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Der Recke aus dem Sonnenland

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In fernen Zeiten lebte ein alter Mann. Er hatte nichts auf der Welt als einen Sohn von zehn Jahren. Der Knabe wurde Rustam genannt. Der Alte war so arm, dass er in Lumpen einherging und ewig hungerte. Eines Tages begab er sich mit seinem Sohn zu seinem reichen Nachbarn Salymbei und flehte ihn unter Tränen an: „Vater Salymbei, tut ein gutes Werk und helft uns! Mein Sohn Rustam und ich werden für Euch arbeiten und unsere Hände nicht schonen.“ Salymbei sah den Alten an, musterte den Knaben von Kopf bis Fuß und entgegnete: „Das Brot liegt bei mir nicht auf der Straße herum! Erst zahle mir deine Schuld zurück! Du bist schon alt und kannst jeden Tag sterben. Dann wird mir niemand auch nur einen Tenga zurückgeben, und mein Geld ist verloren.“ Der Alte geriet in Verwirrung und erbebte. „Von welcher Schuld sprecht Ihr da, gnädiger Salymbei?“ stammelte er. „Ihr habt uns doch nichts gegeben.“ Der Bei riss die Augen auf und brüllte: „Halt den Mund! Hast du kein Gewissen? Jetzt weigerst du dich schon, deine Schulden zu bezahlen!“ Er schlug den Alten so heftig mit seiner Peitsche, dass dieser zu Boden fiel. Tränen rannen ihm aus den Augen. Der kleine Rustam erschrak furchtbar, umarmte seinen Vater und begann zu weinen. Als der Alte ein wenig zu sich gekommen war, bat er den Bei von neuem: „Wenn ich es schon vergessen habe, dann erinnert mich doch daran, welche Schuld das ist und wann Ihr mir das Geld gegeben habt!“
Der Bei fuhr ihn an: „Du, Halunke, bist mir viel schuldig! Als deine Frau starb – wer hat dir damals das Geld für das Begräbnis gegeben? Wer hat dir Pferd und Wagen gegeben, damit du den Vorsteher der Moschee zum Friedhof bringen konntest? Und als du den Leichenschmaus für hundert Personen veranstaltet hast – wer gab dir die Speisen dazu? Weißt du das nicht mehr? Du selbst und dein Junge habt mitgegessen!“ Der Alte erzitterte vor Empörung. Nie hatte er erlebt, dass ein Mensch so dreist log. ‚Aber was soll ich machen?‘ dachte er. ‚Es gibt ja keinen Ausweg. Wenn ich mich dagegen auflehne, sterbe ich vor Hunger.‘ Er sprach seine Gedanken nicht aus, sondern brachte nur hervor: „Habt Mitleid mit uns, Salymbei! Wofür soll mein Sohn so leiden?“ In diesem Augenblick kam der Vorsteher der Moschee zu Salymbei. Als Salymbei ihn erblickte, wandte er sich an ihn: „Sprecht Recht zwischen uns, Ehrwürdigster!“ – „Worum handelt es sich?“ fragte der Vorsteher. „Was ist unserem Vater Salymbei genehm?“ – „Erinnert Ihr Euch, Ehrwürdigster, wie wir im vorigen Jahr in meinem Hause den Leichenschmaus für die Frau dieses Alten veranstalteten?“ Der Vorsteher der Moschee hatte erfasst, worauf der Bei hinauswollte, und stimmte ihm zu: „Natürlich erinnere ich mich. Auch an die Verstorbene erinnere ich mich, und auch daran, wie Ihr den Leichenschmaus richten ließet.“ – „Da hast du es! Hörst du, was er sagt?“ triumphierte der Bei. „Ich habe euch als Nachbar Gutes erwiesen, Geld ausgegeben, und du, Schurke, weigerst dich nun, es zurückzugeben!“
Auch der Vorsteher der Moschee begann dem Alten Vorwürfe zu machen: „Ei, ei, wie kann man so unehrlich handeln? Du solltest unserem Vater Salymbei dein Leben lang dankbar sein. Er hat sich für dich so in Unkosten gestürzt und Verluste erlitten. Das alles musst du jetzt begleichen!“ Der Alte aber stöhnte und weinte nur: „Dieses Unglück hat mir gerade noch gefehlt! Ohnehin habe ich selbst nichts zu essen, und mein Junge sieht tagelang kein Stückchen Brot. Wo soll ich soviel Geld hernehmen? Ich bin doch alt, mein Leben geht zu Ende, und was für ein Unglück hinterlasse ich meinem Sohn als Erbe!“ Da begann der Mullah auf den Alten einzureden: „Bist du aber ein dummer Alter! Was weinst du da? Unser Vater Salymbei verlangt von dir doch gar nicht, dass du gleich die ganze Schuld zurückzahlst. Du gibst ihm immer ein wenig zurück, aber Lass dir nicht einfallen, es abzuleugnen! Dein Sohn wächst heran. Er wird für Salymbei arbeiten, und so wirst du deine Schulden allmählich los.“ Salymbei und der Mullah brachten den Alten ganz durcheinander. Er verstand nur noch, dass man jetzt kein Geld von ihm verlangte, und willigte ein: „Schon gut, wir werden es zurückzahlen.“ Doch der Mullah widersprach: „Mit ’schon gut‘ ist die Sache nicht abgetan!“ Er nahm Feder und Papier und fragte Salymbei: „Wie viel schuldet Euch dieser Alte?“ – „Fünfzehn Goldstücke.“ Der Alte war wie vom Blitz getroffen. Nie in seinem Leben hatte er ein Goldstück gesehen, und nun sollte er fünfzehn Goldstücke aufbringen. Indessen schrieb der Mullah die Summe nieder, die Salymbei genannt hatte, und befahl dem Alten, seinen Daumen auf das Papier zu drücken. Rustam musste dasselbe tun. „So, jetzt könnt ihr gehen“, sagte der Mullah. „Wenn der Dshigit heranwächst, wird er Arbeit und auch Brot haben.“
Nach einem Stück Brot waren Vater und Sohn zum Bei gegangen und kehrten nun als Schuldknechte zurück. Als der Alte nach Hause kam, sah er seinen Nachbarn, den Schuster Siddyk, auf der Schwelle sitzen. Er erzählte ihm, wie der Bei ihn betrogen hatte, und seufzte nur: „Bei wem soll ich nun Schutz und Hilfe suchen?“ – „Ja, Bruder, du bist ihnen ins Netz gegangen, da ist nichts zu machen“, meinte der Schuster. „Selbst Chakim, der Stadthauptmann, ist ja ein Schwiegersohn des verfluchten Blutsaugers Salymbei. Es bleibt dir nichts anderes übrig, als dich in dein Schicksal zu fügen.“ Der arme Mann legte sich auf sein hartes Lager und drückte seinen Sohn Rustam an die Brust. Hunger und Gram quälten ihn, aber noch schlimmer setzten ihm seine trüben Gedanken zu. Alles ringsum lag im Schlafe, nur der Alte konnte kein Auge zutun. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und drei Männer traten ins Zimmer. Der eine ging auf den Alten zu, stieß ihn mit dem Fuß an und befahl: „Steh auf, Halunke!“ Erschrocken über die ungebetenen Gäste, fragte der Alte, was die Männer von ihm wollten. Da herrschte ihn einer der Unbekannten an: „Scher dich aus dem Hause! Aber sofort! Wir wollen dich hier nicht mehr sehen!“ Der Alte glaubte, es handele sich um ein Missverständnis, und fragte schüchtern: „Was wollt ihr denn? Wohin soll ich aus meinem Hause weggehen und warum?“
Der zweite Unbekannte schrie ihn noch wütender an: „Uns wirst du nichts vormachen! Wir sind die Wachleute des Stadthauptmanns. Schon im vorigen Jahr hast du dieses Haus an Salymbei verkauft und von ihm fünfzehn Goldstücke dafür erhalten – und jetzt willst du dich sträuben?“ – „Wie könnt ihr so etwas sagen?“ rief der Alte verzweifelt. „Ich habe mein Haus niemandem verkauft und denke nicht daran, es zu verkaufen.“ – „Nicht verkauft, sagst du? Und was ist das hier?“ fragte der dritte Mann und hielt dem Alten ein Papier vor das Gesicht. „Ist das nicht deine Unterschrift? Du selbst und dein Junge habt eure Daumen darauf gedrückt. Der Chakim hat uns befohlen, dich und deinen Sohn in die Schuldnergrube zu werfen, wenn ihr nicht sofort verschwindet!“
So mussten der Alte und sein Sohn das eigene Haus verlassen. Die Schusterfrau brachte ihnen einen Maismehlfladen und wünschte ihnen Glück auf den Weg. Der Alte legte seinen Arm um den armen Rustam, und beide wanderten in die Berge.
