„Halt ein, Bauer“, rief der Wandersmann. „Willst du einem müdem Wanderer Obdach geben?“
Der Feldarbeiter hielt inne, sah sich den Wanderer kurz an und murmelte dann: „Von mir aus.“
Der Wandersmann legte seinen Stock und Hut ab, wischte sich die verschwitzte Stirn und das graue Haar, setzte sich auf einen Findling und wartete in seinen Mantel gehüllt bis zum Einbruch der Dunkelheit. Er beobachtete den Bauern, der sich abmühte, und dachte, dass dieser wohl schon ein alter Mann war. Die Hütte des Bauern war auf gleicher Höhe am Hügel etwas weiter gelegen, hin zum nächsten Tal.
Der mächtige Pflug grub sich schmatzend und schleifend in das schwere Erdreich ein, die Ackergäule zogen missmutig, und auch der Bauer wartete nur auf das Tagesende. Er setzte das Pflugmesser ab, trieb die zwei Gäule auf den kleinen Feldweg, und dann liefen sie los nach Hause. Die Gäule voraus, am Zügel gehalten, dahinter der Bauer und zuletzt müde trabend, fast etwas humpelnd der Wandersmann.
Auf dem Tisch stand eine Kerze, die junge Bauersfrau stand in der Küche, ein derbes Kopftuch schützte sie vor der Hitze des Wasserkessels. Sie drehte sich auch nicht zum Gruße um, als der Wanderer sie begrüßen wollte. Der Bauer zeigte ihm den Heuboden neben dem Wohnhaus, wo das trockene warme Heu ihm die Nachtstatt geben sollte. Dann gingen sie zurück in die Wohnstube und der Bauer setzte sich krachend auf die kahle Bank neben dem offenen Kamin, öffnete die Kappe des Bierhumpen, füllte einen Tonbecher für seinen Gast und liess den Gerstensaft in seinen Rachen fließen.
„Vor langer Zeit“, meinte der Wanderer, „kam ich hier vorbei, und diese Hütte war in Schutt und Asche, bis auf den Boden abgebrannt.“
„Das ist wahr“, der Bauer nickte langsam.
„Aber Ihr habt die Hütte wieder aufgebaut.“
„Nein“, widersprach der Bauer fest, „wir haben hier unser Haus gebaut.“
Der Wanderer sah ihn an und verstand nicht, ob die Betonung auf „unser“ oder „Haus“ lag. Wahrscheinlich hatte der Bauer nichts mit den Vorbesitzern zu tun. Je länger der Wanderer den Bauern anschaute, desto mehr hatte er den Eindruck, dass unter dem alten, abgearbeiteten Gesicht, dem Stirnrunzeln und der Langsamkeit ein noch junger Mann steckte, der in seinem Leben viel gearbeitet hatte.
An der Wand der Stube hing ein Stab, ein riesiger Knüppel, und bevor die Bauersfrau aufgetragen hatte, ergriff der Wanderer die Möglichkeit, das Thema zu wechseln: „Ist das ein besonderer Stock?“
Der Bauer lies den Krug sinken, trocknete mit dem Hemdsärmel seinen Schnauzbart und grinste: „Das ist eine lange Geschichte…“
„Nur zu!“, erwiderte der Wandersmann mit einer aufmunternden Handbewegung den jungen Bauern und hob seinen Becher an. Da begann der Mann zu erzählen. Zuerst unwillig, doch je länger die Geschichte dauerte, desto mehr redete er sich Fahrt, und die Sorgenfalten verschwanden aus dem müden Gesicht…
Es war einmal ein junger Prinz. Der Kronprinz des Königreichs. Es war am Vorabend seiner Krönung, das ganze Schloss war in lärmender Vorbereitung des Festtags begriffen.
Der junge Kronprinz trug einen einfachen Leinenumhang, um die Hüfte einen breiten Gürtel. Er lief langsam den mit Fackeln erhellten Gang entlang. Er maß jeden seiner Schritte, und doch kam es ihm vor, als ob alles viel zu schnell ging.
Auf der linken Seite stand eine grosse Holztür offen. Warmes Licht, Geschrei, Geschirrlärm und Keuchen erfüllten den halb dunklen Gang. Der Kronprinz blieb im Türrahmen stehen. Er entdeckte eine braune Tunika, behaarte Beine und Sandalen. Der Oberkörper samt Kopf waren in einem großen Kessel verschwunden, der über der Feuerstelle stand.
