Vor langer, langer Zeit lebte einmal ein König mit Namen Iskander, genannt der Gehörnte. Er regierte über ein riesiges Land, das sich im Westen bis Jemen und im Osten bis zum Jaxartes erstreckte. König Iskander hatte einen sehr redegewandten und findigen Wesir, der Tairdshan hieß. Eines Tages wandte sich der König an sein Gefolge: „Hört, was ich euch sagen will! Ich habe mir etwas erdacht, nur weiß ich nicht, ob ihr es ausrühren könnt.“ – „Sprecht, edler Herrscher! Wir hören Euch zu“, antworteten die Höflinge, während sie sich ehrerbietig verneigten. „Ihr wisst, dass ich über die ganze Welt herrsche. Da ihr aber meine Ratgeber seid, bitte ich euch um folgendes: Man sagt, es gebe Himmelsbewohner und auch Wesen, die unter der Erde hausen. Ihr sollt die Himmelsbewohner veranlassen, zur Erde herabzukommen, und mir außerdem die Bewohner der Unterwelt unterwerfen, damit sie mir Tribut entrichten! Ich will, dass ihr die Himmelsbewohner findet und erfahrt, was sie dazu sagen. Wer meinen Auftrag als erster auszuführen vermag, den ernenne ich zu meinem Wesir.“ Die Höflinge beratschlagten und flüsterten in den Winkeln des Palastes, dann gaben sie König Iskander zur Antwort: „Wir sind Eure Untertanen, und unser Leben liegt in Eurer Hand. Das habt Ihr uns eben gesagt. Hört nun, was wir zu sagen haben. Unsere Antwort auf Euer Begehren lautet, dass dies unerfüllbare Träume sind. Der Himmel ist weit und die Erde hart. Wie soll man zum Himmel gelangen oder in die Tiefe der Erde eindringen? Es liegt nicht in unserer Macht, von den Menschen der Unterwelt Tribut zu erheben. Jeden Eurer Wünsche haben wir stets erfüllt, aber diesen Auftrag können wir nicht übernehmen.“ König Iskander war verwundert und wusste nichts zu entgegnen, doch da kam ihm sein zungenfertiger Wesir Tairdshan zu Hilfe. „O Herr“, sagte er „ehe Ihr uns so einen Auftrag erteiltet, habt Ihr ihn natürlich sorgfältig durchdacht, nicht wahr? Ich möchte Euch aber an einem Beispiel zeigen, wie unmenschlich schwer es ist, diesen Auftrag auszuführen.“ – „Dann sprich, ich höre!“
Nun wandte der geschickte Wesir seine ganze Redekunst auf und erzählte: „Unter den Meeren gibt es ein riesiges, das man das Salzmeer nennt. Alle Salzseen und Meere sind klein, dieses jedoch erstreckt sich nach allen Seiten, und es gibt in der ganzen Welt keines, das ihm gleich käme. Schon lange habe ich gehört, dass es auf dem Grunde dieses Meeres Lebewesen – Nixen, Nymphen und Wassergeister – gibt. Sie leben ungestört, schwimmen durch die Weiten und sind niemandem Untertan. Wir wissen aber nicht genau, ob es diese Lebewesen auf dem Meeresgrunde wirklich gibt. Wollen wir uns ein Verfahren überlegen, um ihrer habhaft zu werden!“ – „Dann denkt euch ein Verfahren aus, wie ihr sie uns wohl botmäßig machen könntet!“ – „Wir bauen ein gläsernes Haus“, schlug der Wesir Tairdshan vor. „Eure Schmiede sollen große, schwere Ketten anfertigen. Mit ihnen umwickeln wir das Glashaus, holen einen Verbrecher aus dem Kerker, setzen ihn in das Haus, blasen Luft hinein, damit er nicht erstickt, und werfen das Glashaus ins Wasser, wie man Steine hineinwirft. Dem Verbrecher befehlen wir, auf dem Meeresgrund zu erkunden, ob dort Menschen leben. Wir versprechen ihm, dass wir ihm alle seine Untaten vergeben und ihn freilassen, wenn er es herausbekommt.“
König Iskander billigte den Rat und lobte den Wesir: „Für diese Worte danke ich dir, Tairdshan, du bist fürwahr ein kluger Wesir! Wir müssen es unbedingt erfahren.“ Nun ließ der Wesir ein Glashaus anfertigen, Ketten schmieden und einen Verbrecher holen, der zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt worden war. „Du lässt dich auf den Meeresgrund hinab“, gebot ihm König Iskander, „und wirst erfahren, ob es dort Menschen gibt. Danach lasse ich dich frei.“ Der Verbrecher wurde in das Glashaus gesetzt und ins Meer geworfen.
