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Der Wolf kehrt heim in sein Waldhaus und wird ein Büßer

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Voll Gram und Mißmut eilte der Wolf dem Walde zu. Er verfluchte das Schicksal, das ihn ganz nur dem Unglück geweiht habe.
»Kampf und Not
Sind dein täglich Brot!«
seufzte er, »steter Hunger und keine Sättigung, keine Ehre und keine Freude! Meine Voreltern hatten es besser als ich, sie hatten die fettesten Bissen vollauf, aber jetzt, ach, sind die Füllen rar!« Also haderte er lange mit Ungestüm gegen die Vorsehung. Zuletzt aber kam er auf wahrhaft reumütige Gedanken. »Wenn du’s recht überlegst«, sprach er bei sich selbst, »so bist eigentlich doch nur du an allem deinem Unglück schuld: du wolltest Schauspieler sein und den Fuchs nachmachen, du wolltest Torbesvater (Feldhüteraufseher), Teilherr, Schulmeister, Pfarrer und Kantor sein, und weder hat dein Vater, noch Großvater, noch Urgroßvater von jenen Künsten etwas verstanden: Du stolzer Einfalt wolltest klüger sein als sie und die Verstellerei, Leserei, Feldteilerei, Tauferei und Singerei gar aus dem Grunde verstehen. Ja, du bist wert, daß unser Herrgott seine feurigen Pfeile auf dich herabschleudert!« Indem war er in den Wald gekommen, und ein Zigeuner, der ihn gesehen, hatte sich aus Furcht schnell auf einen Baum geflüchtet. Eben lief er unter dem Baum dahin, als er die feurigen Pfeile unseres Herrgotts auf sich herabwünschte; da ließ der Zigeuner in der höchsten Angst gerade seine Axt herabfallen, die traf den Wolf. »O Gott«, seufzte er, »du erhörst doch gar zu schnell; ich hatte es ja nicht so gemeint!« Er war aber so zerknirscht, daß er sich vornahm, sein bisheriges Leben ganz zu ändern; zudem überfiel ihn auch die Mutterkrankheit (das Heimweh), und so nahm er sich vor, heimzukehren, obgleich ihm sein Zagel noch nicht wieder gewachsen war. Er wollte seinem Weibe daheim alle Liebe und Treue erweisen und seine Kinder ordentlich erziehen und ihnen an sich ein warnendes Beispiel vorhalten. Auch wollte er allen Fleischspeisen entsagen und hinfort bloß mit unschuldigen Waldbeeren und Eicheln das Leben fristen; nur Wurzeln sollten nicht mehr über seine Lippen kommen. Ferner wollte er sich täglich dreimal geißeln und auf alle Weise fromm tun. So hoffte er für seine Sünden damit genug zu büßen und einst selig zu sterben. Weiter ist nichts bekannt vom Wolf als so viel, daß ihm der Zagel wieder gewachsen. Aber auch seine stolze Wolfsnatur muß damit zurückgekehrt und die Erziehung seiner Kinder muß ganz mißraten sein, denn alle Sprossen seines Geschlechts sind bis auf den heutigen Tag Diebe, Mörder und Waldräuber.

[Josef Haltrich: Deutsche Volksmärchen aus dem Sachsenlande in Siebenbürgen]

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