Vor vielen Jahren, als es noch Läden gab, die nur vom Verkauf von Süßigkeiten lebten, natürlich auch auf den Jahrmärkten präsent waren, da gab es auch einen Stand von Amalia, die hier eine selbst kreierte Spezialität anbot – die Polkagrisar -.
Diese Zuckerstangen mit ihrem feinen Pfefferminzgeschmack waren schon etwas Besonderes, was man so bislang in Schweden noch gar nicht kannte und natürlich dann auch bei Jung und Alt beliebt. Bei vielen Menschen kommen noch heute Erinnerungen aus den Tagen ihrer Kindheit hoch, wenn sie diese Stangen riechen, an ihnen schlecken, und es ist genau dieser Zauber, den Amalia auch hervorrufen wollte. So befand sich ihr Stand, wie auch schon beim Markt des Vorjahres, ziemlich zentral auf dem Jahrmarkt von Gränna, und nicht nur der betörende Pfefferminzduft zog um ihren Stand, nein, er vermischte sich auch mit dem Duft von frischen Mandeln, direkt von den Ständen aus ihrer unmittelbaren Nachbarschaft.
So geschah es an diesem Nachmittag auch, dass sich Yrsa mit ihrem Freund Jarl vor dem Stand von Amalia verabredeten. Yrsa war schon viele Jahre auf dem großen Hof des Bauern Sigbjörn Anderson als Magd beschäftigt und dieses Jahr gab es für ihren Freund Jarl eine ganz wichtige Mitteilung, die sie ihm unbedingt weitergeben musste: Sie erwartete ein Kind von ihm. Doch dann kam alles ganz anders, zumindest anders, als Yrsa es sich vorgestellt hatte. Zunächst kam Jarl anständig verspätet und betrunken zum vereinbarten Treffpunkt. Er kam auch nicht alleine, sondern war in der Begleitung einer anderen Frau, die er als Ulrika vorstellte. Yrsa merkte recht schnell, dass Jarl kein Interesse mehr an ihr hatte und sich auch nicht für sein zukünftiges Kind interessierte.
Vollkommen enttäuscht stand sie, alleingelassen bis zum Ende des Markttages, vor dem Stand von Amalia und blickte ins Nirgendwo. Das bekam natürlich auch Amalia mit und so schenkte sie Yrsa einen ihrer Polkagrisar, bevor sie ihr über das Haar strich: „Merke dir, Yrsa, es wird nie so schlimm wie es immer aussieht, am Ende wird alles immer gut. Wenn du meinst es geht nicht mehr weiter, dann denke einfach an die kleine Süßigkeit.“ Leider kam es genau so schlimm, wie Yrsa es sich nur irgendwie denken konnte. Als der Winter kam und der Bauer Sigbjörn mitbekam, dass eine seiner unverheirateten Mägde schwanger war, musste sie den Hof verlassen: „Es ist unter Christenmenschen nicht möglich, dass unverheiratete, schwangere Frauen unter uns sind und alle anderen Mägde verderben!“, meinte der Bauer nur. So stand Yrsa dann kurz vor Weihnachten einsam und verlassen an einer Wegkreuzung, von der einer der Wege tief in einen alten Wald führte. „Wohin soll ich gehen?“, überlegte Yrsa, „weder auf dem Hof noch im Dorf bin ich willkommen, jetzt da ich bald ein Kind bekomme.“ So lief Yrsa verzweifelt dann immer tiefer über den alten Waldweg in den tiefen Wald hinein. Mit den letzten Lichtstrahlen des Tages erreichte sie eine alte, verlassene Waldhütte, deren Tür nicht verschlossen war und schief in den Angeln hing. In der Hütte stand nur ein alter, zerbrechlicher Tisch, dem ein Bein fehlte und ein kleiner Ofen, der nur mehr schlecht als recht zum Heizen und Kochen verwendbar schien. Sie fand noch etwas Reisig und ein paar Holzscheite, die noch hinter der Hütte lagen. Hier gab es auch ein ziemlich verrostetes Beil, bei dem der Stiel fehlte. „Nunja, für eine Nacht sollte es reichen, um nicht zu erfrieren,“ dachte Yrsa. Natürlich war es für sie als schwedische Magd, kein Problem ein Feuer anzubekommen, und so prasselte keine Stunde später ein kleines Feuer im Herd.
