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Der seltsame Knabe

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In einem Dorf, weit im Norden, lebte ein Mann mit Frau und Kind; das war ein Sohn. Dieser Knabe war ganz anders als die anderen: wenn die Dorfkinder herumliefen, schrien und miteinander spielten, saß er still und gedankenvoll am Dach des Hauses und niemals aß er oder trank er etwas anderes, als was seine Mutter ihm gab.

Die Jahre verstrichen und er wurde mannbar, aber seine Gewohnheiten waren noch immer die gleichen geblieben. Seine Mutter nähte ihm nun ein Paar Fellschuhe mit sehr dicken Sohlen, einen doppelten wasserdichten Anzug, und noch einen aus den Fellen einjähriger Renntiere. Täglich saß er am Hausdach, ging am Abend hinein essen und schlief bis zum nächsten frühen Morgen, ging dann wieder aufs Dach zurück und erwartete den Tagesanbruch.

Eines Tages aber ging er, nachdem die Sonne aufgegangen war, wieder nach Hause und fand seine neuen Kleider fertig. Er versah sich mit Lebensmitteln, zog die neuen Kleider an und erklärte dann seiner Mutter, daß er auf eine Reise nach Norden gehe. Seine Mutter weinte bitterlich und bat ihn, doch nicht dorthin zu gehen, denn keiner von denen, die nach dem hohen Norden gegangen, sei jemals zurückgekehrt. Er beachtete das aber nicht, sondern nahm seinen Bärenspieß, verabschiedete sich und ging fort; die Eltern ließ er weinend und ohne alle Hoffnung auf seine jemalige Heimkehr zurück, obwohl sie ihn sehr liebten und seine Mutter ihm ausdrücklich gesagt hatte, daß noch keiner ihres Dorfes, der nach Norden gegangen, je wiedergekommen wäre.

Der junge Mann wanderte weit und erreichte, als es Abend wurde, eine Hütte, aus deren Dachluke Rauch aufstieg. Er zog nun den wasserdichten Anzug aus, legte ihn vor den Eingang und kroch dann behutsam aufs Dach und blickte durch den Rauchabzug. In der Mitte des Raumes brannte ein Feuer und eine alte Frau saß am Platz des Hausvaters, während ein alter Mann, der gerade vor ihr saß, Pfeile schnitzte. Während der junge Mann noch am Dach lag, rief der Alte ohne seinen Kopf emporzuheben: „Warum liegst du da draußen? Komm doch herein!“ Der Junge glaubte sich entdeckt, obwohl der Alte gar nicht aufgesehen hatte, erhob sich und ging hinein. Als er eintrat begrüßte ihn der Mann und fragte, warum er nach Norden auf die Suche nach einem Weib gehe und fuhr dann fort: „Es sind dort viele Gefahren, du tätest besser daran, umzukehren; ich bin der Bruder deines Vaters und meine es gut mit dir. Weiter hinaus zu sind die Leute sehr schlecht und wenn du weitergehst, wirst du nie zurückkommen.“

Der junge Mann war sehr erstaunt, den Zweck seiner Reise zu hören, da er ihn nicht einmal seinen Eltern verraten hatte. Nachdem er hier etwas gegessen, schlief er bis zum nächsten Morgen und schickte sich dann an, weiter zu gehen. Der alte Mann gab ihm ein kleines schwarzes Ding, das mit etwas gelbem, wie ein Eidotter, gefüllt war und sagte dabei: „Wenn du unterwegs wenig zu essen haben wirst, soll dich das stärken.“ Der junge Mann schlang es mit einem Schluck hinunter, fand es sehr schmackhaft, schöpfte tief Atem und sagte: „Ah, jetzt fühle ich mich stark.“ Dann nahm er seinen Speer und zog los. Knapp vor Einbruch der Nacht kam er zu einer anderen einsamen Hütte und als er hineinsah, bemerkte er wieder ein Feuer, eine alte Frau an der einen Seite sitzend und gerade unter sich einen Mann, der Pfeile schnitzte. Wieder rief der alte Mann, ohne den Kopf zu heben hinaus und fragte, warum er nicht hereinkomme, sondern draußen stehe. Wieder war er erstaunt den Zweck seiner Reise zu vernehmen und abermals wurde er gewarnt weiterzuziehen. Auf all das aber achtete der Jüngling nicht, sondern aß und schlief da, wie tags zuvor. Als er am Morgen bereit war aufzubrechen, sah der alte Mann ein, daß er ihn nicht zurückhalten könne und so gab er ihm ein kleines, reinweißes Ding und bedeutete dem Wanderer, er werde unterwegs nicht viel zu essen bekommen und dies werde ihm helfen. Auch dies Ding schluckte der Jüngling auf einmal hinunter, fand es aber nicht so kräftigend, wie das Ding, das er am vorigen Morgen genossen hatte. Der alte Mann gab ihm noch den Rat, wenn er unterwegs etwas hören sollte, was ihn erschrecke, das zu tun, was ihm zuerst einfalle.