Lange streiften sie durch Steppen, Talgründe und Ödland. Immer wieder fragte Rustam seinen Vater: „Wohin gehen wir denn so weit?“ Der Vater konnte ihm keine Antwort geben, weil er selbst es nicht wusste. So wanderten sie weiter, bis sie keine Kraft mehr hatten. Endlich erreichten sie einen Wald und ließen sich unter einem Baum nieder. Der Alte lehnte sich an den Stamm und versank in Schlummer. Als er erwachte und die Augen aufschlug, erstarrte er vor Entsetzen: Aus dem Dickicht kam eine riesige Bärin mit einem Jungen geradewegs auf sie zu. Was tun? Der Alte drückte Rustam an seine Brust und glaubte, dass nun für sie beide das Ende gekommen sei. Rustam, der nie zuvor einen Bären gesehen hatte, erschrak so, dass er aus vollem Halse schrie. Die Bärin aber kam sachte näher, nahm Rustam und führte ihn zu ihrem Jungen, dann packte sie den Alten mit ihren Pranken und trug ihn in ihre Höhle. Die Nacht verging, und die Sonne ging auf. Der Alte kam zu sich, schlug die Augen auf und sah Rustam zusammen mit dem Bärenjungen Honig essen. Er wollte seinen Augen nicht trauen. ‚Ist das nun Traum oder Wirklichkeit?‘ dachte er und rief nach seinem Sohn. Als Rustam die Stimme seines Vaters vernahm, antwortete er froh: „Steht auf, Vater, kommt Honig essen!“ – „Und wer sitzt da neben dir?“ wollte der Alte wissen. „Das ist mein Freund. Seine Mutter hat uns hergebracht und gesagt: ‚Soll dein Vater schlafen, weck ihn nicht auf! Mein kleiner Bär wird dein Gespiele sein. Da habt ihr Honig, esst, ich aber muss in den Wald gehen.'“
Noch wusste der Alte nicht, ob er Rustams Worten glauben durfte, als plötzlich die Bärin in der Höhle erschien. Sie brachte Brotfladen und Milch in einer Kürbisflasche. Der Alte erhob sich und verneigte sich vor der Bärin. Sie stellte das Essen auf den Boden und brummte freundlich: „Setzt euch und esst! Ich habe euch Brot und Milch gebracht. Später werden wir miteinander sprechen.“ Der Alte wunderte sich über ihre Güte. „Da braucht ihr euch nicht zu wundem“, erklärte ihm die Bärin. „Ich habe viele Freunde unter den Hirten, die die Schafe der Beis und aller möglichen Machthaber hüten. Von ihnen bekam ich Brot und Milch. Lasst es euch schmecken!“ Der Alte aß, beruhigte sich und erzählte der Bärin sein ganzes Ungemach. Sie hörte ihn aufmerksam an, dann schlug sie vor: „Bleibt bei uns in dieser Höhle wohnen! Hier tut euch niemand etwas zuleide. Unsere Söhne sind ja schon Freunde geworden.“
So blieben der Alte und Rustam in der Bärenhöhle. Der Vater sammelte im Walde Fallholz, das die Bärin des Nachts zum Stadttor schleppte. Morgens kam der Alte und verkaufte es. Rustam spielte mit dem Bärenjungen. Als sie größer wurden, begannen sie miteinander zu ringen. Eines Tages sahen Hirten, wie Rustam mit dem jungen Bären rang, und freuten sich über seine Kraft und Gewandtheit. Als noch fünf Jahre vergangen waren, konnte sich keiner der erwachsenen Burschen mehr mit Rustam messen. Die Hirten nannten ihn ehrerbietig Aikpalwan, das heißt Bärenrecke.
Eines Tages gingen Rustam und sein Vater wie immer in die Stadt, um Holz zu verkaufen. Als sie gegen Abend auf dem Heimweg waren, sahen sie auf der Straße einen reichen Herrn in einem Tuchkaftan auf einem scheckigen Pferd reiten und die Peitsche in den Händen drehen. Der Herr führte ein großes Gefolge mit sich. Bei seinem Anblick rief der Alte: „Schau nur, Rustam, das ist dieser Salymbei, der sich unser Haus durch Betrug angeeignet hat!“ Noch hatte Rustam nicht geantwortet, da hörte er plötzlich: „Rustam, rette mich!“ Inmitten des Gefolges gewahrte er ein Kamel, an dessen Höcker der junge Bär festgebunden war. Während der Alte und Rustam Holz verkauft hatten, waren Salymbei und seine Diener in die Höhle eingedrungen und hatten sich des jungen Bären bemächtigt. Rustam stürzte auf das Kamel zu, zerriss die Stricke wie Garn und befreite seinen Freund. Die Jäger des Beis stürzten sich auf Rustam. Kaum aber hatte sich ihm der erste genähert, da packte Rustam ihn am Gürtel und schleuderte ihn zu Boden, dass der Jäger wie tot liegen blieb. Danach wagte sich niemand mehr in seine Nähe. Nun rannte Rustam zu Salymbei, der aber gab seinem Pferd die Peitsche und galoppierte davon.