Als das Glashaus den Meeresboden berührte, umkreisten es Nixen, Nymphen, Wassergeister und andere Bewohner der Meerestiefen. Als sie einen Menschen erblickten, drangen sie wütend auf ihn ein und verhörten ihn: „Wer bist du? Unter uns gibt es keinen einzigen, der dir ähnlich sieht. Sage, wer du bist, sonst machen wir mit dir, was wir wollen. Wir sind dazu imstande!“ – „Ich bin ein Abgesandter“, antwortete der Mensch. „Ich komme von oben zu euch auf den Meeresgrund herab. Unser König Iskander, der Beherrscher der ganzen Erde, hat mich ausgesandt, um zu erfahren, ob hier, auf dem Meeresgrunde, Menschen leben. Mein König hat befohlen: Wenn dort Menschen leben, die keinen König haben, dann mögen sie mir Tribut entrichten und mit ihren Beschwerden zu mir kommen. Ich werde über sie urteilen und sie bestrafen. Darum kam ich her. Was meint ihr dazu?“
Über diese Nachricht wunderten sich die Meeresbewohner und überlegten: ‚Dort oben gibt es also einen König. Er regiert über die ganze Erde, und jetzt möchte er uns unterwerfen!‘ „Also gut“, meinten die Meeresbewohner. „Demnach bist du ein Abgesandter des Königs. Nimm diese Dinge und bringe sie deinem König! In dieser großen Schüssel ist Mehl. Aus dem Mehl möge er Fladen backen, sie selbst essen und die Schüssel dann bis oben mit Silber- oder Goldmünzen füllen. Wenn er es dort auf der Erde fertig bringt, die Schüssel mit geprägtem Silber oder rotem Gold zu füllen, dann werden wir hier auf dem Meeresgrund seine Macht anerkennen, ihm Tribut zollen und uns mit Beschwerden an ihn wenden. Dann soll er uns aburteilen und bestrafen. Wenn er das nicht vermag, braucht er sich keine Mühe zu geben. Dann werden wir mit unseren Anliegen nicht zu ihm kommen!“
Der Häftling hörte sie an, nahm die Schüssel mit Mehl und stieg vom Meeresgrund empor. „Was für Nachrichten bringst du uns? Was hast du erfahren?“ wollte König Iskander wissen. „Diese Schüssel mit Mehl hier ist der Beweis, dass ich auf dem Meeresgrunde war. Und nun hört, was mir seine Bewohner aufgetragen haben. Ihr sollt das Mehl aus dieser Schüssel nehmen und Fladen daraus zubereiten. Essen sollt Ihr sie selbst. Dann sollt Ihr die Schüssel mit Silber- oder Goldmünzen füllen. Wenn Dir das vermögt, werden die Meeresbewohner mit ihren Anliegen zu Euch kommen. Ihr könnt sie dann aburteilen und bestrafen. Vermögt Ihr das nicht, so sollt Ihr wie vordem auf der Erde regieren, und sie werden weiter ohne König auf dem Meeresgrunde leben.“
Der König hörte den Häftling an, nahm die Schüssel mit dem Mehl und dachte: ‚Dann gibt es also auf dem Meeresgrunde weder Silber noch Gold. Ich muss eine Handvoll Goldmünzen hineinlegen!‘ Doch der Wesir Tairdshan schien die Gedanken seines Königs erraten zu haben. Er warnte: „Glaubt nicht, dass es auf dem Meeresgrunde nichts gebe! Dort muss sowohl Gold als auch Silber sein. Sie haben Euch diese Schüssel nicht ohne Grund geschickt. gewiss hat es mit ihr eine Bewandtnis.“ – „Welche Bewandtnis kann es schon haben? Worin mag sie bestehen, und wie erklärt man sie?“ – „Wenn man das Mehl aus der Schüssel ausschüttet und eine volle Kappe Münzen hineinwirft, werden wir erfahren, welche Bewandtnis es mit ihr hat“, antwortete Tairdshan. „Versuchen wir es doch!“ meinte der König. „Man bringe mir aus meiner Schatzkammer recht viele Münzen!“ Der Schatzmeister füllte sich einen seiner Rockschöße mit Gold, den anderen mit Silber und brachte alles dem König. „Wirf das Gold in die Schüssel!“ befahl Iskander.