„Niemand würde, wenn mir etwas zustößt, um mich weinen,“ sagte der Wanderer und zog, den Speer in der Hand, davon. Ungefähr um die Mittagszeit gelangte er in der Nähe der Küste an einen großen Teich und umging ihn auf der Landseite. Als er schon ein Stück dieses Umwegs hinter sich hatte, hörte er ein entsetzliches Gebrüll, wie Donnerschläge; aber so laut war es, daß ihm ganz schwindlig wurde und er für einen Augenblick gar nichts von seiner Umgebung bemerkte. Er lief vorwärts, aber der fürchterliche Lärm wiederholte sich alle Augenblicke, so daß er jedesmal stolperte, schwindlig wurde und ganz nahe der Ohnmacht war; er hielt es aber doch aus. Der Lärm nahm zu und schien mit jedem Schrei näher zu kommen, bis er dicht an seiner Seite ertönte. Er sah in die Richtung, aus der er herkam und bemerkte einen großen Korb aus Weidenruten durch die Luft auf sich zufliegen; von dem rührte der entsetzliche Lärm her.

Der Wanderer sprang in eine nahgelegene Erdhöhle, als ein fürchterlicher Krach die Erde erschütterte und er bewußtlos wurde. Einige Zeit, während der Korb sich herum bewegte, als suche er ihn und fürchterliche Laute von sich gab, lag er wie tot da. Als der Jüngling dann wieder zu sich kam, horchte er erst einige Zeit auf und da alles ruhig war, stieg er aus seinem Versteck und sah sich um. Ganz in der Nähe lag der Korb am Boden und eines Mannes Kopf und Schultern sahen oben heraus. Wie der Jüngling das sah, schrie er: „Auf was wartest du? Geh, sei nicht langweilig und mach mir einen anständigen Lärm, du!“ Dann sprang er zurück in die Höhle und wurde von dem fürchterlichen Gebrüll aus dem Korb sofort wieder bewußtlos. Als er wieder genugsam zu sich gekommen war, stieg er heraus, konnte den Korb aber nirgends sehen. Da hob er beide Hände auf und rief Donner und Blitz an, ihm zu Hilfe zu kommen. Da kam auch der Korb gerade wieder heran, aber oben sah nur der Kopf des Mannes heraus. Nun hieß er Donner und Blitz auf den Korb losfahren und die machten ein derartiges Gekrach, daß dem Korb-Zauberer Angst und bange wurde und er zu Boden fiel.

Sobald der Donner aufhörte, begann der Korb sich zurückzuziehen; der Zauberer war schon fast tot vor Angst. Da rief der junge Mann: „Donner, verfolg ihn! Geh vor ihm und hinter ihm und erschrick ihn!“ Der Donner tat so und der Korb flog davon, von Zeit zu Zeit zu Boden fallend. Dann ging der Wanderer weiter und erreichte in der Dämmerung ein Dorf. Wie er näher kam, lief ihm ein Knabe entgegen und sagte: „Wieso kommst du aus dieser Richtung hierher! Von der Seite ist noch nie jemand hergekommen, denn der Korbzauberer läßt kein lebendes Wesen am See vorbei, gar keins, nicht einmal eine Maus. Er bemerkt es immer, wenn irgend etwas diesen Weg daher kommt und geht ihm entgegen, um es umzubringen.“

„Ich habe nichts gesehen,“ sagte der Wanderer. „Gut,“ sagte der Knabe, „du bist ihm noch nicht entronnen, denn der Korbmann ist jetzt da und wird dich umbringen, wenn du nicht umkehrst.“ Und als der Jüngling sich umsah, erhob sich ein großer Adler und flog auf ihn zu; der Knabe lief weg. Der Adler kam näher, erhob sich noch ein wenig und schoß dann auf ihn herab, um ihn mit seinen Klauen zu zerreißen. Wie er so herabkam, schlug sich der Jüngling mit der Hand auf die Brust und aus seinem Mund flog ein Geierfalke schnurstraks auf den Adler los, ihm zum Hinterleib hinein und beim Schnabel heraus und davon.