Der Koch, ein dickes Männchen, so breit wie hoch, rührte in einem riesigen Teigtopf um. Das tat er mit seinen bloßen Armen, die waren schon weiss vom Mehl-Eier-Wasser-Gemisch. Der dicke Koch tat so, als ob er die braune Tunika nicht sehen würde. Das taten aber die anderen Köche und Küchenhilfen, die sei es mit Fleischschneiden, Zwiebelnhäkseln, Kohlkochen oder einfach mit Abwasch in dem großen Bottich mit dreckigen Spülwasser beschäftigt waren.
Einer protestierte: „Holt den Schmarotzer da weg!“ Eine alte Frau verlangte: „Schmeißt den unnützen Mönchen endlich raus!“ Nur alle schienen sie zu sehr beschäftigt zu sein, um den Worten Taten folgen zu lassen. Allein eine junge Frau mit langen lockigen schwarzen Haaren, die wallend in ihrem Rücken lose zusammengebunden waren, ging behenden Schritts auf die schmarotzende Tunika zu.
„Dicker Theobald, schämen Sie sich, mein Bruder!“ Es erschien ein roter, suppeverschmierter Glatzkopf am Kesselrand:
„Meine Tochter, übertreibe nicht! Ich prüfe doch nur, ob die königlichen Speisen vergiftet sind!“
„Dazu“, sie stemmte die Fäuste in die Hüfte, „müssen Sie nicht die königlichen Speisen zur Neige trinken!“
„Oh!“, machte das dicke Mönchlein und starrte mit runden Augen zum Kücheneingang, wischte sich mit der Tunika die Essensreste aus dem runden Gesicht.
„Wenn man vom Teufel spricht“, funkelte sie herausfordernd den Gast im Türrahmen an.
„Was kann ich für den Herrn Prinzen, die Hoffnung des Landes und den Augapfel meines Herzens, tun?“, fügte sie spöttisch an.
Der königliche Eindringling errötete, und während alle Küchenarbeiter – ausser der jungen Frau – rasch das Knie beugten, nuschelte der junge Mann verwirrt: „Macht nur weiter.“ Und verließ geniert seinen Beobachtungsposten.
„Wie kannst du nur!“ Das schwarzhaarige Mädchen fühlte den eisernen Griff des Kochs an ihrem Arm. Mit der anderen Hand packte der Mann sie an den Wangen:
„Tu das nie wieder, sonst bist du verloren, Weib!“
Die junge hübsche Frau schob sich eine lockige Haarsträhne aus dem Gesicht, wischte sich die Mehlreste von der Wange und stierte dickköpfig vor sich hin.
„Und du, Mönchlein, verschwinde jetzt“, schob der dicke Koch den ebenso dicken Vorkoster vor die Küchentür. Der Glatzkopf in der Tunika lächelte verschämt, als er etwas weiter von der Küchentür entfernt den Kronprinzen traf, der einen Moment lang nachdenklich gewartet hatte.
Der alte König saß schlaff und erschöpft auf seinem Thron. Er hielt das Königszepter waagerecht vor sich ihm Schoss. Das Sprechen wurde ihm abgenommen, und das wie immer vom Graf von Beelzebub. Der Graf wandelte, einem römischen Senator gleich, in herrischen Schritt, vor dem königlichen Thron auf und ab, sein Blick in die Ferne gerichtet, verlautete er den königlichen Willen: „Unser einziger Sohn, Prinz Ferdinand, ist der Stolz unserer Majestät…“ Und dem jungen Mann hallte im Kopf wieder: „der Augapfel meines Herzens…“
„und soll am morgigen Krönungstag noch ein weiteres Geschenk unserer Majestät erhalten. Es sei bestimmt, dass seine Verlobung mit der Prinzessin Melabela drei Monate später mit unserer königlichen Zustimmung und Unterstützung stattfinden soll.“ Ein Stich ging dem Kronprinzen durchs Herz. Ferdinand liess seinen Blick durch den Krönungssaal schweifen. Neben den Wachen, den Ministern stand schüchtern die bleiche Melabela, Tochter des Graf von Beelzebub. Ihre wässrigen Augen beobachteten die Verlautbarung, und Ferdinand hätte gern gewusst, was diese Verkündigung in ihrem blonden Kopf anrichtete.
Der König hob unmerklich seine Hand und sprach flüsternd: „Melabela, kommt zu mir!“
Die Grafentochter ging vorsichtig an ihrem Vater und Ferdinand vorbei und kniete sich vor dem König nieder. Ferdinand sah sie, dieses feine, zärtliche Geschöpf. Doch er hatte keine Gefühle für sie. Er kannte sie seit Jahren; Melabela wohnte als Grafentochter seit ihrer frühesten Kindheit am Hof. Ferdinand wußte, dass hinter ihrer unschuldigen, kindlichen Miene eine geschwätzige und hinterhältige Frau verborgen war. Der Kronprinz hatte nie ihre Nähe gesucht oder versucht, ihr Vertrauen zu erwerben. Instinktiv misstraute er ihr und war ihr fern geblieben.