Der Schatzmeister warf eine Handvoll Münzen hinein, doch in der Schüssel war nichts zu sehen. Er warf noch eine Handvoll hinein. Wieder war alles verschwunden. Da schüttete er alles Gold und danach alles Silber aus seinen Rockschößen in die Schüssel. Iskander und der ganze Hof blickten hinein, doch in der Schüssel war keine Münze zu sehen. Da befahl der König: „Bringe noch Münzen und schütte davon solange hinein, bis ich ‚genug‘ sage!“ Der Schatzmeister brachte immer wieder neue Münzen, stopfte alle Rockschöße voll und warf die Münzen in die Schüssel. König Iskander blickte hinein. Es war aber nichts zu sehen. Vor Wut knirschte er mit den Zähnen und schrie: „Man hole mir die Weissager her!“ Die Weissager wurden geholt, verneigten sich tief und fragten: „Ihr habt uns rufen lassen? Wir sind bereit, Eure Befehle zu befolgen.“ – „Setzt euch nieder! Hört, weshalb ich euch rufen ließ. Ich hatte befohlen, einen Abgesandten auf den Grund des Salzmeeres hinab zu lassen, um mir die Bewohner der Meerestiefen zu unterwerfen. Sie gaben meinem Abgesandten eine Schüssel und sagten, wenn ich es fertig brächte, diese mit Silber- oder Goldmünzen zu füllen, dann könnte ich über sie regieren, und sie selbst würden mit ihren Anliegen zu mir kommen, damit ich urteile und strafe. Wenn ich es aber nicht zuwege bringe, die Schüssel mit Gold oder Silber zu füllen, dann kämen sie nicht zu mir, und ich könnte sie nicht regieren. Wir haben sehr viel Gold und Silber in die Schüssel geworfen, konnten sie aber nicht füllen. Worin steckt das Geheimnis? Überlegt es euch und sagt mir dann, was das für eine Schüssel ist, und welche Bewandtnis es mit ihr hat. Warum hat man sie mir geschickt?“
Die Weissager antworteten: „Wir werden jetzt Spielknöchel werfen und sehen, Wie viel Augen sie uns zeigen, die Zahl erfahren und es dann erklären.“ – „Tut, was ihr wollt, nur erklärt mir, worin Geheimnis und Bedeutung dieser Schüssel bestehen!“ Die Weissager warfen die Knöchel, verneigten sich ehrerbietig und sagten: „Diese Schüssel wurde Euch gesandt, um Euch zu erproben. Es ist keine gewöhnliche Schüssel, in ihr steckt ein Zauber. Wenn Ihr sie nicht mit Erde füllt, könnt Ihr hineinlegen, was Ihr wollt – alles wird darin verschwinden. Die Meeresbewohner hatten nämlich beschlossen: Warum sollen wir ihm Untertan sein, wenn er nicht imstande ist, die Schüssel zu füllen? Wie will er uns regieren? Soll er uns nicht anrühren! Wir gehen ihn nichts an, mag er bei sich auf Erden leben. Wir aber werden unter Wasser leben, wie wir es gewohnt sind.“ Als König Iskander diesen Spruch hörte, ließ er Erde in die Schüssel werfen. Sofort stiegen in ihr die Gold- und Silbermünzen bis zum Rande empor. Der König ließ sie einsammeln, und wieder erschienen Münzen bis zum Rande. So ließ Iskander alles Gold und Silber herausholen und in die Schatzkammer zurückbringen. Darauf dachte er lange nach, konnte aber nichts entscheiden. ‚Das also ist die Bewandtnis mit dieser Schüssel!‘ sagte er sich. ‚Jetzt wollen wir einmal sehen, was aus dem Mehl entsteht.‘ Er gab das Mehl seiner Frau und hieß sie die Fladen backen.
Iskanders Frau knetete Teig, machte Feuer, ließ die Backglocke heiß werden und wollte die Fladen an ihre Wände kleben. Doch die Fladen aus dem Mehl der Meeresbewohner blieben nicht an ihnen haften. Wie sehr sie sich auch Mühe gab, sie festzudrücken, es nützte nichts. Einer nach dem anderen fielen die Fladen in die heiße Asche. Verwundert dachte Iskanders Frau: ‚Was mag das nur für ein Mehl sein?‘ Dann bereitete sie Teig aus einem anderen Mehl, buk Fladen und brachte sie ihrem Mann. „Nun, was ist das für ein Wunderding?“ fragte Iskander, kostete einen Fladen und murrte: „Was hat man schon für einen Nutzen von ihnen? Sie besitzen keinerlei Zauberkraft. Es sind ganz gewöhnliche Fladen!“
Soll König Iskander vorläufig nachdenken, was für Mehl ihm die Bewohner der Meerestiefen in der Schüssel geschickt haben! Hört, was mit den Fladen geschah, die seine Frau nicht an die Wand der Backglocke kleben konnte.