In der ganzen Stadt sprach man von Rustam. Die Leute konnten seine Kraft und Tapferkeit nicht genug loben. Salymbei aber zitterte vor Angst und fand in den Nächten keinen Schlaf mehr. Sein Schwiegersohn, der Stadthauptmann, geriet in Wut und befahl, dass man den unerschrockenen Mann, der Salymbei und seinen Jägern den jungen Bären entrissen hatte, festnehme und zu ihm bringe. Aber niemand wollte diesem Befehl Folge leisten. Wen immer der Stadthauptmann aussandte, alle kehrten zurück und beteuerten: „Wir können ihn nirgends finden.“
Als Salymbei erfuhr, dass Rustam der Sohn jenes Alten sei, den er seines Hauses beraubt hatte, verlor er alle Fassung. Er eilte zu seinem Schwiegersohn und bat ihn um Hilfe. Der Stadthauptmann zitterte selbst vor Angst, rief aber hundert seiner Wächter und zog mit ihnen in den Wald, um Rustam zu ergreifen. Unterwegs erklärte er ihnen: „Wer Rustam lebend einfängt, der bekommt meine Tochter zur Frau, und ich ernenne ihn zum Führer einer Hundertschaft!“ Sie ritten weiter und machten am Abend in der Nähe des Waldes halt. Dort ordnete der Stadthauptmann an: „Ruht jetzt ein wenig aus. In der Nacht werdet ihr den schlafenden Rustam festnehmen. Wenn er uns aber vorher hört, flieht er in die Berge.“
Rustam und sein Gefährte, der junge Bär, schliefen auf einem Hügel am Eingang der Höhle. In der Nacht kam plötzlich die Bärin und weckte sie auf: „Was ist geschehen, Mutter Bärin?“ fragte Rustam. „Sie wollen dich festnehmen. Der Stadthauptmann kommt mit einer Hundertschaft seiner Wächter hierher.“ – „Und was wollt Ihr tun?“ – „Dich vor ihnen retten.“ – „Nein“, widersprach Rustam. „Wie lange werden wir vor ihnen davonlaufen? Wir müssen sie verjagen!“ – „Es sind ihrer viele, und alle sind beritten“, gab die Bärin zu bedenken. „Nicht einmal dein Vater ist da. Er ist in der Stadt, um das Holz zu verkaufen. Lauf und verlier keine Zeit!“ Rustam aber dachte nicht daran, davonzulaufen. „Was willst du denn jetzt tun?“ fragte die Bärin. „Gegen meine Feinde kämpfen.“
Der junge Bär schüttelte den Kopf und umarmte Rustam. Die Reiter des Stadthauptmanns kamen bereits im Gänsemarsch auf einem Waldpfad herbei. Schon hörte man ihre Stimmen und das Schnauben der Pferde. Schon saßen die Wächter ab und erklommen den Hügel. Rustam und der junge Bär ließen ihre Feinde noch näher kommen. Dann begannen sie, Steine nach ihnen zu schleudern. Ein heißer Kampf entbrannte. Die Bärin stand Rustam nicht nach. Auch sie schleuderte Steine, traf einen Reiter am Kopf, warf andere vom Pferd oder zermalmte ihnen das Rückgrat. Die Wächter schrieen und heulten vor Entsetzen. Schließlich hatten Rustam und die Bärin keine Steine mehr. Als der Stadthauptmann sah, dass niemand mehr mit Steinen warf, trieb er seine Wächter wieder den Hügel hinauf. Da packte Rustam einen Baumstamm und schleuderte ihn hinab, um ihnen den Weg zu versperren. Die Bärin schleppte dicke Stämme herbei und warf sie nach den Feinden. Nun suchte der Stadthauptmann sein Heil in der Flucht. Seine Leute eilten ihm nach. Viele ließen Pferde und Waffen im Stich. Rustam und die Bären sammelten alles ein und kehrten in ihre Höhle zurück.
Bald wurde diese Geschichte allgemein bekannt. Vor Verdruss wusste der Stadthauptmann nicht ein noch aus. Ihn beschäftigte nur noch der eine Gedanke, wie er sich Rustams wohl bemächtigen könnte. Schließlich versprach er dem, der ihm Rustam bringe, den Gefangenen in Gold aufzuwiegen.
Der Mullah hatte eine alte Mutter, die kahlköpfig, einäugig und zahnlos war. Als sie von diesem Versprechen hörte, ging sie zum Stadthauptmann, verbeugte sich vor ihm und sagte: „Wenn du mir freie Hand gibst, Chakim, fange ich dir diesen Haderlumpen Rustam bald ein.“ Erfreut antwortete der Chakim: „Sage nur, was du dazu brauchst. Du bekommst alles!“ Die Alte erwiderte: „Suche mir fünfzehn Männer, zu denen du Vertrauen hast. Sie dürfen aber weder Bart noch Schnurrbart, ja nicht ein Härchen im Gesicht haben. Gib jedem von ihnen Mundvorrat für einen Monat. Wenn du meinen Ratschlag befolgst, fangen wir den Haderlumpen.“ Der Stadthauptmann tat, was die Alte verlangt hatte. Auf ihr Geheiß legten die fünfzehn Bartlosen Frauenkleider an, gingen in den Wald und zettelten zum Schein eine Prügelei an. Sie fügten einander blaue Flecken zu, zerkratzten sich die Nasen und schlugen sich Beulen auf die Köpfe.
Auf den Lärm kamen Rustam und die Bären herbeigelaufen. Die Alte warf sich zu Boden, schlug mit dem Kopf an einen Stein, zerriss sich ihr Kleid und heulte: „Oh, wo ist nur unser Rustam? Wo ist der Schrecken der Übeltäter, der unsere Klagen hört, unser Leid kennt und uns Unglücklichen zu Hilfe kommt? Bevor ich sterbe, habe ich nur einen Wunsch, ihn zu sehen und ihm alles zu erzählen!“ – „Hab keine Sorge, Mutter“, tröstete sie Rustam. „Ich bin der, den du suchst. Wer hat euch so zugerichtet? Erzählt es mir!“ Da warfen sich die Bartlosen mit Geschrei und Geheul Rustam zu Füßen.
Die Alte aber fuhr fort: „O Rustam, Licht meiner Augen! Nur mit Mühe sind wir unglücklichen Frauen der Wut des ruchlosen Chakims entgangen. Nachdem du ihm einen Schrecken eingejagt und ihn aus dem Wald vertrieben hast, ließ er alle armen Leute zusammenholen und mit Knüppeln durchprügeln. Seine Wächter haben uns grün und blau geschlagen, unsere Männer in die Grube geworfen, uns unsere Kinder weggenommen und in Käfige gesperrt. Aus unseren Häusern haben sie uns in die Wüste verjagt. Was sollen wir tun? Bei wem sollen wir Schutz suchen, wenn nicht bei dir!“ – „Hört auf zu weinen“, beruhigte sie Rustam. „Bleibt hier und Lasst uns nachdenken, was zu tun ist.“ Er zeigte ihnen eine Stelle, wo sie sich niederlassen konnten, und bereitete ihnen eine Mahlzeit. Es wurde Abend, und alle schickten sich zum Schlafen an. Plötzlich kam der Schuster Siddyk und fragte: „He, Rustam, warum bist du so niedergeschlagen? Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“ – „Erzähle sie, ich höre zu.“
Und der Schuster begann: „Es lebte einmal ein Schuster in so großer Armut, dass er sein Dasein nur mühselig fristete. Er hatte eine schöne, kluge und gutherzige Tochter. Obgleich ihr Vater ja nur ein armer Schuster war, hielten viele reiche und vornehme junge Männer um ihre Hand an. Er aber gab seine Tochter keinem, weil sie den Nachbarssohn liebte, mit dem sie schon als Kind gespielt hatte. Doch der Jüngling war nicht in der Stadt, denn grausame reiche Leute, die große Macht besaßen, hatten seinem Vater das Haus weggenommen. Deshalb musste er mit seinem Vater die Stadt verlassen. Mit der Zeit wurde aus dem Knaben ein schöner, starker junger Recke, dem es an Kraft und Geschicklichkeit keiner gleichtun konnte. Er hatte ein offenes Herz und Mitleid mit den armen Menschen. Weit und breit sprach man von ihm.
