Es war einmal vor langer Zeit, tief in einem verschneiten Wald, ein kleines Dorf, das den Namen Schneekron trug. Die Menschen in Schneekron waren fleißig und lebten in einfachen Holzhäusern, die mit Moos und Rinde gegen die Kälte geschützt waren. Doch so hart die Winter auch waren, die Dorfbewohner hielten stets zusammen und teilten alles, was sie hatten. Inmitten des Dorfes stand eine prächtige Tanne, die jedes Jahr zu Weihnachten mit Kerzen und handgeschnitztem Schmuck geschmückt wurde.
In diesem Dorf lebte ein kleiner Junge namens Elias. Elias war ein Waisenkind und lebte bei der alten Kräuterfrau Mathilda, die ihn liebevoll großzog. Obwohl Mathilda ihm alles gab, was sie konnte, wünschte sich Elias nichts sehnlicher, als seine Eltern noch einmal sehen zu können. Jedes Jahr stellte er sich in der Weihnachtsnacht unter die große Tanne und flüsterte seinen Wunsch in den nächtlichen Himmel.
Die Dorfbewohner erzählten sich Geschichten von einem geheimnisvollen Weihnachtsstern, der in der dunkelsten Nacht des Jahres vom Himmel herabstieg, um denen zu helfen, die reine Herzen hatten. Elias hatte die Geschichten immer für Märchen gehalten, bis er in diesem Jahr an Heiligabend etwas ganz Besonderes erlebte.
Als die Nacht hereinbrach und das Dorf still wurde, trat Elias wie gewohnt zur Tanne. Er hob den Kopf und schloss die Augen, bereit, seinen Wunsch zu sprechen. Doch bevor er ein Wort sagen konnte, fiel ein warmer, goldener Schein auf sein Gesicht. Verwundert öffnete er die Augen und sah einen leuchtenden Stern, der langsam vom Himmel hinabstieg. Der Stern war groß und strahlte heller als alle Kerzen des Dorfes zusammen. Er schwebte direkt vor Elias und sprach mit einer Stimme, die wie ein Lied klang: „Elias, Kind reinen Herzens, warum bist du so traurig an diesem heiligen Abend?“
Elias war vor Staunen wie erstarrt, doch schließlich fand er seine Stimme: „Oh, leuchtender Stern, ich wünsche mir nichts sehnlicher, als meine Eltern wiederzusehen.“
Der Stern schimmerte sanft und antwortete: „Dein Wunsch ist aus tiefem Herzen gesprochen, doch wahre Liebe zeigt sich nicht nur im Wiedersehen, sondern auch im Erinnern und in der Freude, die du anderen schenkst. Folge mir, und ich werde dir zeigen, wie du deine Eltern auf eine andere Weise nahe fühlen kannst.“
Der Stern führte Elias hinaus aus dem Dorf, tief in den Wald, wo die Bäume unter ihrer Schneelast ächzten und der Mond nur schwach durch die dichten Äste schimmerte. Doch der Stern leuchtete ihnen den Weg. Schließlich kamen sie zu einer Lichtung, auf der ein uralter Baum stand. Er war so groß, dass seine Wurzeln wie kleine Hügel aussahen und seine Äste den Himmel zu tragen schienen.
„Dies ist der Baum der Erinnerungen,“ sagte der Stern. „Berühre ihn, Elias, und denke an deine Eltern.“
Elias legte seine kleine Hand an die raue Rinde des Baumes und schloss die Augen. Plötzlich fühlte er eine Wärme, die ihn durchströmte. Vor seinem inneren Auge sah er seine Eltern, wie sie ihn liebevoll hielten, ihm Geschichten erzählten und mit ihm lachten. Es war, als wären sie ganz nah, obwohl sie doch so fern waren. Tränen liefen über seine Wangen, aber es waren keine Tränen des Kummers, sondern der Dankbarkeit.
„Nun, Elias,“ sagte der Stern, „trage diese Erinnerungen in deinem Herzen und teile sie mit anderen. In der Liebe, die du schenkst, leben deine Eltern weiter.“
Der Stern führte Elias zurück ins Dorf, wo die Glocken zur Mitternachtsmesse riefen. Elias spürte eine neue Wärme in seinem Herzen und verstand, dass er nicht allein war. Er erzählte den Dorfbewohnern von seiner Begegnung und teilte die Geschichten seiner Eltern mit ihnen. Alle lauschten mit glänzenden Augen, und die Freude, die Elias schenkte, kehrte in vielfacher Stärke zu ihm zurück.
Von diesem Weihnachtsabend an war Elias nicht mehr traurig. Er wurde ein junger Mann, der im Dorf für seine Güte und sein Lächeln bekannt war. Jedes Jahr an Heiligabend erstrahlte der Weihnachtsstern über Schneekron und erinnerte die Menschen daran, dass wahre Liebe und Erinnerung stärker sind als jede Dunkelheit.
Und so lebten Elias und die Bewohner von Schneekron glücklich und in Frieden, bis an das Ende ihrer Tage.
© 2024 Mario Eberlein