Wie nannte man die Rose dort, wo sie blühte?
Wie nannte man den alten Strauch, der Jahr für Jahr voller Blüten stand? Anhamakan hieß die Rose des Lebens. Man erzählte sich von ihr, dass sie die Zauberkraft besaß und die Menschen vor dem Unglück beschützte. Etwas Wahres muss an den Geschichten dran sein, die man sich erzählte. So erzählte man, dass sie den betörenden Duft aller Rosen habe und ihre Blüten, wie der Vollmond blendeten. Und wer sich ihr näherte, wurde von ihrem betörenden Duft so trunken, dass er alle Enttäuschungen vergaß. Der Strauch der Rose Anhamakan wuchs inmitten eines königlichen Gartens. Doch eines Sommers, gerade unter der Herrschaft Avetis, öffnete sich nicht eine einzige Blüte, obwohl der Strauch voller kleiner, grüner Knospen war, die Tag für Tag praller wurden.
Eines Morgens fand der Gärtner die Knospen vertrocknet am Boden liegend. König Avetis war zornig, und der alte Gärtner wurde entlassen, Aber auch im nächsten Jahr fielen die Knospen der Rose wieder ab. Und so blieb es. Gärtner kamen und gingen, aber die Knospen der Rose fielen zur Erde. Der König ließ Gärtner aus fremden Ländern, gleich edlen Gewürzen, kommen. Nichts half. Der königliche Garten wurde zwar immer schöner und exotischer, weil jeder Gärtner seine Kunst vorführen wollte, aber die Rose Anhamakan blühte nicht, duftete nicht. Jedes Jahr kamen neue Rosenarten hinzu, und die fremdartigen Sträucher bogen ihre Zweige und Blätter über die künstlich ausgelegten Teiche, aber Anhamakan blühte nicht. Je unerreichbar die weißen Rosenblüten wurden, desto mehr sehnte sich der König nach ihnen.
Und als wieder einmal die Rosenzeit vorbei war, ließ er in seinem alljährlichen Wutausbruch den wer weiß wievielten Gärtner in den Kerker sperren, weil er die Rose nicht zum Blühen gebracht hatte. Eines Tages kam ein Jüngling namens Samwell in den Palast und bat den König, ihn als Gärtner in seine Dienste zu nehmen. Er versprach ihm die Blüte der Rose Anhamakan. Der König wollte davon nichts mehr hören, hatte er doch die besten und erfahrensten Gärtner aus aller Welt kommen lassen. Aber der Jüngling beharrte auf seinem Vorsatz und bat solange, bis ihn der König für ein Jahr zum königlichen Gärtner ernannte, obwohl er ihm nicht glaubte. „Du hast dir viel vorgenommen“, sagte der König. „Aber wehe, wenn du nicht hälst, was du versprachst, dann wirst auch du im Kerker enden.“ Der Jüngling erschrak ein wenig, verbeugte sich tief und verließ demütig den Thronsaal. Samwell war nun Herr über die königlichen Gärten, Herr und Diener zugleich.
Vom frühen Morgen bis zum späten Abend, jätete und stutzte er mit seinen Gehilfen die Zierbäume und – Sträucher, veredelte die Obstbäume, sorgte sich um die Rosen. Am meisten aber kümmerte er sich um den uralten Strauch inmitten des Gartens. Wie ein Kind umsorgte er ihn, seine Blätter waren grün und glänzten. Und als sich der Strauch zum Winterschlaf bereitete, bemühte er sich mit gleichem Fleiß um ihn, säuberte und düngte ihn, umhüllte seine Wurzeln mit lockerer Erde und den Stamm mit Nadelholzreisig. Im Frühling erstrahlte der Garten wieder in allen Farben: im Grün der Blätter, Blüten in weißer und rötlicher Farbe, aber auch blaue, gelbe und violette fehlten nicht. Auch der Rosenstrauch grünte und setzte viele Knospen an, unzählige.
Und sie wurden größer und größer. Bald werden sich die Knospen entfalten, vielleicht in drei oder in zwei Tagen, vielleicht schon in dieser Nacht. Es freute sich die Sonne, aber auch die Sterne und der Mond, schauten voller Unglück in die Dunkelheit. Am ungeduldigsten aber schaute der Gärtner Samwell auf den Strauch. Er hatte keine Ruhe und ließ kein Auge von ihm. Tag und Nacht stand er neben dem Rosenstrauch. Spät abends, der Garten war betäubend, eine Nachtigall sang, platzte die erste Knospe auf!