Es hörten von ihm auch der Schuster und seine Tochter. Sie freuten sich über Rustams Taten und dachten, dass er jetzt bestimmt zurückkehren würde. Doch es ist schon viel Zeit vergangen, aber der Jüngling lässt nichts von sich hören.“ Rustam, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte, fuhr plötzlich dazwischen: „Hat denn dieser junge Mann gar kein Gewissen?“ Der Schuster Siddyk aber fuhr fort: „Von dieser Schusterstochter hörte der Hauptmann der Stadt. Obwohl er schon vier Frauen hatte, schickte er Brautwerber mit reichen Geschenken zu ihr. Das Mädchen und sein Vater wiesen sie jedoch ab. Da befahl der Stadthauptmann, den Schuster an Armen und Beinen zu fesseln und ihn in den Fluss zu werfen. Sein Haus ließ er niederbrennen, und seine Tochter holte er gegen ihren Willen zu sich. Die Nachbarsleute retteten ihren Vater vor dem Tode. Das Mädchen duldet und leidet, wartet aber auf seinen Liebsten. Er aber lässt nichts von sich hören. Da raffte der Vater des Mädchens seine Kräfte zusammen und machte sich auf den Weg, um den Jüngling zu finden und ihm von all dem Ungemach zu erzählen.“
Der Schuster Siddyk wollte mit seiner Erzählung fortfahren, aber da trat einer der Bartlosen heran und jammerte mit verstellter Stimme: „Rustam, unsere Mutter liegt im Sterben und möchte dich noch einmal sehen, komm schnell zu ihr!“ Rustam ging zu der Alten, die vorgab, sie läge im Sterben, und ihm durch Zeichen zu verstehen gab, dass sie ihn umarmen und küssen wolle. Als Rustam sich niederbeugte, drückte ihm die Alte ein betäubendes Kraut unter die Nase, und Rustam verlor das Bewusstsein. Sofort rief die Alte die Bartlosen herbei. „Schnell, schnell, tut, was ich euch befehle!“ Sie fesselten Rustam mit Stricken und schleppten ihn in die Stadt.
Der Stadthauptmann wäre vor Freude am liebsten in die Luft gesprungen. Er ließ die Wände mit Teppichen behängen und die Bartlosen rufen. Sie mussten antreten, und er legte jedem einen Chalat aus Brokat zu Füßen. Sie schleppten Rustam herbei und warfen ihn gefesselt und betäubt vor die Tür. Der Stadthauptmann verkündete: „Nun sollt ihr mit Geschenken überhäuft werden! Ich möchte, dass auch ihr eure Freude habt.“ Da erhob sich Salymbei und gab bekannt: „Morgen rufen wir das Volk auf dem Marktplatz zusammen, errichten einen Galgen und hängen diesen Schurken auf. Später verscharren wir ihn vor aller Augen.“ Nach diesen Worten warf er sich in die Brust, zwirbelte seinen Schnurrbart und lachte hämisch. Die Alte aber widersprach: „Du urteilst nicht richtig. Bei! Erstens darf man dem Volk diesen Schurken nicht zeigen. Zweitens muss er gut bewacht werden, sonst kommt er zu sich, zerreißt die Stricke – und weg ist er. Damit dergleichen nicht geschieht, müssen wir uns seiner schnell entledigen.“ Da fragte der Stadthauptmann: „Und was schlägst du vor, Mutter? Ich werde tun, was du willst.“ – „Sei dem so“, antwortete die Alte. „Im Schaitansberg gibt es eine Höhle, die man die Bodenlose nennt. Dort werfen wir ihn hinein. In der Höhle leben Dämonen und Drachen, die Fraß brauchen.“ Alle begannen zu lachen: „Vor dieser alten Vettel würde sogar der Schaitan selbst Angst bekommen!“ Der Vorschlag der Alten wurde gebilligt. Sie brachten den armen Rustam zum Schaitansberg und warfen ihn in die Bodenlose Höhle.
Als Rustam noch im Wald lebte, hatte er gelernt, auf der Hirtenflöte zu spielen. Er spielte stets bei Tagesanbruch. Sobald die Hirten und Holzfäller ihn hörten, wussten sie, dass es Morgen ist, und kamen aus ihren Erdhütten zur Arbeit heraus. An jenem Morgen aber blieb es ganz still. Zunächst glaubten alle, sie seien einfach zu früh aufgewacht, und hatten es mit dem Aufstehen nicht eilig. Dann wurden sie des Herumliegens überdrüssig. Rustams Vater aber fühlte, wie sich sein Herz vor Sorge zusammenzog. Er eilte aus der Höhle zu der Stelle, an der Rustam gewöhnlich schlief. Dort sah er nur noch Rustams Käppchen liegen, nichts weiter. Voller Besorgnis rief er so laut er konnte: „Rusta-a-a-m!“ Die Holzfäller hörten seine Rufe, liefen herbei und scharten sich um den Alten. Gemeinsam riefen sie nach Rustam. Plötzlich entdeckte der Alte auf dem Boden eine kleine Kürbisflasche. Sie hatte einen Silberdeckel, auf dem der Name ihres Besitzers stand. Er zeigte sie den Holzfällern und rief: „Seht die Arglist, die Niedertracht! Seht ihr, wer uns Rustam entführt hat. Freunde? Die gestern gekommen sind und um Schutz gebeten haben, waren keine gekränkten Frauen, sondern Übeltäter. Diese Kürbisflasche ist der Beweis. Ich weiß, wem sie gehört. Ich sah sie bei Salymbeis Neffen, dem bartlosen Buri!“ Einer der Holzfäller kannte sich ein wenig in den Buchstaben aus. Er betrachtete die Aufschrift und erklärte: „Der Alte sagt die Wahrheit!“
Eine Nacht lang lag Rustam in der tiefen Höhle, dann noch einen Tag, schließlich kam er zu sich. Er merkte, dass seine Arme fest mit Stricken umwunden waren und ringsum Finsternis herrschte. Irgendwo in der Ferne hörte man schreckliches Stöhnen und Heulen. Rustam versuchte, sich von den Fesseln frei zu machen. Aber wie er sich auch hin und her drehte, es gelang ihm nicht. Da spannte er alle seine Muskeln an, und der Strick zerbarst. Rustam machte sich von den Fesseln frei und ging dem Stöhnen nach. Er fand den Eingang einer anderen Höhle, der jedoch durch einen großen Mühlstein versperrt war. Ohne Mühe schob Rustam ihn beiseite, betrat die Höhle und sah dort Gebeine auf dem Boden. Verwunschene Gestalten, an Ketten aufgehängte junge Mädchen waren an die Wände gemalt. In der Tiefe der Höhle entdeckte er ein Gelass und in ihm eine Erhöhung aus Steinen, die mit vermoderten Tierfellen bedeckt war. Ringsum glimmten Lichtlein. Hinter diesem Gelass gab es ein zweites noch düstereres. Dort gewahrte er ein Mädchen, das mit seinen vierzig Zöpfchen an vierzig Eisenpfählen festgebunden war. Seine Beine standen bis zu den Knien in einer großen Tonwanne mit eisigem Wasser, und seine Arme waren an Latten befestigt. Das Mädchen hatte kaum noch Kraft, diese Qual zu erdulden. Es atmete fast nicht mehr. Sein Gesicht war so schön, dass es die Dunkelheit besiegte und wie der Vollmond ringsum alles erleuchtete.
