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Der Zorn der Taiga

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In der Taiga gab es viele Tiere. Mehr Tiere als Bäume. Mehr Vögel als Zweige. Da stand man und sah einen hohen Baum, blickte man aber genauer hin, erkannte man, es war ein schlanker Elch, der Stolz der Taiga. Da sah man einen schwarzen Wurzelstock am Boden, schaute man aber genauer hin, so erkannte man: Es war der Bär, der Herr der Taiga. Und auf jedem Ast der Zirbelkiefer war nicht etwa flaumiges Moos, sondern ein Zobel mit goldenem Fell. Und auf den Zweigen wiegten sich Eichhörnchen. Es waren ebensoviel wie Kiefernzapfen. Und im Bach, der durch die Taiga floß, schwammen Biber. Sie bauten ihre Burgen und Dämme. Mitten in der Taiga weitete sich der Bach zum See. Sein spiegelndes Antlitz lächelte, und über dem See flatterten Falter. Fröhliche Fische schnappten nach ihnen. Die Fische tanzten und sprangen. Der Waldsee wimmelte von Fischen. Er atmete wie ein Lebewesen. Und am Waldrand hörte man die Auerhähne balzen. Und der Himmel klang und tönte wie die Saiten einer Harfe der Mansi. Ohne zu verstummen, hallte der Ruf der Schwäne in den Lüften. Und wenn sich die Entenschwärme zum Himmel emporschwangen, verdeckten sie die Sonne.
Viele Tiere lebten in der Taiga.
Die Menschen freuten sich. Sie jagten die Vögel, fingen die Fische, erbeuteten die anderen Tiere. Auf dem Wildwechsel hoben sie Elchgruben aus, auf den Zobelpfaden legten sie Schlingen, und an den Brutstellen spannten sie Vogelnetze. Mit Pfeil und Bogen holten sie den Vogel aus der Luft, mit der Armbrust erlegten sie das Wild, ersannen immer neue Fallen und freuten sich über ihre Kraft und Geschicklichkeit.
So ging es eine lange Zeit.
Doch einmal schien die uralte Taiga wie ausgestorben. Da mochte man schauen, solange man wollte, kein Baum wurde lebendig, seine Äste wurden nicht zum Geweih, er jagte nicht als Elch davon. Und der Wurzelstock blieb tot. Erblickte man einen Zobel und schlich sich an, so sah man, es war nur flaumiges Moos, das von den Ästen hing. Und im Taigabach gab es keine Biber mehr, die ihre Dämme bauten. Das Flüßchen lag voller Windbruch, verwandelte sich in einen Sumpf und roch nach übler Fäulnis. Wo sollten sich da die Fische tummeln? Der Himmel verstummte, als hätte man die tönendste Saite aus der Harfe gerissen. Die Menschen wurden still und ängstlich. GroßeFurcht ergriff sie. Sie begannen zu zittern und zu bangen, denn sie fühlten den Tod nahen. „Wer hat unseren Wald so öde gemacht und die Tiere vertrieben?“ fragten sie. „Hahaha!“ lachte die Elster. „Der Zorn der Taiga hat euch bestraft.“ (Die Elster ist ein ganz besonderer Vogel. Sie scharrt im schmutzigen Abfall und verträgt sich mit jedem Menschen. Sie ist der einzige Vogel, der sich dazu versteht.) „Hahaha!“ lachte die Elster. „Der Geist der Taiga hat euch bestraft. Ihr habt die Tiere erlegt, habt viele umgebracht und euch über eure Kraft gefreut. Habt nicht denken wollen, und nun hat euch der Zorn der Taiga bestraft. Hahaha!… Aber mir ist gar nicht zum Lachen zumute, auch ich fürchte euch. Eines Tages werdet ihr sogar mir nachstellen und mein schwarzes schmutziges Fleisch essen wollen. Ich fürchte euch.“
Da wurden die Menschen nachdenklich. Was sollten sie tun? Wie der Natur wieder Leben einhauchen? Wenn die Not nach den Menschen greift, erwachen sie. Berührt sie das Unheil, werden sie sehend. Die Augen sehen, die Ohren hören, das Herz erwacht, und die Vernunft beginnt sich zu regen. Was hatten die Menschen früher gedacht? Hatten sie tatsächlich nicht gesehen und nicht gehört?