„Steht auf, meine Tochter!“ Sie küsste dem königlichen Greis die Hand. Der wandte sich mit flackerndem Blick seinem Sohn zu. Dieser konnte das nicht ertragen, wandte sich ab und lief aus dem Krönungssaal.
„Warte!“, rief der Graf von Beelzebub ihm hinterher, „es ist doch nur zu Deinem Besten und für das Königreich!“
„Und für das Königreich!“, die Worte hallten ihm noch ihm Kopf nach. Die Nacht war fortgeschritten, und der Kronprinz fand keinen Schlaf. Ein Hund schlug keifend an. Es ging ein feiner, aber schneidend kalter Wind. Ferdinand hüllte sich enger in seinem wollenen Umhang. Er stand allein auf dem Wachturm, und der Krönungssaal erschien ihm weit entfernt, auch das Dorf im Tal. Fast alle Lichter waren gelöscht. Der bleiche Mond erhellte matt die Burg. Die Entscheidung war schwer und würde endgültig sein. Schliesslich stieg er die enge Wendeltreppe wieder hinab, nahm das vorbereitete Seil, und schlich sich auf den Burghof. Das leise Scharren seiner Schuhe auf den Pflastersteinen wurde an Burgmauern reflektiert. Ferdinand versuchte im Schatten der Mauer zu bleiben, damit die Wachen ihn nicht sahen. Er kam an der unbewachten Schießscharte an. Sie war so breit, dass er sich durchschlängeln konnte. Das lose Ende seines Seils warf er durch die Scharte, das andere war um einen Steinbrocken gewickelt. Ferdinand ergriff das Seil und liess sich an der Burgmauer hinab. Im Wassergraben angekommen, musste er einige Meter schwimmen. Er vermied zu keuchen oder schnelle Schwimmbewegungen zu machen. Dann hatte er den anderen Rand des Burggrabens erreicht. Er hievet sich langsam aus dem Graben, das Wasser floss aus seiner Kleidung heraus. Er blickte hoch auf die Mauerbrüstung, die Wachen hatten weder ihn noch das verbliebene Seil entdeckt.
Der Hahn krähte, und das Heu stach ihm im Gesicht. Er fror, die Kleidung war immer noch nicht trocken. Er rieb sich das Gesicht, stand auf, nahm seinen Umhang, den er zum Trocknen neben sich ins Heu gehängt hatte. Dann drückte er das Scheunentor auf. Der matschige Weg war nicht weit. Es war schon Licht in der Gaststube des Wirtshauses. Er drückte die Tür auf, legte einen Gulden auf die Theke und verlangte zu essen. Das Feuer im Kamin war schon angefacht, er stellte sich davor, um sich zu wärmen. Wohin nun? Er hatte ausser dem Gulden kein Geld bei sich…
„Wo find ich hier eine Arbeit?“, fragte er den Wirt.
Der schaute ihn mit großen Augen an: „Du bist nicht von hier…“
„Nein, warum?“
Der Wirt trug ihm Brot, Suppe und Schinken auf: „Dann wüßtet Ihr, dass es nicht an Arbeit mangelt, es ist Erntezeit, aber gebt Acht…“
In diesem Moment wurde die schwere Holztür aufgewuchtet, und ein uniformierter Reiter betrat mächtigen Schritts den Wirtsraum. Seine Sporen kratzten auf den Holzbohlen: „Wirt, ein Bier für mich und meine Zolleintreiber.“ Fünf andere Männer, in der gleichen Uniform wie der erste, betraten schwatzend den Raum.
Der Wirt stellte stumm einen großen vollen Krug und sechs Becher auf die Theke. Die Zollbeamten bedienten sich und leerten rasch den Krug. „Und deine Abgaben?“
Der Wirt kramte einen kleinen Ledersack aus seinem Umhang und legte ihn auf die Theke. Der Anführer der Zolleintreiber grinste. Er nahm das Säckchen, öffnete es, zählte die Gulden darin, grinste wieder, meinte „Gut! Gut!“, entnahm einen Gulden, warf ihn auf die Theke, „Fürs Bier“ und wandte sich schon dem Ausgang zu. Da entsann er sich Ferdinands, der immer noch an seinem Tisch saß und aß. „Du da! Was machst du da?“
Ferdinand hob den Kopf mit Unschuldsmiene.