Rustam fragte nicht, wer das Mädchen sei und warum es so gequält werde, sondern warf sofort die Wanne mit dem Eiswasser um, riss die eisernen Pfosten aus und befreite die unglückliche Gefangene. Das Mädchen war so entkräftet, dass es gleich zu Boden sank. Hätte sich seine Brust nicht ganz sachte gehoben, hätte man es für tot halten können.
Plötzlich erschien ein Mensch von abscheulichem Aussehen: Er hatte einen Buckel, seine Schultern ragten aufwärts. Dazu hatte er einen zottigen Bart und krumme Beine und war so dick, dass er breiter als hoch schien. Ihm folgte ein Greis, dessen Nase beinahe so lang war, wie der Stab, den er in der Hand trug, und an dessen Kinn es nur zwei Haare gab. Der abscheuliche Dickwanst war ein im ganzen Lande verrufener Räuber, und der listige Alte, Aufseher einer Moschee, war diesem Räuber behilflich, Menschen in den Hinterhalt zu locken und auszurauben. Mit seinen Listen hatte er dem Räuber geholfen, das Mädchen zu entführen. Von der Schönheit des Mädchens überwältigt, hatte der Räuber es zu seiner Frau machen wollen. Weil das Mädchen aber nicht einverstanden war, peinigte er es aufs grausamste. Der Moscheeaufseher ging wieder und wieder in die Höhle, um es zu überreden.

Als der Räuber zusammen mit dem Aufseher kam, um sein unglückliches Opfer zu quälen, entdeckte er plötzlich Rustam. „Das ist ja großartig! Wer hat denn mein Zimmer der Drangsal in ein Zimmer der Barmherzigkeit verwandelt? He?“ Und er krümmte sich vor Lachen. Rustam schwieg. Der Räuber sprang auf Rustam zu und brüllte: „Wer bist du, Milchgesicht? Sprich! Sonst stirbst du, und wir werden nicht einmal wissen, wer du bist!“ Ohne ein Wort zu sagen, hob Rustam die Faust und versetzte dem Räuber so einen Schlag vor die Brust, dass dieser sich ein paar Mal um sich selbst drehte, hinfiel und den Moscheeaufseher fast erdrückte. Den Räuber packte die Wut. Er wollte sich erheben, doch sein Wanst hinderte ihn. Er drehte und wälzte sich und drückte den Aufseher zu Tode. Endlich kam er mit Mühe hoch, zog seinen Säbel und drang auf Rustam ein. Der Dshigit packte die Tonwanne und schlug den Räuber mit ihr nieder, entriss ihm den Säbel und tötete ihn.
Mittlerweile kam das Mädchen zu sich. Leise bewegten sich seine langen Wimpern, und, kaum atmend, befeuchtete es seine vertrockneten Lippen ein wenig mit der Zunge. Rustam schöpfte eine Handvoll Wasser und führte es dem Mädchen an den Mund. Es tat ein paar Schlucke, sah den Jüngling dankbar an und fragte ängstlich: „Wer bist du, tapferer Dshigit? Warum bist du hergekommen? Ich bin doch zum Tode verurteilt. Lauf von hier weg und rette dich! Wenn sie erfahren, dass du mich befreien wolltest, quälen sie dich zu Tode!“ Rustam sah das Mädchen an und sagte: „Du bist frei. Niemand wird dich mehr bedrängen.“
Das Mädchen wollte ihm aber nicht glauben. „Warum willst du mich trösten? Ich werde das Tageslicht nie mehr zu Gesicht bekommen. Schon so viele Jahre sind vergangen, und niemand, der diesem Ungeheuer in die Fänge geriet, konnte seine Seele retten. Wegen seiner Grausamkeit und Blutgier nennt man diesen Räuber ja den Quäler. Alle Menschen in unserem Lande fürchten ihn. Mit seinem Namen macht man den kleinen Kindern Angst. Nicht einmal tausend mutige Recken können gegen seinen Säbel etwas ausrichten.“ Rustam zeigte dem Mädchen den Säbel, den er dem Räuber weggenommen hatte, und fragte: „Kennst du diesen Säbel?“ Das Mädchen erzitterte. „Woher hast du ihn?“ Da zeigte ihr Rustam die Grube, in die der tote Räuber und der Aufseher gefallen waren. Freudig kreuzte das Mädchen die Arme auf der Brust, schlug ihre langen Wimpern nieder und sagte: „Ruhm dir, du Recke aus dem Sonnenland!“ Über diesen Ausspruch wunderte sich Rustam: „Warum nennst du mich Recke aus dem Sonnenland?“ Da sagte das Mädchen: „Nicht nur ich, sondern alle Menschen nennen dich so. Dein Name ist Rustam, du bist Holzfäller. Von dir hat mir mein Großvater erzählt. Und ich heiße Blume des Morgenrots. Komm mit, ich muss dich unserem ganzen Volke zeigen und von deiner Ruhmestat berichten!“
Die Blume des Morgenrots führte Rustam zur Stadt. Als der Tag anbrach, gelangten sie an die Stadtmauer. Am Tore hatten sich viele Menschen eingefunden. Man hörte Stöhnen und Weinen. Manche zerrissen ihre Kleider, andere schlugen jammernd ihre Köpfe an Steine. Wieder andere suchten sie zu beschwichtigen. „Wir können ja nichts machen, also müssen wir es dulden.“ In einiger Entfernung sah man einen Hügel, auf dem ein Knabe von etwa vierzehn Jahren mit einem Lämmchen stand. Dem Knaben und auch dem Lämmchen hatte man die Augen verbunden. Ein paar Leute aus der Menge wollten zu dem Knaben, aber man hielt sie fest. Da Rustam nicht verstehen konnte, was vor sich ging, fragte er das Mädchen: „O Blume des Morgenrots! Erkläre mir, was hier geschieht.“ Das Mädchen wandte sich Rustam zu, aus ihren Augen perlten Tränen über die Wangen. „Wäre ich lieber nie geboren!“ weinte sie. „Dann würde ich dieses Jammern und Stöhnen nicht hören. Schon seit zwei Jahren erfüllt unser Volk tagaus, tagein diese Pflicht.“ Rustam war höchst verwundert: „Enthülle mir doch dieses Geheimnis, Blume des Morgenrots! Was für eine Pflicht müsst ihr täglich erfüllen?“ Und das Mädchen erklärte ihm: „Vor Jahren ist in unserem Lande ein Drache aufgetaucht. Viele Familien hat er schon unglücklich gemacht. Viel Vieh hat er gefressen. Und die Stadt kann sich von ihm nicht befreien. Der Drache lebt hinter diesem Hügel. Jeden Morgen will er, da er hungrig ist, unsere Stadt überfallen. Man stellt ihm ein Kind und ein Schaf auf seinen Weg. Er frisst sie, lässt die Stadt in Ruhe und kehrt in seine Höhle zurück. Tagtäglich zollen die Menschen unserer Stadt diesem Drachen ihren Tribut. So wurde es festgesetzt. Es ist gerade ein Jahr her, dass man ihm meine jüngere Schwester Tscherragul auslieferte. Auch heute musste einer der Stadtbewohner ihm seinen Knaben opfern. Darum jammert das Volk.“