Jetzt überlegte Yrsa wie es weitergehen sollte. Sie musste ja auch irgendwie zu essen und zu trinken haben, jetzt da sie im Winter keine Stelle mehr hatte, würde es bestimmt nicht einfach werden. Seufzend öffnete sie ihr Bündel und sah sich den Inhalt im flackernden Licht es kleinen, alten Ofens an, das sich gespenstisch auf den schiefen Wänden der alten Hütte widerspiegelte. Da fiel ihr der kleine stangenförmige Polkagrisar in die Hand, den ihr ja Amalia auf dem Herbstmarkt geschenkt hatte. Wie waren die Worte noch, die Amalia verwendete: „Merke dir Yrsa, es wird nie so schlimm wie es immer aussieht, am Ende wird alles immer gut. Wenn du meinst es geht nicht mehr weiter, dann denke einfach an die kleine Süßigkeit.“ So entrollte Yrsa das Fettpapier des Polkagrisar und im gleichen Moment strömte wieder Pfefferminzgeruch durch die kleine Waldhütte, der sie sofort an den Markt in Gränna erinnerten. Seufzend leckte sie an der kleinen Süßigkeit und im selben Moment verschwanden ihre trüben Gedanken. Bilder des vergangenen Sommers tauchten wieder vor ihr auf, sie erlebte die glückliche Zeit mit ihrem Freund Jarl noch einmal. Die Bilder waren so lange in ihrem Kopf, solange sie an ihrem Polkagrisar leckte, die ganze Hütte schien verwandelt zu sein. Doch irgendetwas war an diesem Polkagrisar ganz anders als sonst. Obwohl die Form von außen ganz normal war, so war gar nicht so viel an der Bonbonmasse vorhanden, wie es Yrsa erwartet hatte. Nach einer Weile merkte sie, dass der Polkagrisar gar keine normale Zuckerstange war, stattdessen hielt sie eine kleine Flöte in den Händen, die genau der rot-weißen Maserung dieser beliebten Pfefferminzstange entsprach. Vorsichtig blies sie in die kleine Flöte und wie bei einem Wunder begann die kleine Flöte eine eigene Melodie zu spielen, die sie nie zuvor gehört hatte. Danach geschah noch etwas, kaum war die Melodie verklungen, als eine unbekannte Stimme sie aufforderte: „Womit kann ich dienen, werte Dame?“ Nachdem sie zunächst mächtig erschrocken war, begann sie sich weiter in der kleinen Hütte umzusehen, aber es war niemand zu sehen. Nach einer Weile hörte sie erneut ein Räuspern und die Stimme fragte erneut: „Womit kann ich dienen, werte Dame, ich warte auf Anweisungen.“ „Kann ich mir wünschen was ich möchte?“, fragte Yrsa immer noch erschrocken. Die Antwort kam prompt: „Solange niemand der liebe Gott oder der Herr Teufel sein möchte, gewiss!“ Yrsa überlegte kurz: „Gut, dann wünsche ich mir satt zu essen, ein bequemes Bett und ein warmes Haus für die Nacht.“ So geschah es dann auch. Die merkwürdige Melodie war wieder in der Luft und kurze Zeit später stand im Raum ein warmes Bett, der alte Ofen war repariert und bollerte zufrieden vor sich hin. Es lag jetzt auch genügend Brennholz daneben. Der alte brüchige Tisch war repariert und wie eine festliche Tafel, wenn aber auch einfach, gedeckt. So konnte die immer noch ungläubige Magd einen schönen Schinken, Braten, frischen Hering mit frischem Brot und frischer Salzbutter genießen. Es stand auch ein kleines Fässchen mit Bier neben dem Tisch, ein kräftiger Branntwein aber auch ein edler Wein waren aufgedeckt.