Am Tor des Königspalastes saß ein Narr mit Namen Lukman und bat um Almosen. Iskanders Frau schenkte ihm die ungebackenen Fladen. Der Narr nahm sie, steckte sie in seinen Bettelsack und ging davon. Am Ufer eines Aryks setzte er sich in den kühlen Schatten einer mächtigen Salweide, holte einen Fladen aus dem Sack, benetzte ihn mit Wasser und begann ihn zu essen. Da plötzlich neigte die Salweide ihre grünen Zweige zu ihm herab und hob an: „He, du Narr! Warum schweigst du? Frage mich doch, ich verrate dir ein Geheimnis!“ Der Narr wunderte sich, wieso eine Salweide mit menschlicher Stimme sprach. „Na, dann gib doch dein Geheimnis preis! Was willst du mir denn verraten?“ – „Ich bin keine gewöhnliche Salweide. Wenn jemand an Schwindsucht erkrankt, vermag ich ihn zu heilen. Ein Kranker, der unter meinen Zweigen sitzt, wird sofort gesund. Ich habe so eine Kraft, dass ich jedes Gebrechen aus den Menschen vertreiben kann.“ Der Narr hörte zu und merkte sich, was die Salweide erzählte.
Dann ging er weiter und sah am Ufer des Aryks einen Maulbeerbaum. „He, Narr!“ sagte der Maulbeerbaum. „Ich weiß um ein Geheimnis.“ – „Dann enthülle mir doch dein Geheimnis!“ – „Ich besitze die beste Heilkraft der Welt. Man kann sie gar nicht bezahlen. Dadurch unterscheide ich mich von allen Bäumen. Du musst meine Rinde abschälen, sie in einem Kessel kochen und einen Verwundeten darin baden. Danach verheilen alle seine Wunden.“ Der Narr hörte sich an, was der Maulbeerbaum sagte, dann ging er weiter. Am Aryk sah er Hundsgras wachsen. „He, Narr!“ rief ihm das Hundsgras zu. „Hör, was ich dir sage!“ – „Also sprich, was hütest du denn für ein Geheimnis?“ – „Ich besitze eine Kraft, mit der ich alle Krankheiten vertreiben kann, die wie Würmer in des Menschen Inneren sitzen und ihn aushöhlen. Du musst mich ausgraben, meine Wurzeln in der Sonne trocknen, zu Pulver zerstampfen und es dem Kranken geben. Er wird das Pulver allmählich einnehmen, und alle seine Krankheiten werden verschwinden.“
Um es kurz zu sagen, noch lange streifte der Narr umher. Alle Pflanzen und Kräuter, die es auf der Welt gibt, verrieten ihm ihre Geheimnisse. So erfuhr er von ihrer Heilkraft. Da ließ er das Herumtreiben sein, hörte auf, sich als Narr zu gebärden und befasste sich mit der Heilkunst. Er heilte die Menschen von allen Krankheiten und brachte damit viel Nutzen. Schließlich kannte man ihn überall als kunstvollen Arzt. Das Volk nannte ihn nur noch Lukman Dewona oder Lukman Chakim, was weiser Narr oder weiser Arzt bedeutet. Vormals war Lukman Weber gewesen. Als er noch als Narr umherstreifte, webte er hin und wieder Stoff für die Leute. Einmal im Jahr bekam er einen Auftrag von König Iskander, ihm so viel Stoff anzufertigen, dass derselbe zur Kleidung für ihn und seine ganze Familie ausreichte. Kein anderer Weber konnte den König so zufrieden stellen wie Lukman. Iskander gefielen nur die vom Narren gefertigten Gewebe. Trotzdem reichte das, was der König für diese Arbeit bezahlte, nicht zum Leben. Deshalb musste Lukman den Narren spielen, herumstreifen und Almosen erbetteln. Als er schon ein berühmter Arzt geworden war, ließ König Iskander ihn rufen und befahl ihm, für sich und seinen Sohn verschiedenen Stoff anzufertigen. Den König kümmerte es wenig, dass die ganze Welt Lukman als großen Gelehrten kannte. „Gut, ich werde Euren, Befehl ausrühren“, sagte Lukman und ging davon.