„Wo hast du geschlafen und deine Übernachtungsgebühr bezahlt?“
Ferdinand schluckte den Brocken Brot hinunter und wollte schon fragen: „Welche Übernachtungsgebühr?“
Alle sahen ihn an, doch der Wirt antwortete für ihn: „Hier!“, und räumte die Becher und den Krug ab. Der Zollchef sah einmal auf den Wirt, dann wieder auf Ferdinand und liess letztlich von ihm ab: „So sei es denn, Wirt! Bis zum nächsten Mal, Wirt! Haha!“
Ferdinand stand auf, durchquerte den Wirtsraum, der Wirt sah ihn an und sagte nur: „Pass auf, Junge, leider gibt es viele, die für den Grafen arbeiten.“
Der Prinz trat auf die Strasse und hörte einen Ansager, der mit einer großen Glocke: „Männer! Arbeitswillige Männer! Sucht ihr einen guten Taglohn? Kommt zu uns!“
Ferdinand folgte dem Ansager wie drei, vier andere Männer auch, und sie kamen auf dem Marktplatz an. Dort stand ein dicker Bauer mit einem dicken Knüppel in der Hand.
„Wer will arbeiten?“
Ein paar Arme reckten sich.
„Und was zahlt Ihr?“, fragte einer der Männer.
„Einen guten Gulden pro Tag und geleisteter Arbeit“, erwiderte der Bauer ruhig und wiegte seinen Knüppel.
Ferdinand verstand nicht. Das Geld einer Wirtshausmahlzeit für zehn Stunden Arbeit auf dem Feld? Doch er sagte nichts. Die Gruppe der Feldarbeiter zog auf die Äcker. Da stand hoch der Weizen. Man gab Ferdinand eine Sichel. Dann begann die Arbeit. Je höher die Sonne stieg, desto schwerer wurde die Arbeit.
Ferdinand war die schwere Arbeit nicht gewohnt; er versuchte, mitzuhalten, doch der Aufpasser mit dem Knüppel hatte ihn schon bemerkt: „Du da! Schneller! Wir sind hier nicht zum Schlafen gekommen!“ Ferdinand tat wie ihm geheißen und entwickelte einen Ehrgeiz. Den Ehrgeiz dessen, der zeigen wollte, dass er es genauso konnte wie die anderen. Der Aufpasser bemerkte es, wog seinen Knüppel und lachte heimlich: „Das sind die Richtigen! Für einen Hungerlohn bis zum Umfallen arbeiten! So muss es sein! Der Graf wird zufrieden sein mit der Erntearbeit!“
Doch in der Gruppe der Tagelöhner gab es noch Schwächere als Ferdinand. Ein altes, mageres Männlein mühte sich ab, wie es konnte, aber …
„Du altes Skelett! Beeil dich!“, rief der Bauer mit dem Knüppel.
In der sengenden Hitze schnitten die Tagelöhner den Weizen, banden ihn zu Garben und warfen ihn auf den Pferdewagen. Der Wagen fuhr los zum nahegelegenen Grafenhof, wo der Weizen gedroschen und der Spreu vom Weizen getrennt wurde, bevor der Weizen zur Mühle ging. In der Zwischenzeit kam der zweite Pferdewagen, um die nächsten Garben zu holen…
Es war kaum Mittag vorbei, die Pausenzeit war kurz, und der Alte neben Ferdinand stemmte sich erschöpft auf seine Sichel und pustete: „Ich schaff es nicht! Ich schaff es nicht…“
Da hörte der Prinz den Aufpasser hinter sich: „Du alter Nichtsnutz, ich habe dich gewarnt!“
Der Keulenschlag ging dumpf auf den gebrechlichen Rücken des Alten nieder, der sank wie tot in den Weizen. Doch das war dem Aufpasser nicht genug. Er holte ein zweites Mal aus, um den Alten zu prügeln. Doch Ferdinand hatte seinen Arm ergriffen und verhinderte es. Der Aufpasser war so verblüfft, dass es Ferdinand gelang, ihm den Knüppel aus der Hand zu nehmen. Doch da wurde der Bauer wütend und schrie: „Du elende Wurst! Gib mir meinen Knüppel wieder, dass ich dir Mores lehren kann!“
Das war zu viel. Der Prinz geriet jetzt seinerseits in eine Wut, die der Aufpasser von einem Tagelöhner nicht erwartet hatte: „Du Sklaventreiber“, rief Ferdinand, „selber Nichtsnutz und hirnloser Keulenschwinger! Was bist du denn ohne deine Keule?“
Das liess sich der andere nicht zweimal sagen und ging mit bloßen Händen auf den Prinzen zu. Der war zwar schmächtiger und kleiner als der Aufpasser, aber hatte eine Fechtausbildung am Hof erhalten. Der Knüppel bohrte sich in die Magenhöhle des Aufpassers, bevor der sich versah. Er krümmte sich vor Schmerz. Und hatte keine Zeit zu reagieren, denn jetzt bekam er links und rechts seinen Knüppel in die Seite, ins Kreuz, der Aufpasser brach verprügelt zu Boden, und die anderen Tagelöhner lachten, klatschten Beifall und riefen: „Das geschieht ihm recht, dem Grossmaul!“
Doch dem Prinzen verblieb nicht viel Zeit. Die Aufseher auf den anderen Feldern ringsherum hatten den Streit gehört und gesehen und kamen schon, um ihrem Kameraden zu helfen.