In diesem Augenblick hörte man aus der Menge Schreie und Verwünschungen. Die Blume des Morgenrots konnte Rustam nur zurufen: „Da ist der Drache! Er schleicht sich auf den Knaben zu!“, dann fiel sie ohnmächtig zu Boden. Rustam sah ein scheußliches schwarzes Ungeheuer auf den Knaben zu kriechen. Das Lamm witterte den Drachen und begann an seinem Strick zu zerren. Der Knabe schrie kläglich. Da stürzte sich Rustam zum Hügel. Schon war der Drache in der Nähe des Knaben. Doch Rustam fuhr dazwischen und hieb mit seinem Säbel so wuchtig auf den Drachen ein, dass dessen Kopf davon rollte. Der Knabe fiel Rustam um den Hals und schmiegte sich fest an ihn. Die Menschen waren vor Freude außer sich. Aus der Menge kam ein hoch gewachsener Greis mit schneeweißem Bart und fragte:
„Wer bist du, edler Recke? Du hast uns von unserem Unheil erlöst, unseren Gram verscheucht und unseren Herzen Licht gegeben!“ Indessen war die Blume des Morgenrots zu Bewusstsein gekommen, erhob sich und ging auf Rustam zu. Bei ihrem Anblick rief der Greis voller Freude: „Meine liebe Enkeltochter! Du lebst! Wer hat dich von deinen Qualen befreit?“ Der Greis umarmte das Mädchen und brach in Tränen aus. Da wies die Blume des Morgenrots auf Rustam: „Er ist es, der euch aus dem Unheil erlöst und mich befreit hat. Er hat den Quäler überwunden, den Drachen getötet und uns die Tür zu einem glücklichen Leben aufgetan. Er, den ihr in euren Liedern besungen habt, ist der Holzfäller Rustam, der Recke aus dem Sonnenland!“ Die Menschen führten Rustam in ihre Stadt und feierten ihre Befreiung mehrere Tage lang.
Rustam aber dachte die ganze Zeit an seinen alten Vater. Er erzählte dem Großvater des Mädchens von seinen Freunden und von den Feinden, die sich als gekränkte Frauen verstellt und ihn betrogen, gefesselt und fortgeschleppt hatten. „Gebt mir einen Rat, wie ich zu meinem Vater zurückkehren kann!“ bat er. Der Greis wusste, dass dies sehr schwer war. Darum sagte er: „Ach, edler Jüngling! Noch nie ist jemand von uns in das Sonnenland gelangt. Nur unsere Vorfahren haben erzählt, dass irgendwo linker Hand von unserer Stadt hohe Berge stehen. Man nennt sie die Vierzig Gipfel. Von dort führt ein Weg in das Sonnenland, aber niemand kennt ihn. Schon viele Menschen sind in diesen Bergen umgekommen, denn der Weg ist sehr gefährlich. Es wimmelt von wilden Tieren. Um diese Berge zu durchqueren, muss man vor allem vierzig spiegelglatte Felsen erklimmen. Jeder dieser Felsen ist an die zweihundert Ellen hoch. Schlag dir das lieber aus dem Kopf! Bleibe bei uns, du wirst unser Held sein. Wir wollen uns von dir nicht trennen.“ Rustam kreuzte die Arme auf der Brust, verneigte sich vor dem Alten und antwortete: „Das größte Glück auf Erden besteht für mich darin, den Menschen Gutes zu tun. Dort aber sind mein Vater und jene Menschen zurückgeblieben, die mich aufgezogen haben. Was mag mit ihnen geschehen sein, nachdem man mich verschleppt hat? Solange ich das nicht weiß, findet mein Herz keine Ruhe.“ Als der Greis diese Worte hörte, stimmte er ihm zu. Am Morgen kam die ganze Stadt, um Rustam das Geleit zu geben. Der Stadtaksakal küsste ihn auf die Stirn und schenkte ihm einen riesigen Bogen, den er noch von seinem Großvater geerbt hatte, mit den Worten: „Möge dieser Bogen dein Weggefährte sein und dich an uns erinnern!“
So nahm Rustam Abschied und trat seinen Weg an. Er durchwanderte Steppen und Wüsten, bis er zu jenen furchtbaren Bergen gelangte, die der Greis ihm beschrieben hatte. Sie waren so hoch, dass ihre Gipfel die Wolken stützten. Beim Anblick der spiegelglatten Felsen hätte ein jeder gesagt, dass niemand sie zu erklimmen vermag. Rustam setzte sich nieder und überlegte, was zu tun sei. Plötzlich vernahm er ein schreckliches Gebrüll. Er blickte empor und sah eine Löwin mit aufgerissenem Rachen auf ihn zustürzen. Rustam sprang auf, spannte die Bogensehne und zielte. Da blieb die Löwin stehen und flehte: „O Mensch! Hilf mir! Errette meine Kinder vor dem Tode!“ Sie kam auf Rustam zu und neigte den Kopf zu seinen Füßen. Er streichelte ihren Kopf und fragte: „Welche Hilfe erwartest du von mir, Königin der Tiere? Sprich! Ich will dir helfen.“ Die Löwin führte Rustam in die Berge. Da sah er am Eingang einer Höhle einen Skorpion von der Größe eines Ochsen. Zwei kleine Löwenkinder drückten sich voller Grauen in einen Winkel der Höhle. Rustam schoss einen Pfeil ab und traf den Kopf des Skorpions. Dann sprang er auf das Scheusal zu und schlug ihm mit seinem Säbel den Stachel ab. Aus der Höhle eilten die erschrockenen kleinen Löwen zu ihrer Mutter. Rustam war so erschöpft, dass er sich hinlegte und sofort einschlief. Die Löwin ließ ihre Jungen neben Rustam und ging in die Höhle, um ihnen Futter zuzubereiten. Die kleinen Löwen wurden wieder vergnügt und spielten. Bald danach erschien ein Löwe, der zwischen den Zähnen einen Widder schleppte. Schon wollte er sich auf Rustam stürzen und ihn zerreißen, doch da riefen die Löwenkinder: „Vater, rühr diesen Menschen nicht an! Er hat uns vor dem Tode errettet!“ Der Löwe wunderte sich. In diesem Augenblick kam die Löwin aus der Höhle, erzählte alles und zeigte ihm den getöteten Skorpion.