Aber unter den Menschen war einer, der hieß Tasman. Einmal ging Tasman durch den Wald und hörte plötzlich in der dunklen Taiga ein furchtbares Brüllen. Es war nicht der Donner und nicht der. Wolf. Nein! Es war nicht das Ächzen der Bäume im Sturm und nicht das Weinen eines Kindes. Es war ein Elch, der vor Schmerzen brüllte und um Hilfe rief. Tasman floh nicht, erschrak nicht vor der fremden bösen Gewalt, die im Walde ihr Unwesen trieb. Er ging auf den Ruf zu, um dem Schwachen beizustehen, denn er war ein wahrer Jäger. Da sah er einen Elch zwischen den Zirbelkiefern. Und auf dem Rücken des Elchs hockte ein Bär, der dem Elch seine scharfen Krallen in den. Rücken gebohrt hatte.
In seinem Blutrausch bemerkte das Raubtier nicht die Gefahr, sah den Jäger nicht. Tasman eilte dem Schwachen zu Hilfe, denn er wußte, daß der Mörder bestraft werden mußte, sonst würde er alle vernichten. Er spannte den alten Bogen und ließ den alten Pfeil schwirren. Da beugte der Elch das majestätische Haupt vor Tasman, beugte das gewaltige Geweih und sprach mit menschlicher Stimme: „Hab Dank! Du bist ein Mensch!“ Auf seinem Rücken aber loderte die blutige Wunde. Tasman führte den Elch in seine Waldjurte, um ihn zu heilen. In roten Bächen floß das Blut zu Boden. Dort, wo der Elch entlanggeschritten war und Blut vergossen hatte, schauen jetzt allsommerlich Preiselbeeren mit roten Augen aus dem Moos.
Tasman heilte den Elch. Der bedankte sich bei dem Jäger und fragte: „Was soll ich für dich tun, Mensch?“ — „Der Zobel spielt nicht, der Auerhahn balzt nicht, der Fisch springt nicht. Wie kann man der Taiga und den Flüssen wieder Leben einhauchen?“ — „Schwing dich auf meinen Rücken“, sprach der Elch, „meine Beine sind lang und noch stark genug, vielleicht erreichen wir die Jurte des Taigageistes, des Königs aller Lebewesen.“ Da schwang sich Tasman auf den Rücken des Elchs.
Es war kein kurzer Weg. Hohe Berge, liefe Sümpfe und breite Flüsse mußten sie überwinden. Weder Schneesturm noch peitschender Regen schreckten Tasman. So kam er zum Königreich des Taigageistes. Es war ein Zauberland. Die Menschen konnten vorübergehen und nichts davon sehen. Ganz gewöhnliche Fichten, vielleicht nur etwas höher. Gewöhnliche Zirbelkiefern, vielleicht nur etwas verästelter und älter. Gewöhnliche Tannen, vielleicht nur etwas bemooster. Gewöhnliche Taiga, vielleicht nur etwas dunkler und geheimnisvoller. Würde ein braver Mensch kommen, er sähe das Wunder. Nicht jeder Mensch, sondern eben nur jener, der ein gütiges Herz, einen weisen Verstand und reine Hände hat. An wessen Händen aber auch nur ein Tropfen unschuldigen Blutes klebt, der sieht nicht das Zauberreich, wo Eichhörnchen mit Zobeln spielen, wo Hunde mit Wölfen Freundschaft halten, wo Elche und Bären in Frieden leben, wo Fische sich in den Flüssen tummeln, wo der Schwanenruf Tag und-Nacht über den Taigaseen hallt, wo das Lachen der Möwen, das Schnattern der Gänse und Enten nie verstummt.
Was für Tiere bekam Tasman hier zu sehen! Märchenhafte Tiere waren das, wundersame Vögel und Fische. Es waren so viele wie Mücken im Sommer und Schneeflocken im Winter. Den Geist der Taiga aber bekam Tasman nicht zu sehen, sondern nur zu hören. Ein Geist ist körperlos. Wie ein durchsichtiger, bläulicher Schatten trat der Geist zum Jäger und sprach: „Sei gegrüßt, Kömmling aus der Ferne! Was führt dich zu mir? Sprich, ich höre.“ — „Oh, großer Geist der Taiga“, sprach Tasman. „Ich komme im Namen aller Fischer und Jäger. Hilf uns!“ — „Mensch, ich weiß, daß du ohne Fleisch nicht leben kannst, ohne Fisch kein Glück kennst. Ich will die Tiere zurückkehren lassen, wenn du nicht nur Gast auf der Erde, sondern ihr Herr und Verwalter sein willst.