Er hatte einen Knaben, der ebenso alt wie Iskanders Sohn war. ‚Immer webe ich für den König und seinen Sohn kostbaren Stoff. Sein Sohn trägt ein prächtiges Gewand – warum kann meiner nicht auch so ein Gewand tragen?‘ überlegte Lukman. Er führte den Auftrag des Königs aus, webte noch drei Ballen des schönen Stoffes und nähte seinem Sohn genauso ein Gewand wie das des Königssohns. Dann nahm er den Stoff und brachte ihn zu Iskander. Wie immer beschenkte der König Lukman und entließ ihn. Eines Tages ritt Iskander, als er von der Jagd zurückkehrte, durch den Stadtteil, in dem Lukman lebte. Da kam ihm Lukmans Sohn, der genauso ein Kleid trug, wie sein eigener, mit einer Schlange in der Hand entgegengelaufen. Iskander glaubte, sein Sohn laufe mit einer Schlange durch die Straße, und fragte seine Diener, warum der Knabe denn hier und nicht im Palast sei. „Ihr irrt Euch, das ist nicht Euer Sohn, sondern der Sohn Lukman Chakims“, erklärte Iskanders Begleiter. Da erzürnte der König: „Wie konnte Lukman es wagen, seinem Knaben ebenso ein Gewand anzuziehen, wie ich und mein Sohn es tragen! Das ist eine Missachtung des Königs und des Prinzen. Für diese Dreistigkeit will ich ihn bestrafen!“ – „Tut, was Euch genehm ist! Es ist Euer Wille“, antworteten die erschrockenen Höflinge. „Ergreift diesen Frechling zusammen mit seinem Sohn, fesselt ihnen Arme und Beine und bringt sie in die Steppe von Ak-tepe!“ befahl Iskander. „Dort sollt ihr eine tiefe Grube ausheben. Messt sie genau ab! Sie muss ebenso tief sein wie diese Pappel hoch ist. Dort sollt ihr Vater und Sohn hineinwerfen. Mögen sie in dieser Grube am lebendigen Leibe verfaulen! Bedeckt die Grube mit Baumstämmen und Reisig und schüttet Erde darüber! Einen ganzen Monat lang soll Erde aufgeschüttet werden, während ihr Wache haltet. Wenn es zu wenig ist, soll man zwei Monate lang Erde aufschütten und dann das Ganze von oben mit Lehm verschmieren. Danach kommt zu mir und berichtet, was ihr getan habt!“
König Iskander ritt in seinen Palast. Die Höflinge packten Lukman Chakim und seinen Sohn und schleppten sie in die Steppe von Ak-tepe. Sie verlangten von den Leuten, eine Grube auszuheben und die hohe Pappel zu fällen. Nun maßen sie die Grube. Die Pappel passte bis zum Gipfel hinein. Die Höflinge warfen Lukman Chakim und seinen Sohn in die Grube und mauerten sie dort ein. Sie legten großen Eifer an den Tag und achteten unermüdlich darauf, dass die Grube recht fest mit Baumstämmen und Reisig überdeckt und recht viel Erdreich darauf geschüttet wurde. Die Höflinge überlegten, was weiter zu tun sei, wer denn zwei Monate lang Erde herbeischleppen würde, als sie plötzlich in der Steppe einen Mann gewahrten. Es war der Bauer Abduraim, der Reisig sammelte und es einer Eselin auflud. Die Höflinge riefen Abduraim herbei und befahlen ihm, Erdreich zu der Grube zu bringen. Zwei Monate lang schaffte Abduraim auf seiner Eselin Erdreich herbei, schüttete einen ganzen Berg auf, trat es rings um die Grube fest. Danach schmierte er Lehm darüber. Noch einen Monat lang warteten die Höflinge und hielten Wache, damit niemand komme. Danach begaben sie sich zu Iskander und meldeten, dass sein Befehl ausgeführt worden sei. König Iskander lobte sie.
Mittlerweile vergingen fünfzehn Jahre, und noch immer regierte der gehörnte Iskander. Aber alles hat einmal ein Ende, so auch er. Eines Tages verstarb er und wurde begraben. Sein Sohn bestieg den Thron des Vaters und wurde Herrscher über das Land. Er heiratete, und ein Sohn kam zur Welt. Der Knabe wuchs heran und zählte schon sieben Jahre.