Als Rustam am Abend erwachte, erblickte er ringsum die ruhenden Löwen. Er stand auf und verneigte sich vor dem großen alten Löwen mit mächtiger Mähne. Das war der Aksakal aller Löwen in den Bergen. Der Löwe richtete sich auf, schritt auf Rustam zu, legte ihm die Vordertatzen auf die Schultern und sagte: „Du bist ein Held! Du hast unseren Feind, den Skorpion, getötet, der unser Leben bedrohte und unsere Nachkommenschaft vernichten wollte. Sage uns, womit wir dir helfen können und welchen Wunsch wir dir erfüllen sollen!“ Wieder verneigte sich Rustam und gestand: „Ich habe nur einen Wunsch, meinen Vater zu sehen und zu erfahren, wie es ihm geht.“ – „Und wo ist er?“ fragte der Löwenälteste. „Er lebt im Sonnenland.“ Die Löwen schwiegen und überlegten lange. Nach einer Weile hob der Aksakal den Rachen und brüllte mit furchtbarer Stimme. Da kam ein kleiner Löwe mit kurzen, dicken Beinen herbeigelaufen. Der Löwenälteste befahl ihm: „Trage diesen Jüngling auf den Gebirgspaß und zeige ihm den Weg! Bringe, wenn du zurückkommst, ein Zeichen mit, dass er heil und wohlbehalten angelangt ist!“ Zum Abschied mahnte er: „Wohlauf, tapferer Recke! Dein Weg ist sehr gefährlich. darum musst du genau befolgen, was dir der Löwe, der dich trägt, sagen wird. Unterlässt du es, kann dir großes Unheil widerfahren. Wenn dein Fuß den Boden des Sonnenlandes berührt, schick uns eine Nachricht! Erst dann werden unsere Herzen Ruhe finden.“ Rustam nahm sich die Mahnung zu Herzen und schwang sich rittlings auf den Löwen. Spielend gaben ihnen die anderen das Geleit.
Der Löwe mit Rustam auf dem Rücken schoss dahin wie ein Pfeil.
Während er über die Berge eilte, stieß er ab und zu ein furchtbares Gebrüll aus. Als Antwort vernahm man von allen Seiten vielerlei Stimmen. Gern hätte Rustam erfahren, was sie bedeuteten, und fragte: „Sage mir, König der wilden Tiere, was für Stimmen wir da hören!“ Der Löwe aber entgegnete: „Es ist nicht an der Zeit, solche Fragen zu stellen, junger Recke! Halte dich an meiner Mähne fest und schweige, sonst könntest du dich und mich zugrunde richten.“ Weiter eilte der Löwe, während Rustam immer neue Stimmen vernahm – bald sangen Vögel, bald stöhnte jemand, bald leuchtete ein Blitz und der Donner grollte, bald hörte man irgendwo eine Laute klingen oder den Gesang von Mädchenstimmen. Rustam quälte die Neugier, und er fragte den Löwen abermals: „Erkläre mir, was das alles bedeutet!“ Der Löwe aber versetzte: „Um deines Vaters willen, der im Sonnenland zurückgeblieben ist, schweig!“ So musste Rustam schweigen, während ringsum eine Finsternis herrschte, dass man die Hand vor den Augen nicht sah. Hätte sich Rustam nicht, so fest er konnte, an die Löwenmähne geklammert, wäre er längst heruntergefallen. Plötzlich befahl der Löwe: „Jetzt, junger Recke, schließe deine Augen und öffne sie nicht, bevor ich es dir erlaube! Wenn du schon ein so schwieriges Werk vollbringen willst, dann halt aus! Du musst dafür vor deinen und meinen Freunden Rede und Antwort stehen.“ Rustam schloss die Augen und schlang seine Arme fest um den Hals des Löwen. Noch schneller flog der Löwe dahin und stieß ein Gebrüll aus, wie Rustam es nie zuvor gehört hatte. Vom Schweiß des Tieres war Rustams Kleidung zum Auswringen nass geworden.
Unvermittelt machte der Löwe halt und befahl: „Steig ab!“ Rustam gehorchte, schlug seine Augen aber nicht auf. „Mach die Augen auf!“ Rustam gehorchte und sah, dass sie beide auf einem Bergesgipfel standen. Ringsum breitete sich eine Ebene aus. Der Ort war zwar menschenleer, aber anmutig: Gras grünte, überall blühten Rosen, und in den Aryks plätscherte klares Wasser. Entzückt fragte Rustam: „Wessen Land ist das? Wer lebt hier?“ Der Löwe war so erschöpft, dass er nicht antworten konnte. Er labte sich an einem Wassergraben. Danach kam er wieder zu Kräften, trat an Rustam heran und begann: „Jetzt hör mich an, junger Recke! Ich will dir das Geheimnis lüften. Die Lieder, das Stöhnen und die fröhlichen Schreie, die du unterwegs gehört hast – das alles sind Stimmen von Menschen des Sonnenlandes. Durch diese Stimmen gaben sie einander von sich Kunde. Manche stöhnten, andere lachten, und an der Stelle, wo ich dir befahl, die Augen zu schließen, konnte man sehen, wie es deinen Freunden geht. Du willst wissen, wem der Boden in diesen Bergen gehört. Es ist ein verzauberter Boden. Außer dir hat ihn noch keines Menschen Fuß betreten. Stets haben meine Väter, Vorväter und ich dieses Land gehütet. Nicht einmal andere Löwen unserer Sippe wagen sich hierher. Es wird die Zeit kommen, da ein Herr über dieses Land erscheinen und alle diese rätselvollen hohen Berge in einen Garten verwandeln wird.“ Gespannt hörte Rustam zu, schließlich wagte er die Frage: „Wer ist dieser Herr und wann wird er kommen?“ – „Das lässt sich schwer sagen. Aber unsere Vorväter erzählten in ihren Legenden, dass die Sonne auch dieses finstere Land mit ihren Strahlen erhellen wird.
