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Der weiße Hase und der Wolf

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Es war einmal ein alter Mann mit Namen Möge-Saryg. Er hatte weder Kinder noch Vieh. Er wanderte durch die Dörfer und aß, was man ihm gab. An einem Kreuzweg erblickte er einmal einen großen Ledersack. Oh, das ist aber mal ein glücklicher Fund! freute er sich und schnürte hastig den Sack auf. Da sprang ein hungriger grauer Wolf mit gefletschten Zähnen heraus und rief: „Aha, Alter, gleich zerfleische ich dich! Ich verschlinge dich bis zum letzten Knochen und bis zum letzten Tropfen und lasse nichts übrig! Endlich ist ein Freudentag für mich angebrochen!“ Der Alte erschrak dermalen, daß er keine Antwort fand und nur murmelte: „Warten Sie bitte … Beeilen Sie sich nicht… Essen Sie mich erst heute abend.“ Der Wolf überlegte: meinetwegen. Die Beute entgeht mir nicht. Dann sah er zur Sonne hoch. Der Alte aber sprach: „Ich habe dich gerettet, du aber willst mich fressen. Das ist nicht recht von dir. Soll jemand unsern Fall entscheiden!“
Zu zweit gingen sie weiter. Bald trafen sie einen riesigen Ochsen. Der Alte sagte zum Ochsen: „Dieser Wolf saß in einem Sack, und ich habe ihn gerettet. Sage du, lieber Ochse, darf er mich fressen?“ Der Ochse dachte lange nach und sagte dann: „Ich kann euren Streit nicht entscheiden. Mir ist unbegreiflich, wie ein Mensch einen Wolf retten kann. Aber in dem Wald dort drüben wohnt ein weißer Hase. Der ist sehr klug und wird eine Antwort wissen. Begebt euch zu ihm.“
Der Alte und der Wolf betraten den Wald. Aber der Hase ließ sich nicht blicken. Der Wolf war so hungrig, daß er den Alten schon verschlingen wollte. Doch da tauchte in der Ferne der Hase auf. „He, Hase! Warte! Lauf nicht davon! Entscheide unseren Streit!“ schrie der Alte. Der Hase näherte sich und fragte: „Was für einen Streit habt ihr?“ — „Ich ging meinen Weg, sah einen Sack, band ihn auf, und der Wolf sprang heraus! Ich habe ihn gerettet, er aber will mich fressen“, erklarte der Alte. „Ja, das will ich!“ bestätigte der Wolf. Da sagte der Hase: „Ich bin ein echter Richter. Zuerst muß ich den Ort sehen und mir anschauen, wie du den Wolf gerettet hast.“
Zu dritt langten sie am Kreuzweg an. „Zeig einmal, Alter, wo der Sack lag“, bat der Hase. „Der Sack lag da“, der Alte zeigte es. „Leg ihn genau an die Stelle“, erklärte der Hase, „und du, Wolf, zeige, wie du im Sack gelegen hast.“ Der Wolf kletterte in den Sack. „War der Sack zugebunden?“ fragte der Hase. „Ja“, antwortete der Alte. „Wie war er zugebunden? Zeig es!“ verlangte der Hase. Der Alte schnürte den Sack zu. „Das wär’s“, sagte der Hase. „Ich habe euren Streit entschieden. Setze deinen Weg fort, Alter, der Wolf soll ruhig im Sack bleiben. Lebt wohl!“ Haken schlagend entfernte sich der Hase in den Wald.

Quelle:
(tuwinisches Märchen)

 

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