Schnell entschlossen nahm Ferdinand den Knüppel und lief los. Doch wohin jetzt? Sollte er sein Leben lang flüchten? Seine Verfolger schüttelte er schnell ab, denn sie waren zu weit entfernt. Da zog Ferdinand wild entschlossen vor das Burgtor, das verschlossen vor ihm lag. Mit der Keule polterte er gegen das hölzerne Tor: „Wachen, öffnet mir. Ich bin der Kronprinz!“
Die Wachen erkannten die Stimme des Königssohns und eilten zu den schweren Ketten, um die Zugbrücke hinunterzulassen.
Der Graf hatte seit der Flucht des Prinzen die Königsburg nicht verlassen, aus Angst, dass der Kronprinz sich mit Gewalt die Königsmacht aneignen würde. Der Graf hörte das Rufen und erkannte die Stimme sofort. Er lief, so schnell er konnte, zu den Wachen hinab: „Was macht ihr da, Nichtsnutze?!“, heischte er sie an.
„Aber Herr, der Prinz steht doch vor dem Tore!“
„Habt ihr den Hochstapler nicht durchschaut?“
Die Wachen schauten sich gegenseitig erstaunt an.
„Meint ihr, der Kronprinz hätte es nötig, euch zu bitten, die Zugbrücke herunterzulassen? Aber der Mann draussen ist gar nicht der Prinz, sondern es ist ein Hochstapler, der für unsere Feinde arbeitet. Wer die Zugbrücke herunterläßt, ist ein Verräter und wird mit dem Tode bestraft! Ist das klar!“, schrie Beelzebub die armen Wachen an. Diese nickten stumm.
Doch auch der König hatte den Schreier gehört. Beelzebub lief zurück in den Thronsaal. „Wer zum Teufel schreit da so?“, fragte der alte König beunruhigt.
Beelzebub zuckte zusammen: „Ein Trunkenbold, ein Störenfried!“, entgegnete der Graf schnell.
„Was schreit er denn? Ich versteh ihn nicht.“
„Trunkenbolde wie der da brüllen unsittliche und böse Dinge, mein König…“
„Ach, wär doch mein Sohn da“, stöhnte der Alte, „habt Ihr ihn denn nicht gefunden, Graf?“
„Oh, Majestät, wir haben in allen vier Himmelsrichtungen gesucht, und ihn nicht gefunden.“
Doch der Kronprinz stand vor der verschlossenen Burg und war jetzt vogelfrei. –
Der Bauer hatte seine Erzählung beendet. Der Wanderer nickte: „Der Prinz hatte sein Königreich verloren, und zum Andenken habt ihr den Knüppel aufbewahrt?“
Die Bäuerin räumte das Essen ab.
„Der Vorbesitzer der Hütte hat ihn mir gegeben und die Geschichte erzählt“, sagte der Bauer schnell.
„Ist das denn das Ende der Geschichte?“, fragte der Wanderer irritiert.
„Ja, gewiss.“
„Aber was ist aus dem Prinzen geworden? Wer hat die Grafentochter geheiratet? Ist der alte Tagelöhner gestorben?“, beharrte der Gast.
„Ich weiss es nicht“, blockte der Bauer ab.
Die Bäuerin trug einen neuen Krug mit Bier auf.
„Ist der Graf von Beelzebub noch der Berater des Königs? Wo lebt der verstoßene Prinz jetzt?“
„Ich weiss es nicht“, wiederholte der Bauer. „Ich weiss nur, dass der Prinz flüchten musste.“
„Und wohin?“
„So hört!“, gab sich der Bauer geschlagen und erzählte den zweiten Teil der Geschichte.
Der Prinz musste flüchten. Er hatte verstanden. Der Graf hatte den Wachen verboten, ihn einzulassen. Ja, sein Instinkt sagte ihm, dass Graf von Beelzebub versuchen würde, ihn aus dem Weg zu räumen. Und Ferdinand ging los. Nur weg von hier! Er war kaum eine Stunde entfernt von der väterlichen Burg, da hörte er Pferdegetrappel. Er sah zurück und bemerkte, wie aus der Burg eine ganze Kompanie an bewaffneten Reitern heraus ritt. Da bekam er Angst. Er begann zu laufen.