Eines Tages blieb dem König beim Essen ein Knochen im Halse stecken. Der Knochen verklemmte sich, und der König sank bewusstlos nieder. Frau und Sohn liefen hinaus und jammerten: „Oh, oh, kommt alle her und helft! Der König erstickt an einem Knochen! Schnell, lauft und holt die Ärzte!“ Wesire und Boten des Königs eilten in alle Landesteile, suchten ein halbes Dutzend Ärzte zusammen und brachten sie in den Palast. Die Ärzte umstanden den König, betasteten seine Kehle, blickten ihm in den Mund, dann schüttelten sie ihre Köpfe und sagten: „Nein, dieser Krankheit können wir nicht beikommen!“ – „Ja, wenn Lukman Chakim hier wäre! Wie schade, dass er nicht mehr am Leben ist!“ sagte einer der Wesire. „Wir haben Lukman Chakim nicht zu schätzen gewusst.“ – „Wer ist denn Lukman Chakim?“ fragte der König mit kaum vernehmbarer Stimme. „Noch zu Lebzeiten Eures Vaters gab es so einen Arzt“, antwortete der Wesir. „Von seiner Heilkunst konnten selbst Tote zu neuem Leben erwachen. Aber Euer Vater ließ ihn in die Steppe hinaustreiben und lebend begraben.“ Da mischte sich ein anderer Wesir ein: „Wenn dieser Arzt wirklich ein gelehrter Narr war, dann ist er nicht gestorben, sondern muss noch am Leben sein! Gehen wir in die Steppe und sehen wir nach!“ Der Wesir und seine Diener eilten in die Steppe von Ak-tepe und hielten Umschau. Aber ringsum sah man nur ebene Steppe und nirgendwo ein Hügelchen. Der Wind hatte alles Leben aus der Steppe verweht, auch die Erde, die über der Grube aufgeschüttet worden war. Lange suchten alle nach der Grube, in die man Lukman Chakim geworfen hatte. Sie fanden sie jedoch nicht. Alle waren bestürzt und wussten nicht, was zu tun sei.
Da erinnerte sich einer der Höflinge, wie die Grube mit Erdreich zugeschüttet wurde, und sagte: „Damals hat der Bauer Abduraim die Erde herangebracht. Er hatte in der Steppe Holz gesammelt. Zwei Monate lang schaffte er die Erde auf seiner Eselin herbei. Ich erinnere mich, wie der Eselin ein Eselchen folgte. Wir müssen Abduraim suchen und fragen, ob das Eselchen noch am Leben ist. Wenn es noch lebt, lebt vielleicht auch die Eselin. Wir lassen Abduraim die Tiere herbringen, legen der Eselin einen Sack mit Erde auf den Rücken und treiben sie in die Steppe. Wo sie stehen bleibt, dort muss die Grube sein. So machen wir Lukman Chakim ausfindig.“ Alle gingen auf die Suche nach Abduraim. Sie fanden ihn und fragten nach der Eselin. Aber die Eselin war schon lange verendet und das Eselchen ein ausgewachsener Esel. Man lud ihm einen Sack mit ein wenig Erde auf und führte ihn in die Steppe, während die Leute hinterher gingen. An einer Stelle blieb der Esel stehen. Wie sehr man ihn auch antrieb oder wegzuzerren suchte – es war nichts mit ihm anzufangen. Er rührte sich nicht von der Stelle. Da begann man, an dieser Stelle zu graben. Als drei bis vier Schaufeln ins Erdreich abgehoben worden waren, gähnte an einer Stelle plötzlich ein Loch und man vernahm eine Stimme: „Wer ist da? Warum habt ihr aufgemacht? Ich bin matt und schwach, wenn der Wind mich anbläst, schmelze ich dahin wie Schaum auf dem Wasser! Fügt mir keinen Schaden zu!“ – „Der König hat uns hergeschickt“, erklärten die Höflinge. „Er erstickt an einem Knochen. Anfangs steckte der Knochen im Hals, nun ist er schon in der Brust stecken geblieben. Mit welcher Arznei kann man ihn heilen?“ – „Wenn ich nicht selbst hingehe, kann ihn von dieser Krankheit niemand heilen“, antwortete Lukman Chakim.