Da plötzlich brach die Erde an der Wurzel auf und etwas Dunkles kletterte flink den Rosenstock empor. Ein Wurm! Ein giftiger Wurm! Schon wollte Samwell zuspringen, wollte den Schädling zerdrücken, da flog die Nachtigall vorbei, die auf dem nahen Baum gesungen hatte, und schon krümmte und wand sich der rote Wurm in ihrem roten Schnabel.
Blitzschnell schlängelte sich eine riesige Schlange aus dem Buschwerk, verschlang die Nachtigall mit dem Wurm. Samwell ergriff die Axt, und schon teilte sich die riesige Schlange in zwei Hälften. Dann ward es still. Die Schlange war tot. Auch die Nachtigall starb und mit ihr der Wurm, der sich jahrelang von dem Rosenstrauch genährt hatte. Die Knospen des Rosenstrauches Anhamakan brachen auf und verströmten ihre betörenden Duft.
Als der neue Tag anbrach und die Sonne ihre ersten Strahlen zur Erde schickte, stand Samwell noch immer an der Stelle, wo die Rose des Lebens ihre Knospen entfaltet hatte. Wo sich ihr süßer und herrlicher Duft ausbreitete, fanden die Menschen Frieden und Freude. Etwas später, als die Sonne den Himmel vergoldete, trug der Rosenstrauch ein weißes Blütenkleid und die entfalteten Knospen badeten im funkelnden Tau. Samwell brach die schönste Blüte vom Strauch und trug sie zum König. Sein Herz jubelte vor Freude. Die Blüte hielt er hinter dem Rücken versteckt, denn er wollte den König überraschen.
Der König machte ein finsteres Gesicht, denn die Zeit der Rosenblüte war gekommen, und er sehnte sich nach seiner Anhamakan, nach ihrem süßen, herrlichen Duft, der die Sorgen vergessen läßt. Samwell hatte ihm die Rose Anhamakan versprochen, hatte sich nicht abweisen lassen. Nun wagte er sich zu ihm, um ihm kundzutun, dass auch ihm die jungen Knospen vertrocknet seien. „Wo hast du die Rose Anhamakan?“ fragte ihn der König. Und Samwell erzählte: „Die Nacht sank hernieder und alle sehnten den Schlaf herbei, da brach an der Wurzel die Erde leicht auf und ein giftiger Wurm kletterte den Rosenstock empor. „Das wirst du mir teuer bezahlen!“ schrie der König. Und Samwell erzählte: „Da flog eine Nachtigall vorbei, die auf dem Baum gesungen hatte und ergriff ihn.“ Der König war blass vor Wut. Doch Samwell ließ sich nicht irre machen. „Blitzschnell schlängelte sich eine riesige Schlange aus dem Buschwerk, verschlang die Nachtigall und den Wurm….“…“Das wird dich teuer zu stehen kommen!“….“Glücklicherweise hatte ich eine Axt bei mir und schlug die Schlange in zwei Teile“, rief Samwell. „Du hast nicht gehalten, was du versprochen. Wehe dir, du wirst es bereuen“, sagte der König zornig. Er horchte auf, als der Gärtner fortfuhr: „….Und hier, o König, hast du die Rose Anhamakan. Der Strauch steht in voller Blüte.“ Stolz sagte es Samwell. Und er reichte dem König die aufgeblühte Knospe, die wie der Vollmond leuchtete. Der König war sprachlos, erstaunt, betroffen. Vorsichtig nahm er die Rose in die Hand und näherte ihr sein Gesicht. Er fühlte sich froh und glücklich. Endlich hatte er seine Sehnsucht erfüllt, endlich hatte er die Rose Anhamakan wieder. Gleich würde er sie seiner schlafenden Gattin auf das Kopfkissen legen.
König Avetis eilte davon. Vergessen war die schlechte Laune, vergessen aber auch der Gärtner, der sich wieder an die Arbeit machte, obwohl gerade das Jahr abgelaufen war, für welches ihn der König in den Dienst genommen hatte. Wieder war ein Tag vergangen, es war schon spät und an der Zeit, sich schlafen zu legen.