Plötzlich sah er einen Wagen mit Bierfässern ihm entgegenkommen. Er hatte keine Zeit mehr, ihm auszuweichen. Er wollte rasch an dem Bierwagen vorbei, da hörte er eine bekannte Stimme: „Herr Kronprinz, was macht ihr denn hier?“, rief der glatzköpfige Theobald vergnügt.
Die Reiter kamen näher. Sie hatten Ferdinand auf dem nächsten Hügel erkannt. Der Graf selbst führte die Kavallerie an. „Galopp! Schneller!“, trieb er Ross und Reiter an. Sie durchquerten das Tal und preschten den Hang herauf.
Auf dem Hügel angekommen, hielt die berittene Kompanie inne. Nichts war zu sehen. Nur ein Bierwagen stand da. Der Graf gab den Befehl, ihn einzukreisen.
Der Bierwagen stand ohne Kutscher am Wegesrand. Die Pferde waren abgespannt und unter der nächsten Hecke lag ein dicker Mann in einer Mönchstunika.
„Theobald“, schrie Beelzebub den Glatzkopf aus dem Schlaf.
Der dicke Mönch rieb sich die Augen: „Was gebietet ihr, mein Herr?“
„Hast du einen jungen Mann vorbeikommen sehen?“
Theobald kratzte sich den blanken Schädel: „Nicht dass ich wüsste…“
„Schon gut“, verlor der Graf die Geduld und schaute sich die Bierfässer an.
„Etwas Auffälliges?“, fragte er die Reiter.
„Nichts. Alle Bierfässer sind voll, da hat sich keiner versteckt.“
„Soso“, meinte der Graf nachdenklich.
Jetzt hörten die Reiter einen Kindergesang.
Das war nicht weit entfernt.
„Laurenzia, liebe Laurenzia mein,
wann werden wir wieder zusammen sein?
Am Mo-o-ontag!
Ach wenn es doch wieder Montag wär
Und ich bei meiner Laurenzia wär, Laurenzia wär..“, sangen die Kinder, als die Reiter herantrabten. Die Kinder hatten sich an die Hände gefasst und einen Kreis um einen Baum gebildet. Sie sangen, tanzten und gingen lachend in die Knie, wenn sie die Wochentage wiederholten.
„Habt ihr jemanden gesehen, Kinder?“, fragte der Graf, doch die Kinder unterbrachen den Gesang nicht. Nur eines drehte sich um und schüttelte den Kopf.
„Hier ist er wohl auch nicht gewesen…“, dachte sich der Graf und ordnete an, dass sich seine Reiter in alle Himmelsrichtungen verteilen sollten.
Kaum waren die Reiter weg, näherte sich der dicke Mönch der Kinderschar und klatschte in die Hände: „Danke, Kinder das reicht, das habt ihr gut gemacht! Und nächstes Mal bring ich euch Honigbrote aus der königlichen Küche mit, wie versprochen…“ Dann ging Theobald durch den Kreis auf den Baum zu, öffnete die Rinde, und aus dem hohlen Baum entstieg Ferdinand.
„Komm, ich führ dich an einen sicheren Platz…“
Der Graf kehrte unverrichteter Dinge ins Schloss zurück. Er war wütend. Irgendetwas war schief gelaufen, nur was? Die Nacht brach ein. Das Abendessen wurde aufgetragen. Der König aß schmatzend und schweigend. Sein Sohn fehlte ihm. Der Mundschenk reichte ihm stumm die Speisen. Doch der König wehrte ab. Melabela starrte auf ihren Vater und bekam keinen Bissen hinunter.
Der König gab der Saalwache einen Wink und stand stöhnend auf. Der Alte wollte sich zurückziehen. Seit dem Verschwinden seines Sohnes hatte er zu nichts mehr Lust, am liebsten wäre er in Frieden entschlafen. Die Diener brachten den alten Mann zu Bett. Graf von Beelzebub war mit seiner Tochter alleine.
„Nun, was hat eure Suche erbracht, Vater“, fragte fordernd die junge Frau.
„Nichts“, zuckte der Graf mit den Schultern. „Doch eine Sache beschäftigt mich seit heute nachmittag… Sagt: Wenn ich euch zum Beispiel frage: Habt ihr jemanden gesehen? Was antwortet ihr da?“
Die Frau sah ihn an und antwortete sofort: „Wen? Wen soll ich gesehen haben?“
Der Graf stand unvermittelt auf. Sein Lehnstuhl fiel polternd auf den Steinboden: „Verrat! Verrat! Die Kinder haben ihn gesehen!“
Seine Tochter erhob sich ebenfalls: „Was habt ihr? Berichtet!“
Das war schnell getan.
„Auf, sattelt die Pferde“, rief der Graf der Saalwache zu.