Die Wesire zweifelten: „Wie wollt Ihr selbst hingehen? Dir seid matt und schwach und habt selbst gesagt, dass Dir wie Schaum auf dem Wasser vergeht, wenn ein Wind bläst!“ – „Wenn eure Kräfte ausreichen, mich empor zu holen, dann gehe ich hin“, antwortete Lukman Chakim. „Schüttet das Loch sofort zu! Bringt mir vierzig Pfund Fett, vierzig Pfund Fleisch, vierzig Pfund Zwiebeln und vierzig Pfund Salz! Holt vierzig Mädchen und Lasst eine Strickleiter mit vierzig Stufen herab. Die Strickleiter muss so hängen, dass ich sie mit den Händen erreichen kann. Stellt auf jede Sprosse ein Mädchen. Ich werde die Arme der Mädchen berühren, wieder zu mir kommen, neuen Kräftestrom fühlen und dann imstande sein, emporzusteigen. Jetzt kann ich nichts essen, wenn ihr aber in dem Fett Zwiebeln und dann Fleisch bratet, wird mir der Geruch in die Nase dringen. Dieser Duft wird mich ernähren, dann kann ich bis zum Palast gelangen.“
Ohne Verzug eilten die Höflinge in den Palast, um dem König mitzuteilen, dass sie Lukman Chakim gefunden hätten. Sie berichteten alles, was er gesagt hatte und welche Bedingungen er stellte. Der König befahl seinen Meistern, so schnell wie möglich eine Leiter anzufertigen. Als sie fertig war, suchte man vierzig Mädchen zusammen, bereitete Fleisch, Fett und Zwiebeln vor, lud alles auf einen Karren und brachte es zu Lukman Chakim in die Steppe von Ak-tepe. Die Leiter wurde in die Grube hinab gelassen und auf jede Sprosse stellte sich ein Mädchen. Gestützt von den Armen der Mädchen, begann Lukman Chakim empor zu klimmen. Sobald er ein Mädchen am Arme fasste, fühlte er neue Kraft, während die Mädchen Kräfte einbüßten. Alle diese Mädchen waren gesund, rotwangig und lebensfroh gewesen. Nun wurden sie gelb wie Safran, verloren ihre Kraft und fielen die Leiter hinab.
Lukman Chakim aber war zu Kräften gekommen und trat heraus. Als er den Geruch der im Fett gebratenen Zwiebeln verspürte, wurde er sofort frisch, als habe er gut gegessen. Nun begaben sich alle zum Palast. Lukman Chakim begrüßte den König und erkundigte sich nach seinem Befinden. „Sagt mir, was Euch weh tut, mein Sohn! Was bereitet Euch Qual?“ – „Ich habe einen Knochen verschluckt“, klagte der König. „Könnt Ihr ihn herausziehen?“ – „Er lässt sich entfernen, dafür weiß ich ein Mittel. Wenn Ihr einverstanden seid, hole ich ihn heraus“, erwiderte Lukman Chakim. „Ich muss Euren Sohn töten und Euch sein Blut zu trinken geben. Es gibt kein anderes Mittel, das Euch helfen würde.“ Der König wollte nicht einwilligen. „Statt dass ich meinen Sohn verliere, will ich lieber sterben, aber mein Kind lasse ich nicht schlachten!“ widersetzte er sich. Da bat Lukman Chakim die Höflinge, den König zu überreden. „Opfert Euren Sohn!“ rieten die Höflinge. „Ihr werdet noch einen Sohn bekommen und nicht nur einen, dafür aber bleibt Ihr selbst am Leben!“ Lange drangen sie in den König, bis sie ihn schließlich überredeten. Man brachte den Knaben herein, zog ihn aus, legte ihn vor dem König auf einen Teppich und bedeckte ihn mit einem Laken. Der König stöhnte vor Entsetzen auf und verhüllte sein Antlitz. In diesem Augenblick wurde der Knabe auf ein Zeichen von Lukman Chakim geschwinde entfernt. Statt seiner legte man ein Zicklein unter das Laken. Der Wesir hob das Messer und stach es ihm in die Kehle. Das Zicklein schrie jämmerlich. „O mein Sohn! Mein lieber Sohn!“ brüllte der König auf – und sofort kam ihm der Knochen aus dem Halse. Der König aber schrie weiter: „O mein Sohn, mein lieber Sohn!“