Satt, aber vollkommen ungläubig ging Yrsa diese Nacht zu Bett. Als sie am nächsten Morgen von den Strahlen der späten Dezembersonne, die ja immer relativ tief stand, gekitzelt wurde, öffnete sie immer noch ungläubig die Augen und zwickte sich, da sie meinte, es wäre alles nur ein Zauber des Augenblicks. Aber dem war nicht so. Die kleine Hütte war bereits schön geheizt und eine frische Hafergrütze blubberte schon auf dem kleinen Herd. Immer wenn Yrsa jetzt einen Wunsch hatte, so griff sie zu ihrer neuen Flöte. So entstanden zunächst weitere Räume um die Waldhütte, ein bequemes Bad, ein schönes Kinderzimmer und ein großer Vorratsraum, der bald gut gefüllt war.
Eines Tages war die Waldhütte durch einen bequemen Palast ersetzt, in dem sich etliche Bedienstete tummelten. Nachdem Yrsa ihr Kind bekommen hatte, es war ein Sohn, begann sie nach und nach immer mehr Wohlstand aufzubauen und so kam es, dass sie sogar in der Lage war, alle Höfe und sogar ganze Dörfer aufzukaufen, dazu gehörte auch der Hof des Bauern Sigbjörn Anderson, dessen Familie sie aber alsbald dazu brachte, Haus und Hof zu verlassen. Da sie viel durch Bedienstete erledigen ließ und sie sich rar machte, kam keiner dahinter, wer Yrsa eigentlich war. Viele Jahre lief so alles gut, sie hatte jetzt fast alles, was sie so für ihr Leben gebrauchte und verwendete die Flöte immer seltener. Da begann die Flöte eines Abends von selbst an zu spielen und als sie in den Raum hineinlauschte, erklang die gewohnte Stimme: „Werte Dame, ich habe so lange gedient und ich habe auch einen Wunsch: Wenn meine Dienste nicht mehr gebraucht werden, dann soll die kleine Flöte heute Nacht auf dem Tisch liegen bleiben.“
So geschah es dann auch, entweder aus Vergesslichkeit oder aus Absicht, aber das ist heute nicht mehr so bekannt. Jedenfalls wurde Yrsa am nächsten Morgen wieder wach und der Palast war verschwunden. Sie lag auf dem kalten Lehmfußboden der kleinen Hütte. Bett und Tafel waren verschwunden, der alte schiefe Ofen stand wieder an seiner Stelle und an der Wand lehnte der alte, brüchige Tisch, dem ein Tischbein fehlte. Von von der Flöte war weit und breit nichts mehr zu sehen. Yrsa und auch ihr Sohn waren entsetzt, aber was sollten sie jetzt anfangen?
Nun liegen bei den Menschen Neid und Missgunst immer ganz nahe am Erfolg. Warum sollte es in Schweden anderes sein, als in allen anderen Ländern auch? Es verging so keine ganze Woche, bevor Yrsa der Hexerei angeklagt und auch verurteilt wurde. An dem Tag, an dem sie verbrannt werden sollte, wurde sie schon früh am Morgen auf dem Richtplatz angebunden, um sie herum war schon das Feuerholz aufgeschichtet, da hörte sie in der Ferne das Knarren eines alten Fuhrwerks und zu ihrem Erstaunen die Melodie, die sie aus von ihrer Flöte her kannte. Nach einer Weile kam tatsächlich ein wackeliger Karren am Richtplatz vorbei, auf dem Kutschbock saß ein uralter, hässlicher Kobold, dessen Gesicht nur noch aus Falten zu bestehen schien. Der Karren war mit alten, durchgelaufenen Schuhen und zerrissenen Kleidern beladen. Yrsa stellte sich tot und als der Kobold das sah, sprang er von seinem Karren ab und deutete auf die Ladung: „Diese Schuhe habe ich für deine Dienste durchgelaufen und diese Kleider für dich zerschlissen, das alles ohne Dank und Lohn!“ Hämisch hielt er Yrsa die kleine Flöte vor das Gesicht: „Doch damit ist jetzt für alle Zeiten Schluss!“
Als Yrsa das mitbekam, blinzelte sie nur kurz und nutzte die Gelegenheit, um schnell in die Flöte hineinzublasen. Im selben Augenblick wurden der Gnom und auch der beladene Karren wieder unsichtbar. Stöhnend hörte Yrsa die bekannte Stimme: „Womit kann ich dienen, werte Dame, ich warte auf ihre Anweisungen.“