„Einen Moment“, zischte die Tochter. Dann funkelte sie Beelzebub an: „Habt ihr nicht gesagt, der Mönch schlief neben den spielenden Kindern?“
„Ja, sicher“, entgegnete der Graf.
Die Frau stieß ein heiseres Lachen aus, und sie legte den Finger auf ihren Mund: „Nur keinen Laut, mein Vater, ich weiss, wo wir zuerst suchen sollten.“ Und mit kalter Entschlossenheit wandte sich die Hexe dem Saalausgang zu. Die Schlossküche war ja nicht weit entfernt …
Ferdinand erwachte durch hallende Schritte auf. Schnell zog er sich noch tiefer in die Dunkelheit der kalten Höhle zurück. Aber das flackernde Licht und das Scharren der Schritte kamen näher! Der dicke Mönch hatte ihm doch versichert, dass er hier in der Höhle in Sicherheit sein würde… Langsam tastete sich Ferdinand in der Dunkelheit zurück, doch da stürzte er unvermittelt über einen Stein. Die Geräusche der Schritte verstummten. Dem Prinzen schmerzte durch den Aufprall der linke Arm. In der rechten Hand hielt er noch den Knüppel. Mühsam krabbelte er auf allen Vieren zurück. Jetzt begannen die Schritte sich wieder zu nähern. Sein Schädel prallte schmerzvoll gegen die Höhlenwand. Ferdinand liess kraftlos den Knüppel fallen. Er war an der Rückwand der Höhle angekommen!
„Ferdinand!“, hörte er eine sanfte Frauenstimme. Die kannte er. Aber war das nicht…?
Das Licht kam näher. Es erhellte die Höhle. Die Tritte waren jetzt ganz nah. Da stand sie vor ihm. Das hatte er sich niemals träumen lassen. Die Küchenmagd! Sie lachte ihn an: „Jetzt schaut nicht so verwundert, Prinz!“
„Wie … wie heisst ihr?“, es wurde ihm bewusst, dass er noch nicht einmal ihren Namen kannte.
„Ist das wichtig?“
„Aber wie… wie habt ihr mich gefunden?“
Statt einer Antwort lachte sie geheimnisvoll.
„Schnell“, antwortete sie, „dort oben ist ein zweiter Ausgang aus der Höhle. Die Reiter mit dem Grafen werden bald ankommen!“ Sie leuchtete mit ihrer Kerze nach oben. Ein schmales Loch führte an der Rückwand entlang, und schwarze Leere breitete sich dahinter aus.
„Ich gehe euch voran“, sie hob den Rock an und kroch in das Loch. Der Prinz schüttelte den Kopf und folgte ihr schliesslich nach.
Als die Reiter am Höhleneingang ankamen, waren die beiden durch das Loch geflüchtet. Graf von Beelzebub war noch wütender als am Nachmittag. Sie standen in der Höhle, die von ihren Fackeln erleuchtet war, und sahen nur die Rückwand. Mit scharfem Blick schaute sich Melabela ebenfalls um. Sie war es, die das Schlupfloch entdeckte. Die Reiter krochen los. Doch als sie am anderen Ende aus dem Loch herausstiegen, die frische Nachtluft einatmeten, hüllten die tiefe Nacht und die Stille des schlafenden Waldes die Verfolgten ein.
„Sie sind uns wieder entkommen.“, zeterte der Graf.
Es vergingen Wochen und Monate. Gerüchte auf dem Land gingen herum, dass der Kronprinz sich mit einer Geliebten versteckt hatte. Beelzebub liess die Bauern vernehmen, doch niemals gab es eine genaue Ortsbeschreibung, wo der Prinz sich aufhalten sollte. Die Geschichte des verprügelten Aufsehers machte die Runde. Nur einer im ganzen Königreich wußte davon nicht. Das war der König. Für ihn hatte ihn sein jähzorniger Sohn in einer schlechten Laune verlassen. Er war traurig, und Beelzebub unternahm alles, damit er in Unkenntnis der wahren Geschichte blieb. Aus Gram starb der König.
Am Tag der königlichen Beerdigung verkündeten Herolde in allen Städten und Gemeinden, dass Graf von Beelzebub als Reichsverweser eingesetzt werden sollte, und wenn der Kronprinz nicht mehr auftauchte, in 30 Tagen zum König gekrönt werden sollte.