Höre, was ich dir noch zu sagen habe:
O Mensch!
Sei stets ein Fischer mit Verstand,
und wenn du jagst,
so leit‘ dein Herz die Hand.
Doch wohnt in deiner Seele Grimm und Gier,
so mögen meine Worte dir
als Dolch die Brust durchbohren!
Das habe ich als Strafe dir erkoren!
Und wenn dein arges Beil
der Taiga nicht gereicht zum Heil,
dann mag der Bär die Wälder rächen
und jeden Knochen dir im Leibe brechen.
Und stellst du nach der Brut der Lachse,
so mögen ihre Gräten in deinem Eingeweide wachsen
und dir die Därme allesamt durchbohren.
Das habe ich als Strafe dir erkoren!“
Tasman lauschte der Beschwörung und spürte, daß seine Knie bei den Worten schwach wurden, und sah, daß die Bären die Pranken hoben, um ihn zu packen, und im Bauch spürte er einen stechenden Schmerz. War es tatsächlich der junge Fisch, den seine Stammesbrüder gefangen hatten, ehe er groß geworden war? Würden die Gräten dieses Fisches ihn tatsächlich durchbohren? Aber ihn traf doch keine Schuld! Nie hatte er die jungen Fische gefangen, nie mehr Tiere erlegt, als er brauchte. Warum wollte ihn der Geist der Taiga bestrafen? Da sprach plötzlich der Elch mit menschlicher Stimme: „Tasman hat mich gerettet, er hat meine tödlichen Wunden geheilt und mir die Lebensfreude wiedergegeben. Tasman ist unschuldig.“
In Tasmans Knie kehrte die Kraft zurück, sein Rücken straffte sich, und die Bären unter den Zauberbäumen ließen die Pranken sinken. Da atmete Tasman erleichtert auf und hörte erneut die Stimme des unsichtbaren Geistes: „Du warst gütig, und ich will dir verzeihen. Aber wisse: Du trägst die Verantwortung für alle anderen!“ Ein Uhu, ein Zaubervogel, wiederholte diese Worte siebenmal, und siebenmal wiederholte sie ein Eistaucher. Und das Zauberecho trug diese Worte des Geistes in die Welt hinaus. Nun wußten alle: Tasman war ein wahrer Mensch. Alle wuhten jetzt: Die Menschen konnten gute Herren und Verwalter sein. Und wieder vernahm Tasman die Stimme des Geistes: „Ihr Menschen, ihr sagt süße Gebete her. Aber nicht der Gebete wegen lasse ich die Tiere zu euch zurückkehren. Nein! Nur weil ein wahrer Mensch unter euch lebt.“ — „Ein Mensch! Ein Mensch! Ein Mensch!“ wiederholten der Uhu und der Eistaucher, und das Echo trug die Worte weiter.
Ein Knistern und Krachen ging durch die ganze Taiga: Es waren die Hirsche und Elche, die Zobel und Eichhörnchen, die nach Norden zurückkehrten. Die Gewässer kochten: Ganze Fischschwärme schwammen zu den heimatlichen Flüssen und Seen. Der Himmel klang und tönte: Die Vögel kehrten zur heimatlichen Mitternachtssonne zurück, um in der Heimat zu brüten. Und inmitten dieser fröhlichen Musik tönten die strengen Worte des Geistes der Taiga, des Königs der Tiere:
Ihr Menschen!
Denkt daran, ihr seid nicht Gäste,
Herrn seid ihr an der reichgedeckten Tafel,
die Mutter Erde rüstet wie zum Feste.
Und damit diese Tafel nie verarme,
damit Tiere bevölkern Wald und Strom,
damit die Flüsse nie versiegen,
damit uns leuchte stets des Glückes Licht,
laß uns zur Einsicht kommen:
Nur eine Erde gibt’s, und eine zweite gibt es nicht.
Die Tiere wanderten nach Norden, und auch Tasman ritt auf seinem Elch in die Heimat. In seinem Herzen wohnte Glück. Aber in seiner Vernunft nistete ein Gedanke:
Wird der Mensch immer ein Mensch sein können?

Quelle:
(Märchen der Mansi)

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