Natürlich ließ Yrsa zunächst den alten Zustand wiederherstellen und dafür sorgen, dass ihre Verurteilung als Hexe wieder aufgehoben wurde, was mit viel Geld wohl auch in Schweden kein Problem darstellte. Da sie ja viele Jahre selbst als Magd gearbeitet hatte, wusste die durchaus, was der kleine Gnom da alles geleistet hatte. In der Zukunft sorgte sie also dafür, dass der Gnom, der jetzt immer unsichtbar blieb, auch immer seltener gebraucht wurde, regelmäßig neue Kleider, gutes Essen und auch ganze, freie Tage erhielt. Es schien jedenfalls so, dass auch der Gnom zufriedener als zuvor zu sein schien. So lebten Yrsa und später auch ihr Sohn noch viele Jahre in ihrem kleinen Palast im Wald. Allerdings war die Flöte eines Tages wieder verschwunden, ohne das Yrsa sie wieder dem Gnom anvertraut hatte und keiner weiß mehr bis heute, wo sie geblieben ist. Es wird immer wieder behauptet, dass Amalia die Flöte zurückerhalten hat und daraus wieder einen neuen Polkagrisar hergestellt hat. Mit viel Glück kann man so wieder an die Flöte gelangen, indem man den richtigen Polkagrisar erwirbt. Allerdings ist bis heute nicht bekannt, in welchem sie die Flöte eingearbeitet hat. Vielleicht ist es ja der zweite von rechts, ganz unten in der Schachtel ihres Verkaufsstandes?
Bemerkungen:
In diesem Märchen geht es um eine besondere Süßigkeit, aber bevor ich hier etwas dazu schreibe, muss ich zum Verständnis etwas weiter ausholen: Schweden war einst ein sehr armes Land und konnte die eigene Bevölkerung nicht ernähren, so dass jedes Jahr eine gewisse Zahl der Bewohner auswandern musste, um nicht zu verhungern. Erst mit dem Eisenerzfund in Nordschweden, kam ein gewisser Wohlstand auf. In diesen Zeiten bedeutete Wohlstand auch Zucker, obwohl das etwas merkwürdig klingt. Ja, jetzt konnte man es sich leisten auch Getreide einzuführen und auch stattdessen Zuckerrüben anzubauen oder gleich zu importieren. Der schwedische König erließ sogar ein Gesetz, dass ab einem bestimmten Tag, jedes in Schweden gebackene Brot süß zu sein hat. Das hat sich teilweise bis heute gehalten, und so findet man noch heute süßes Brot unter der Bezeichnung „Limpa“ in den Läden. In meinen Kindertagen gab es allerdings nur süßes Brot und gar kein anderes zu kaufen. Es gab normalerweise auch keine Süßigkeiten für Kinder, bis auf Samstage, an denen es dann die „Lördagsgodis“, etwas freier als „Samstagssüßigkeiten“ übersetzt, gab.
– Anm. des Übersetzers: In diesem Märchen geht es nun um Polkagrisen, eingedeutscht als „Polkagrisar“ übersetzt. –
Dabei handelt es sich um rot-weiß gestreifte Zuckerstangen, die als schwedische Spezialität gelten. Im weißen Teil wurde Pfeffermünzöl verarbeitet, so weit es sich um die klassische Version handelt. Man nimmt heute an, dass der Name vom Tanz Polka kommt, der damals zur Erfindungszeit der Zuckerstangen populär war. Gris ist eine altes Wort für Süßigkeit, auch für klein und niedlich. Erfinderin war Amalia Eriksson, eine 35-jährige Witwe aus Gränna (Småland). Sie erhielt im Jahr 1859 die Erlaubnis eine Zuckerbäckerei zu eröffnen und diese Stangen herzustellen. Die Herkunft des Rezeptes ist bis heute unbekannt.
Das Märchen ist an das Thema des alten schwedischen Volksmärchens „Lasse mein Knecht“ angelehnt, wobei es die Handlungen aus „Lasse mein Knecht“ stark verkürzt wiedergibt..
von: Larissa Tjärnväg
aus: Kalle-Nisses Träume und Erzählungen – September – / Copyright 2016-2025 – WeyTeCon Förlag – Årjäng