Dieser Geierfalke entstammte dem Stärkungsmittel, das der erste alte Mann dem Jüngling unterwegs gegeben hatte. Während der Geierfalke aus dem Adler herausflog, schloß dieser die Augen und schnappte nach Luft; diese Gelegenheit benutzte der Jüngling, um zur Seite zu springen, so daß dort, wo er gerade gestanden, des Adlers Klauen in den Boden griffen. Wieder erhob sich der Adler und stieß herab und wieder schlug sich der junge Mann mit der Hand auf die Brust und ein Hermelin sprang aus seinem Mund, fuhr wie ein Blitz dem Adler unter die Flügel und fast im gleichen Augenblick hatte er sich schon zweimal durch den Leib des Vogels hin und her hindurchgefressen, so daß dieser tot niederfiel, worauf der Hermelin verschwand. Dieser Hermelin entstammte dem Geschenk des anderen alten Mannes, bei dem der Wanderer gerastet hatte.

Nachdem nun der Adler gefallen war, begab sich der Jüngling zum Haus des Zauberers und der Knabe schrie ihn an: „Geh nicht dorthin, du wirst umgebracht werden!“Daraufhin entgegnete ihm der Wanderer: „Ich habe keine Angst, ich will das Weib dort drinnen sehen und ich muß jetzt hingehen, denn ich bin wütend und wenn ich bis morgen warte, wird mein Ärger verflogen sein und ich werde nicht so stark sein wie jetzt.“ „Du tätest besser daran, bis morgen zu warten,“ sagte der Knabe, „denn es bewachen zwei Bären den Eingang und die werden dich sicherlich umbringen. Aber wenn du durchaus willst, so geh und laß dich umbringen. Ich wollte dich nur retten und will nun nichts mehr mit dir zu tun haben.“ Und ärgerlich ging der Knabe ins Haus zurück. Der Jüngling ging nun zum Haus und bemerkte, als er in den Eingangsflur hineinsah, dort einen großen weißen Bären schlafend liegen. Er schrie ihn an: „Ah, Weißbär!“ worauf dieser aufsprang und auf ihn zulief. Der junge Mann sprang nun auf die Decke des Eingangsflurs und als der Bär hinter ihm herauslief, stieß er ihm seinen Speer ins Hirn, daß er tot zusammenbrach. Den Körper wälzte er nun beiseite, sah wieder hinein und erblickte einen roten Bären dort liegen. Wieder rief er: „Ah, Rotbär!“ Der rote Bär rannte ihm nach und er sprang wieder auf seinen vorigen Platz. Als der rote Bär draußen war, schlug er mit seiner Vorderpratze nach ihm; da packte der Jüngling die Pratze mit der Hand und schwang den Bären über seinem Kopf und schlug ihn gegen den Boden, bis nichts mehr von ihm übrig war, als die linke Pratze. Die warf er weg und ging nun ohne weitere Schwierigkeiten ins Haus. An der einen Hauswand saß ein alter Mann und eine alte Frau und an der gegenüberliegenden, ein schönes junges Weib, dessen Antlitz er in seinen Träumen gesehen hatte und die der Anlaß zu seiner langen Fahrt gewesen war. Sie weinte, als er hereinkam; er ging auf sie zu, setzte sich neben sie und sagte: „Warum weinst du ? Was hast du verloren, daß du danach weinst?“ Sie antwortete: „Du hast meinen Mann umgebracht, aber deswegen bin ich nicht traurig, denn er war ein schlechter Mann. Aber du hast auch die beiden Bären getötet, die mein Brüder waren und um die traure und weine ich.“ „Weine nicht,“ sagte er, „denn ich will dein Gatte sein.“ Er blieb nun eine Zeitlang da, nahm dieses Weib zu seiner Frau und lebte in dem Haus zusammen mit ihren Eltern. Jede vierte Nacht schlief er im Festhaus und die übrige Zeit zu Hause.

Nachdem er einige Zeit hier gelebt hatte, fiel ihm auf, daß seine Frau und ihre Eltern immer trauriger wurden und sehr oft weinten. Dann sah er Dinge vor sich gehen, die ihn glauben machten, sie sannen darauf ihm etwas anzutun. Als er sich hierüber Gewißheit verschafft hatte, ging er eines Tags nach Hause, legte seiner Frau die Hand auf die Stirne, drehte ihr Gesicht zu sich herum und sagte: „Ihr wollt mich umbringen, du treuloses Weib; zur Strafe sollst du sterben!“ Dann nahm er sein Messer und schnitt ihr den Hals durch. Traurig ging er nun zurück in sein Heimatdorf, wo er nachdem die Erinnerung an sein treuloses Weib verblaßt war, wie früher, bei seinen Eltern lebte. Er nahm aus den Jungfrauen des Dorfes eine zur Frau und verlebte mit ihr glücklich den Rest seiner Tage.

Quelle:
(Eskimomärchen)

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