Plötzlich wurde die Tür aufgetan, und der Königssohn hereingeführt. Bei seinem Anblick stürzte sich der König zornentbrannt auf Lukman Chakim. „Du hast mich zum Narren gehalten! Warum hast du mich gequält?“ – „Ich hatte kein anderes Mittel, um Euch zu heilen. Jetzt seid Ihr gesund, und Euer Sohn ist am Leben und wohlbehalten. Ich wünsche Euch beiden Gesundheit und ein glückliches Leben. Das ist meine ganze Heilkunst.“ – „Nun bin ich gesund, der Knochen peinigt mich nicht mehr. Verlange, was du willst. Ich gebe dir alles, worum du bittest!“ rief der König. Lukman Chakim aber wollte um nichts bitten. „Wenn Dir Euer Land und Volk mit Vernunft regieren, wenn Dir unterscheiden wollt, wo Wahrheit und wo Lüge ist, prüfen und untersuchen, was gerecht und was ungerecht ist, dann sind meine Wünsche erfüllt. Mehr brauchte ich nicht“, erwiderte er. „Mein Vater hat Euch und Euren Sohn grausam bestraft. Wo ist Euer Sohn?“ fragte der König. „Ich danke Euch für Eure Anteilnahme“, antwortete Lukman Chakim. „Er war jung und unerfahren. In der Wand der Grube gab es eine Vertiefung, dort hatte eine Taube ihr Nest gebaut und ihr Junges ausgebrütet. Aus Dummheit wollte mein Sohn das Vöglein erlangen, ist empor geklettert, konnte es aber mit der Hand nicht erreichen. Da nahm er seine Mütze ab und verstopfte die Ritze. Das Vöglein ist zugrunde gegangen. Mein Sohn erhielt die gebührende Vergeltung und starb bald danach.“
Nach diesen Worten erhob sich Lukman Chakim und ging davon. Als man erfuhr, dass Lukman Chakim heimgekehrt sei, liefen alle seine Verwandten und Bekannten herbei, um ihn zu sehen. Sie umringten und begrüßten ihn und fragten ihn aus. Einer seiner Freunde bat ihn: „Erzählt uns, was Ihr durchgemacht habt!“ Lukman Chakim begann: „Es steht nicht in meiner Kraft, mein Leid zu schildern, meine Seele ist zu eng dafür. Kein Heft und kein Buch reichen aus, um all den Gram zu beschreiben, den ich durchlitten habe. Meine Tränen rinnen herab, ich kann ihnen nicht Einhalt gebieten. Im Leben hatte ich mir einen schweren Weg gewählt und gedacht, ich würde selbst Gerechtigkeit erlangen. Ich wusste nicht, dass der Weg zur Gerechtigkeit lang und dornig ist. Ich bin auf spitze Dornen getreten. Deshalb habe ich so viele Jahre gelitten und hatte keine Kraft mehr, um es zu erdulden. Der Leidensweg liegt hinter mir. Unter Freunden zu leben und gemeinsam mit ihnen um bessere Tage zu ringen, wird leichter sein.“ Von Leid und Qualen befreit, fuhr Lukman Chakim fort, seine Heilkunst auszuüben und lebte noch sehr lange. Am Ende seiner Tage begann er jedoch zu kränkeln, wurde schwächer und besaß nicht mehr die einstige Kraft. Seine Verwandten, Freunde und Bekannten wie auch Menschen, die er seinerzeit von dieser oder jener Krankheit geheilt hatte, besuchten ihn, als sie erfuhren, dass er erkrankt sei. Im Gespräch baten sie Lukman Chakim zu erzählen, was er auf Erden Interessantes gesehen, worüber er sich gewundert habe und was für sie nützlich sein könnte.
Lukman Chakim erfüllte ihre Bitte: „Sooft im Winter die allerkältesten Nächte kamen, habe ich in kaltem, fließendem Wasser gebadet. Ich wundere mich, wieso ich nicht am Ufer des Wassergrabens gestorben bin! Wenn man einen Toten mit heißem Wasser wusch, wunderte ich mich darüber, dass er nicht wieder lebendig wurde. Wenn ein Kranker, der im Bade geschwitzt hatte, an die Luft trat, wunderte ich mich, dass er nicht empor flog. Wenn ein kranker Mensch Pfefferminzwurzel ausgräbt, sie wäscht und an der Sonne trocknet, sie dann in Milch kocht und dieselbe trinkt, dann löst dieser Absud in seinem Inneren jedwede Steine der Nieren, der Leber oder der Gallenblase. Es gibt ein Kraut, das man Halilai Sangi nennt. Dieses Kraut muss man nehmen, trocknen, zu Pulver zerstampfen und in kleinen Prisen essen. Davon wird jeder Mensch gesund und stark. Wer hustet, der nehme eine Quitte, schneide das Kernhaus heraus, tue Hammelfett hinein und dämpfe die Quitte in einem Gefäß über Feuer, dann esse er sie. Er wird sofort gesund und hört auf zu husten. Wer jede Woche ins Bad geht, der wird gesund und stark. Das sind meine guten und nützlichen Ratschläge, die ich euch erteilen wollte.“
Damit beendete Lukman Chakim das Gespräch und alle Verwandten, Freunde und Bekannten gingen hinaus. Zwei Tage später starb er eines natürlichen Todes.
Quelle:
(Usbekistan)