Jetzt leb wohl, junger Recke, unsere Wege trennen sich. Du ziehst vorwärts, während ich zu den Meinen zurückkehre.“ – „Ich soll dir aber doch irgend etwas zurücklassen. Was soll es sein?“ Der Löwe führte Rustam an den Fuß eines Felsens und zeigte ihm die Wurzel eines großen Baumes, die wohl achtzig Ellen aus der Höhe herabhing. „An der Wurzel dieses Baumes musst du empor klimmen. Dieser Baum hat eine Höhlung. Wirf mir, wenn du den Berg erklommen hast, ein wenig Erde aus dieser Höhlung herab! Sie gilt bereits als Erde des Sonnenlandes.“ Als Rustam hörte, wie nahe das Sonnenland sei, freute er sich, als hätte er seinen Vater schon in die Arme geschlossen. Kaum aber hatte er die Wurzel genauer betrachtet, erschrak er, denn er wusste nicht, wie er sie erreichen, konnte. Von der Erde bis zu ihr waren es gut zwanzig Ellen. Der Löwe bemerkte Rustams Zaudern und schlug vor: „Setz dich auf meinen Rücken, ich bringe dich ein wenig näher.“ Wieder saß Rustam auf, und der Löwe machte einen kühnen Sprung. Mit beiden Händen klammerte sich Rustam an die Wurzel und zog sich empor. Er fand die Baumhöhle, die der Löwe erwähnt hatte, nahm ein wenig Erde heraus, wickelte sie in ein Tüchlein und warf sie hinab. Er winkte dem Löwen nach und wanderte durch das Gebirgstal.
Am nächsten Morgen sah er seinen heimatlichen Wald. Die Wurzel, an der Rustam empor geklommen war, gehörte nämlich zu einem Baum, unter dem sich sein Vater an den Abenden immer von des Tages Mühe ausgeruht hatte. Da gewährte Rustam die Bärin. Sie hatte den Kopf zur Seite geneigt, während ihr Junges sie mit den Vorderpranken umarmte. Kaum hatte die Bärin Rustam erblickt, schrie sie Auf, stürzte ihm entgegen und drückte ihn an ihre Brust. Tränen liefen ihr aus den Augen. „Um uns steht es schlimm“, klagte sie. „Die Wächter des Chakims sind gekommen, haben den Wald angezündet und deinen Vater mit allen Holzfällern gefesselt und weggeführt. Die Hirten erzählen, der Chakim habe das ganze Volk für heute Abend zusammengerufen, damit die Leute sähen, wie dein Vater und alle Freunde gehängt werden.“ In der Tat fand sich das ganze Volk am Abend auf dem großen Stadtplatz ein. Viele wollten den Unglücklichen helfen, wussten aber nicht wie. Doch es gab auch solche, die Festkleidung angelegt hatten und prahlend hoch zu Ross saßen. Einige waren auf Wagen gekommen, um sich anzusehen, wie die Unglücklichen am Galgen sterben würden. In der Nähe des Galgens standen Eisenkäfige mit kleinen Kindern, deren Väter sich der Willkür des Chakims widersetzt hatten oder aus ihrem Haus entflohen waren, um sich vor seiner Grausamkeit zu retten. Sie waren so ausgehungert, dass ihr Anblick Entsetzen hervorrief. In einem Käfig saß auch Suchra, die Tochter des Schusters Siddyk.
Plötzlich erschallten Blashörner. Soldaten bahnten mit Stöcken und Peitschen eine Gasse, durch die die mit Beilen bewaffneten Henkersknechte Rustams Vater und siebenundvierzig Holzfäller mit ihren Frauen zum Galgen führten. Den Unglücklichen hatte man die Arme auf dem Rücken zusammengebunden, ihre Gesichter waren fahler als Wachs. Als die Kinder in den Käfigen ihre Väter und Mütter erkannten, erfüllten ihre Schreie den ganzen Platz. Auf einem erhöhten Sessel saß der Chakim inmitten von Beis, Offizieren, dem Vorsteher des Galgens, Gendarmen und Wächtern. Salymbei ritt auf seinem falben Pferd hervor und begann mit lauter Stimme, den Befehl des Chakims über die Hinrichtung zu verlesen. Wieder erschallten die Blashörner. Die Henkersknechte stürzten sich auf die Unglücklichen und warfen ihnen Schlingen über. Zufrieden holte Salymbei seine silberne Tabakdose hervor und wollte eben eine Prise nehmen, als eine starke Hand ihn an der Schulter packte, emporriß und vom Pferd schleuderte. Die Soldaten griffen nach der Hand, die Salymbei herabgeschleudert hatte, stürzten aber selbst zu Boden. Die Henkersknechte versuchten den Befehl zu vollziehen, da plötzlich fiel ein dicker Baumstamm auf ihre Köpfe und schlug sie alle nieder. Als die Holzfäller um sich blickten, sahen sie, dass die Bärin sie befreit hatte. In der Menge wurden Stimmen laut: „Seht doch! Seht doch! Es ist ja Rustam, der Salymbei vom Pferd geworfen hat!“ Und alle fielen ein: „Rustam lebt! Rustam ist gekommen!“ Ein wirres Handgemenge begann. Als der Zorn des Volkes sich gelegt hatte, fand man auf dem Platz dreißig tote Henkersknechte, dazu zweihundert Soldaten, die aufgebrochenen Käfige und zwischen ihnen den toten Salymbei.
Die Menschen trugen ihre Kinder auf den Schultern. Allen waren voll des Lobes über Rustam und wanderten zusammen in den Wald, voran Rustam, der seinen Vater unter den Arm gefasst hatte, neben ihm der Schuster Siddyk mit seiner Tochter. Anfangs schwieg der Schuster und lächelte nur von Zeit zu Zeit, dann sagte er zu Rustam: „Erinnerst du dich noch an das, was ich dir damals im Wald erzählt habe? Nur hat mich der als Frau verkleidete Mann damals nicht zu Ende erzählen lassen.“ – „Daran werde ich mein Leben lang zurückdenken“, antwortete Rustam und bat: „Fahre doch mit deiner Geschichte fort, während wir hier gehen!“ Der Schuster Siddyk sah seine Tochter an. Verschämt schlug Suchra ihre Augen nieder, und Siddyk sagte: „Siehst du, das Mädchen, das so treu auf seinen Liebsten wartete und um seinetwillen solche Qualen des bösen Tyrannen ausstand, ist doch meine Suchra, die neben dir schreitet.“ Rustam warf einen schnellen Blick auf Suchra und sah die Wangen des Mädchens wie Granatäpfel erröten. Ein wundersames Gefühl überkam ihn. Nie im Leben hatte Rustam dergleichen empfunden. Schweigend schritt er voran. Lange wartete der Schuster Siddyk, dass Rustam etwas sagen würde. Als fiele ihm etwas ein, stellte ihm Rustam endlich die Frage: „Dann sage mir doch, wer dieser Recke ist, von dem du erzählt hast! Wo ist er?“ Lächelnd antwortete Siddyk: „Wer der Recke ist, auf den Suchra wartet, fragst du? Der danach fragt!“ Rustam hielt inne und sah seinen Vater an. Der lächelte und bestätigte damit Siddyks Antwort. Der Morgenwind rauschte in den Zweigen, alte Bäume bargen die Freunde in ihrem Schatten. Bald erfüllte sich der ganze Wald mit Freude. Zu den Menschen, die so viel Drangsal erduldet und so viele Qualen durchgemacht hatten, war der Recke des Sonnenlandes gekommen. Für sie begann ein freies, frohes und glückliches Leben.

Quelle:
(Usbekistan)

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