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Das Wasser des Paradieses

2.7
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Es war einmal ein Kaiser, der hatte eine einzige Tochter. Eines Tages wurde sie von einem Riesen geraubt. Der Kaiser ließ im Land verkünden, dass der seine Tochter zur Frau erhalten würde, dem es gelänge, sie zu befreien. Da zogen viele junge Helden aus, doch weder mit List noch mit Gewalt gelang es ihnen, denn der Riese besaß dämonische Kräfte, er besiegte sie alle.
Nun lebte damals ein wohlhabender Kaufmann, der hatte einen einzigen Sohn. Als der achtzehn Jahre alt geworden war, hörte er den Aufruf des Kaisers und sagte zu seinem Vater: „Väterchen, ich will auch mein Glück versuchen. Vielleicht gelingt es mir, die Kaisertochter zu befreien.“ Der Kaufmann überlegte lange, dann sagte er: „Wenn der Herrgott es will, könnte es dir gelingen. Ich will hundert Messen für dich lesen lassen, dir einen Beutel mit Goldtalern mitgeben und das schärfste Schwert und das beste Pferd, die in der Stadt zu finden sind.“
Der Bursche war noch nicht weit geritten, da stand eine alte Frau am Weg und bettelte um ein Almosen. „Hier, nimm!“, sagte der Bursche und gab ihr ein Drittel seiner Goldtaler. „Der Himmel möge es euch vergelten! Herr, wo reitet ihr hin?“ – „Ich reite zu jenem Riesen, der die Tochter des Kaisers geraubt hat!“ – „Hütet euch! Die Angeln an seinem Schlosstor knarren so laut, dass der Riese es sofort hört. Wenn ihr jedoch zuerst ins Heilige Land reitet und etwas Öl von der Lampe am Heiligen Grab holt und damit die Angeln einreibt, so könnt ihr unbemerkt ins Schloss schlüpfen.“ Der Held bedankte sich bei der Alten, wendete das Pferd und ritt auf das Heilige Land zu.
Als er so dahin ritt, saß ein alter, gebrechlicher Mann am Weg. „Herr, gebt mir ein Almosen!“ – „Hier, nimm!“, und der Bursche schenkte dem Alten das zweite Drittel seiner Goldstücke. „Vergelt’s Gott! Herr, wo reitet ihr hin?“ – „Ich reite ins Heilige Land, um etwas Öl von der Lampe am Heiligen Grab zu holen.“ – „Und was wollt ihr damit machen?“ – „Damit will ich die Angeln am Tor jenes Riesen einreiben, der die Tochter des Kaisers geraubt hat.“ – „Gut, gut! Doch müsst ihr wissen, dass der Riese die Kaisertochter mit einem Seil an sich gefesselt hat. Das kann kein Messer und kein Schwert durchschneiden, das kann nur der Zahn eines Krokodils.“ – „Und wo finde ich einen solchen Zahn?“ – „Zufällig habe ich einen hier. Und weil ihr so freundlich zu mir wart, schenke ich euch den Zahn.“ Der Bursche dankte, steckte ihn sorgfältig ein und ritt weiter.
Und nachdem er sich am Heiligen Grab das Öl geholt hatte, ritt er den Weg zurück, um dorthin zu gelangen, wo der Riese hauste. Da sah er am Weg ein armes, kleines Mädchen sitzen, das bitterlich weinte. Er hielt an, stieg vom Pferd und fragte: „Kleine, warum weinst du denn so?“ – „Weil daheim die Mutter krank ist und sie mich zum Betteln geschickt hat, damit sie sich eine Arznei kaufen kann. Doch alle sind vorüber gegangen, niemand hat mir etwas gegeben.“ – „Hier, nimm!“, sagte der Bursche und gab ihr noch das restliche Drittel seiner Goldstücke, die er besaß. „Das müsste einige Zeit reichen, dass ihr sorglos leben könnt.“ Das kleine Mädchen bedankte sich und fragte: „Herr, wo reitet ihr hin?“ – „Ich will zum Schloss des Riesen, der die Kaisertochter gefangen hält. So der Herrgott will, kann ich sie vielleicht befreien.“ – „Hütet euch, Herr!