Theobald, der dicke, unglückliche Mönch, hatte sein Geheimnis der Höhle dem Grafen preisgegeben. Doch seitdem hegte er nur noch einen Wunsch, nämlich den auf Vergeltung. Jetzt nach dem Tod des Königs wurde er ganz unruhig. Er wußte, dass sich Ferdinand in der Einöde versteckt hielt. Wußte Ferdinand, was Beelzebub im Sinn hatte? Der dicke Mönch spannte den Bierwagen an und machte sich auf den Weg. Er fuhr einen halben Tag, bis er zu dem einsamen Bauernhof kam, wo Ferdinand lebte. Er klopfte an die Tür. Lächelnd öffnete ihm die Küchenmagd die Tür: „Miriam! Schnell! Der König ist tot! Ferdinand muss auf die Königsburg, seine Krone einklagen!“
Ferdinand kam in die Wohnstube, und der kahlköpfige Mönch erzählte ihm, was die Herolde verkündet hatten.
„Du hast Recht, Theobald! Satteln wir die Pferde!“
„Willst du wirklich?“, fragte Miriam mit einem Mal ängstlich.
„Ich muss!“
Der Mönch lief zu seinem Bierwagen, den er oberhalb des Hauses an einem Bach angebunden hatte, damit die Pferde Wasser trinken konnten. Doch kaum wollte er die Zügel losmachen, da hörte er Reiter heransprengen. Theobald verbarg sich hinter großen Büschen. Die Soldaten näherten sich schnell dem Bauernhof, der Graf an der Spitze.
„Blockiert die Türen, vernagelt die Fenster, werft Pech aufs Dach, facht Feuer an, sie werden wie Ratten am lebendigen Leib verbrennen!“, schrie der Graf.
Die Soldaten verteilten sich schnell. Alles war vorbereitet. Sie blockierten die Türen und Fenster mit ihren Lanzen und Holzscheiten. Sie warfen das mitgebrachte Pech auf das Dach. Sie machten Feuer und steckten das Bauernhaus in Brand. Die Holzhütte brannte sofort lichterloh.
„Beelzebub! Das könnt ihr nicht machen!“, schrie der Kronprinz und rüttelte an der blockierten Tür.
„Erbarmen!“, flehte Miriam.
„So soll es allen ergehen, die sich Beelzebub in den Weg stellen!“, rief der Graf mit Siegesstimme. Theobald hörte das grausige Wüten von seinem Versteck aus. Die Soldaten waren ihm heimlich von der Burg gefolgt, doch jetzt hatten ihn einfach vergessen. Theobald weinte vor Wut, Angst und Trauer. Beelzebub lachte triumphierend, als das Feuer bis über das Dach der Hütte hochschlug.
„Und dann sind der Kronprinz und diese Miriam verbrannt?“, wollte der Wanderer wissen und setzte seinen Bierkrug ab.
Der Bauer sah in fest an.
„Das wisst ihr doch selbst am besten… König Beelzebub!“
Der Wanderer stand abrupt auf und zog unter seinem Gewand ein Schwert aus der Scheide.
Der Bauer nahm den Knüppel von der Wand. Er wog ihn in der Hand, dann sagte er langsam: „Doch ihr kennt nicht das Ende der Geschichte, mein König! In eurem Siegesrausch seid ihr schnell zur Burg zurückgekehrt und habt den Tag eurer Krönung ausrufen lassen!“
Das Schwert in der Hand von Beelzebub zitterte.
In diesem Moment ging die Tür der Bauernstube auf, und herein trat Theobald. Aus der Küche kam die Bauersfrau und nahm das Tuch vom Kopf. Die schwarzen, lockigen Haare fielen auf ihre Schulter.
Theobald ergriff das Wort: „Als ihr abgezogen wart, Graf von Beelzebub, nahm ich meine Bierfässer, schlug sie auf, und das gute Bier ergoß sich den Hang hinunter. Es floss die wenigen Meter bis zur Hütte, es drang unter die Tür und befeuchtete die unteren Bohlen der Hüttenwände. Ferdinand und Miriam sahen die Flüssigkeit, warfen sich auf den Boden. Ich begann, den kleinen Bach umzuleiten. Und so brannte die Hütte nicht ganz ab. Dann nahm ich einen Stab, den Ferdinand außerhalb der Hütte vergessen hatte. Es war die Keule des Aufsehers. Ich brach damit die Lanzen. Brach durch die Fenster. Schlug Löcher in die Holzwände mit dem Knüppel. Miriam und Ferdinand brauchten nicht zu ersticken, hatten jetzt Luft zum Atmen.
Miriam fuhr fort: „Wir tränkten unsere Kleider in Bier und Wasser und sprangen durch die brennenden Holzwände ins Freie.“
„Deshalb ist mir dieser Knüppel so wichtig… Graf Beelzebub“, ergänzte Ferdinand. „Gebt auf, wir sind zu dritt. Und werden euch nicht lebend gehen lassen, wenn ihr euch nicht ergebt.“
Da senkte Beelzebub sein Schwert.
Quelle: Wolfgang Urach