei arme Indianerkinder, die waren Waisen, ein Mädchen und ein kleiner Knabe, der nicht höher war als ein Grashalm.
Eines prächtigen Wintertages sagte er zu seiner Schwester: „Mach mir einen kleinen Ball, ich möchte auf dem glatten Eis damit spielen.“ Die Schwester tat es auch, bat ihn aber, sich ja nicht zu weit von ihrer Wohnung zu entfernen, damit ihm nicht ein Unglück zustoße. Der Kleine hörte nicht drauf, stieß in kindlicher Freude den Ball immer rasch vor sich her und eilte ihm ebenso schnell wieder nach.
Als er so ungefähr eine halbe Stunde lang immer nach einer Richtung hin gelaufen war, sah er auf einmal vier große Männer vor sich. Sie hockten um ein Loch, das sie in das Eis geschlagen hatten, und fingen Fische mit dem Speer. Der eine drehte sich um und rief spöttisch: „Seht doch, was für ein winziger Knirps da herumhüpft!“ Doch die anderen kümmerten sich nicht um ihn und fischten ruhig weiter. Diese Nichtachtung ärgerte den Kleinen gewaltig, und um sich zu rächen, stahl er dem einen den größten Fisch und lief eilends damit nach Hause. Seine Schwester kochte ihn, und beide hatten nun ein treffliches Essen für den ganzen Tag.
Am folgenden Morgen ließ der Kleine seinen Ball wieder auf dem Eis tanzen und sah auch wieder die vier Fischer. Da er nun das Unglück hatte, dass sein Spielzeug in eines ihrer Fischerlöcher flog, bat er den einen freundlich, ihm den Ball doch wieder zuzuwerfen. Der stieß aber den Ball erst recht unter das Eis. Als der Kleine das sah, hüpfte er flink herbei und brach dem Fischer den linken Arm. Dann holte er schnell seinen Ball selbst wieder heraus und lief damit eilends nach Hause.
Die Fischer konnten ihn trotz größter Anstrengung nicht einholen und beschlossen daher, das Unglück ihres Bruders am nächsten Morgen blutig zu rächen. Ihre Mutter riet ihnen zwar, von ihrem Vorhaben abzustehen, denn der kleine Kerl sei sicherlich ein verkappter Manitu, ein Geist in Menschengestalt, der sie noch alle vernichten würde. Doch die Fischer hörten nicht auf ihre Warnung und gingen am anderen Tage mit ihrem verwundeten Bruder vor die Hütte des Zwerges.
Als seine Schwester sie kommen sah, lief sie in Todesangst zu ihrem Bruder und fragte ihm um Rat. Er antwortete ihr aber kaltblütig: „Was kümmert dich das? Geh und hol mir etwas Gutes zu essen!“ „Aber wie kann man in einem solchen Augenblick noch Hunger haben?“ erwiderte sie verwundert. „Tu, was ich dir sage, und lass mich für das Übrige sorgen!“
Sie gehorchte und brachte ihm eine riesige mannshohe Muschel, und als er eben anfangen wollte, sich’s recht gut schmecken zu lassen, hoben die vier Fischer gerade die Decke auf, die vor dem Höhleneingang hing, um hereinzukommen. Da warf der Kleine schnell seine große Muschel in die Türöffnung, und seine Höhle war nun uneinnehmbar. Die Vier zerbrachen alle ihre Werkzeuge und mühten sich vergeblich, die Muschel zu entfernen. Aber alles, was sie fertig brachten war ein winzig kleines Loch, an dem sie einen halben Tag gemeißelt hatten.
Der erste, der nun seine Kopf durch das Loch steckte, wurde mit einem Pfeil begrüßt und fiel tot nach außen zurück. Darauf vier suchten die anderen drei das Loch zu erweitern. Als aber noch ein zweiter, vom Pfeil getroffen, tot umfiel, verloren sie den Mut. Sie luden ihre Gefährten auf die Schultern und entflohen eilends.
Im nächsten Frühjahr machte der Kleine einen Bogen und mehrere Pfeile, die er zum Ärger seiner Schwester alle in den See schoss. Dann schwamm er ihnen nach und tat dabei so, als ob er ertrinken müsse, um seine am Ufer stehende Schwester zu erschrecken. Auch rief er noch beständig: „Mämis kwoschegonä benowäkonschschin!“ das heißt: „Großer Fischkönig, komm und verschlucke mich!“ Und der große Fischkönig ließ auch wirklich nicht lange auf sich warten, schwamm herbei und verschluckte ihn.
Ehe nun der Kleine im Maul des Fisches verschwand, glaubte seine Schwester noch das Wort „Mesuschkisinens“ zu hören, das sie aber im Augenblick nicht zu deuten wusste. Nach längeren Nachdenken meinte sie, er wünsche vielleicht einen Mokassin. Sie suchte also einen alten Schuh hervor, band ihn an ein Seil, warf ihn ins Wasser und befestigte das Seil an einem auf dem Ufer stehenden Baum. Der Fischkönig war ungeheuer neugierig und wollte wissen, was für ein sonderbares Ding das sei, das dort herumschwimme. Er bat den Kleinen in seinem Bauch deshalb um Auskunft. „Schwimm schnell hin und friss es!“ raunte ihm dieser zu, und der alte große Fisch, der als König doch mehr Klugheit hätte besitzen sollen, schluckte den alten Schuh auch wirklich hinunter.
Da lächelte denn der Kleine recht schalkhaft, ergriff mit beiden Händen das Seil und zog sich so mitsamt dem Fischkönig ans Land. Die Schwester staunte über die ungeheure Größe des Fisches, nahm aber beherzt ihr Messer und stach ihn tot. Darauf kroch ihr Bruder wohlbehalten aus dem Bauch heraus und befahl seiner Schwester, das Fleisch zu trocknen und fortan nie mehr an seinen außerordentlichen Fähigkeiten zu zweifeln. Das hat sie denn auch nicht mehr getan, und damit endet die Geschichte.
Quelle:
(Nordamerika)