“, sagte das Kind, „denn wenn der Riese erwacht, ehe ihr das Land jenseits des großen Waldes erreicht habt, wird er euch töten!“ – „Nun gut, so werde ich mit ihm kämpfen.“ – „Er wird euch umbringen, denn er hat zauberische Kräfte, sodass er nie ermüdet. – Deshalb hört meinen Rat: Wenn ihr im Kampfe müde werdet, so ruft den großen Erzengel und bittet ihn, euch vom Wasser des Paradieses zu bringen. Und weil ihr einem armen, kleinen Kind geholfen habt, wird er es tun.“ Der Bursche bedankte sich bei dem kleinen Mädchen und ritt weiter.
Nach einer Zeit näherte er sich dem Schloss des Riesen. Und er machte es so, wie ihm die Alte geraten hatte: er nahm von dem Öl vom Heiligen Grab und rieb die Angeln des Schlosstors damit ein. Dann .öffnete er es geräuschlos und trat ein. Er suchte und suchte und endlichen im neunzehnten Gemach fand er den Riesen und die Kaisertochter, beide schliefen. Die Kaisertochter war mit einem Seil gefesselt, das der Riese um sein Handgelenk geschlungen hatte. Da zog der Bursche seinen Krokodilszahn heraus und begann damit, das Seil durchzusägen. Und nach einer Zeit hatte er es durchtrennt. Da erwachte die Kaisertochter von selbst. Der Bursche legte ihr den Finger auf die Lippen und sie stand schweigend auf und schlich sich leise hinter dem Burschen aus dem Schloss.
Als sie aber der Bursche draußen vor dem Schloss aufs Pferd Platz gehoben hatte, konnte sie sich nicht mehr halten und stieß einen lauten Freudenschrei aus. Der Bursche ritt sogleich los, so schnell das Pferd sie tragen konnte, den er wusste, dass der Riese nun erwacht sein müsste. Und in der Tat: Der Riese hatte den Schrei gehört und hatte erkannte, dass er übertölpelt worden war. Er ergriff sein Schwert und rannte durch die Gemächer zum Tor seines Schlosses hinaus.
Der Bursche und die Kaisertochter hatten zwar einen gewissen Vorsprung, doch der Riese holte sie fastein, als sie eben den Rand des Waldes erreicht hatten. Der Bursche hob die Kaisertochter vom Pferd und sagte ihr, sie sollte durch den Wald hindurch flüchten. Er selbst stellte sich dem Riesen zum Kampf. Am Anfang widerstand er sehr tapfer den Hieben des Riesen. Aber dann spürte er, wie sein Arm schwer wurde und er das Schwert kaum mehr halten konnte. Da flüchtete er zwischen die dicht stehenden Bäume des Waldes. Jedoch der Riese riss sie aus als wären sie Grashalme.
In seiner Bedrängnis fiel dem Helden der Rat des kleinen Mädchens ein und er rief laut zum Heiligen Erzengel. Noch bevor ihn der Riese erreichte, stand da der Erzengel mit einem goldenen Kelch vor ihm, in dem war Wasser des Paradieses. Kaum hatte der Bursche den Kelch bis zum Grunde geleert, da spürte er eine wunderbare Kraft durch seine Glieder rinnen. Er kam aus dem Dickicht hervor und stürzte sich auf den Riesen. Es gelang ihm, diesem das Schwert aus der Hand zu schlagen und ihm mit einem Hieb den Kopf vom Rumpf zu trennen.
Dann holte er zunächst die Kaisertochter aus dem Wald zurück und ritt mit ihr zum Schloss des Riesen, um es in Besitz zu nehmen. Ein Bote wurde zum Kaiser mit der frohen Nachricht gesandt, dass seine Tochter befreit sei. Und bald darauf wurde die Hochzeit gefeiert. Bei dieser Hochzeit gelobte das Brautpaar, seinen Kindern nur Namen von Engeln zu geben. Und so ist es auch geschehen.
 
Armenische Märchen aus: Wundersame Geschichten von Engeln, F. Karlinger, Frankfurt a.M. 1989.

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