Aber in den vielen Nächten, in denen er den Rosenstrauch umsorgte, hatte er unter freiem Himmel geschlafen. So war ihm dies zur Gewohnheit geworden. Die Gabelung eines Baumes, der mittags, wenn die Sonne hoch am Himmel stand, den schönsten Schatten spendete, wurde in dieser Nacht sein Lager. Der Baum war stark und breit, sodass Samwell bequem, in einer Decke gehüllt, dort schlafen konnte. Die Nachtigall sang, die Rosen dufteten, doch die Rose Anhamakan hatten den süßesten und lieblichsten Duft, der betäubend zu ihm heraufzog. Am frühen Morgen begannen die Vögel zu singen, und der östliche Himmel färbte sich rot von den Strahlen der aufgehenden Sonne. Samwel rieb sich gerade den Schlaf aus den Augen, als die Königin im weißen Gewand zum Teich kam.
Samwell wagte nicht zu atmen, als er sie erblickte. Aber was sollte er tun? Entweichen konnte er nicht mehr, dazu war es zu spät.
Hinter den Zweigen versteckt gewahrte er, wie sich die junge Königin das Kleid abstreifte und es zu Füßen auf den Boden fallen ließ. Danach steckte sie ihr schwarzes Haar hoch und stieg in das von der Morgensonne, golden gefärbte Wasser. Nach kurzer Zeit entstieg sie erfrischt dem Teich und kleidete sch an. Als sie ihre Arme empor streckte und den Kopf zurückbeugte, erblickte sie den Gärtner Samwell in den Zweigen des Baumes. Die Königin schrie erschrocken auf und lief zum König und begann zu klagen. Ach, ach, beim Bad habe sie der Gärtner erblickt, der sich fürwitzig in den Zweigen eines Baumes versteckt gehalten habe. Der König wurde sehr zornig. Er rief die Wachen und befahl ihnen, den Spitzbuben herbeizuschaffen. Gleich darauf brachten diese den Gärtner Samwell, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden, vor den König. Samwell kniete nieder, versuchte seine Unschuld zu beweisen, versuchte zu erklären, dass er nur in den Zweigen des Baumes geschlafen habe und erst aufgewacht sei, als sich die Königin dem Teiche näherte. Das Gesicht des Königs aber blieb hart wie Stein. Die Wachen zogen ihre Schwerter, und Samwell ahnte, dass ihn der Henker alsbald vom Leben zum Tode bringen würde, und er dachte bei sich, wenn ich schon mein junges Leben geben muss, soll der König auch vorher die Wahrheit hören. Und er sagte: „Gestern, o König, brachte ich dir mit freudigem Herzen die Rose des Lebens Anhamakan, die ich zum Erblühen gebracht habe. Doch Dank erhielt ich nicht. Im Gegenteil, als ich vom giftigen Wurm, von der Nachtigall und von der Schlange erzählte, unterbrachst du meine Worte und drohtest mir, dass ich alles teuer bezahlen müsse. Ich konnte den Sinn deiner Worte nicht verstehen. Jetzt verstehe ich ihn. Aber bevor ich mein Leben lasse, rufe ich dir zu, dass auch du, König, teuer bezahlen wirst!“
Den König grauste bei diesen Worten, und eine bange Ahnung überkam ihn. Vielleicht hatte der Gärtner die Kette der Wahrheit gefunden. Fehlt ein einziges Glied in der Kette, dann bricht sie entzwei und an ihrer Stelle tritt der Allbezwinger Tod. Er wollte das Schicksal nicht versuchen.
Darum sagte der König mit veränderter Stimme zum Gärtner: „Ich vertraue dir, Gärtner Samwell. Du sollst nichts teuer bezahlen. Du kannst als Gärtner in meinen Diensten bleiben. Kehre unverzüglich an die Arbeit zurück und erhalte mir die Rose des Lebens!“ Die Wachen befreiten ihn von den Ketten, und Samwell verließ den Palast als freier Mann. Er konnte immer noch nicht begreifen, was geschehen war. Lebend und gesund ging er durch den Garten, den lieblichen Duft der tausend Blüten einatmend und dem Summen der Bienen und dem Gesang der Vögel lauschend. Ein Gefühl grenzenloser Freude und grenzenloses Glücks erfüllten ihn, als er den Duft der Rose Anhamankan einsog.
Quelle: Ein Märchen aus Armenien – Kaukasus