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Die Mär von den fünf Fingern

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Der Picki (Zeigefinger), der Licki (Mittelfinger), der Tschicki (Goldfinger) und der kleine Micki (kleine Finger) gingen einmal ins Feld und ließen ihren Bruder Tocki (den Daumen) zu Hause. Dieser sagte ihnen umsonst, sie sollten ohne ihn nicht ausgehen, sie würden in Gefahr kommen. Sie gingen aber doch. Der Picki sprach: „Ich will den Weg weisen“ . Der Licki, als der größte: „Ich will vorstehen und befehlen“. Der Tschiki: „Ich will die Schätze nachtragen“. Der kleine Micki: „Ich will mit klugem Rat helfen!“ So gingen sie: der Picki voran, dann kam der Licki, dann folgte mit Ringlein beladen der Tschicki, und den Schluss machte der kleine Micki. Sie gelangten nach gar nicht langer Zeit an ein Wasser, aber da war die Brücke weggerissen. Nun standen sie eine gute Weile und warteten, das Wasser solle abfließen, allein das floss immer fort und sah nicht darnach aus, als wolle es aufhören.
Da sprach der kleine Micki zum Licki: „Du Großhans mit den langen Beinen, gehe du am Ufer auf und ab und sieh, ob du nicht den Weg und Steg über den Fluss findest. Indes wollen wir andern einen Kahn bauen!“ Da gingen die drei Kleinen und suchten Holz zu einem Kahn. Glücklicherweise fanden sie eine große welsche Nuss. „Wenn wir die nur aufmachen könnten!“ sprach der kleine Micki, „so hätten wir den Kahn gleich fertig!“ Da mussten der Picki und Tschicki die Nuss an beiden Flügeln anpacken, und siehe, wie sie einmal alle ihre ganze Kraft anstrengten und rissen, ging die Nuss auseinander. Sie nahmen gleich eine Schale, höhlten sie gut aus und trugen sie zum Fluss. Indem kam auch der Licki und sprach: „Kein Weg und Steg ist zu finden!“ – „Es ist jetzt auch nicht mehr nötig!“ sprach der kleine Micki. Sie setzten sich alle in die Nussschale. Der Kleine lenkte, die andern ruderten, und so kamen sie glücklich ans andere Ufer. Sie stiegen aus und wanderten weiter fort und kamen nur einmal an einen großen Garten. Sie traten gleich hinein und sahen da ein großes Schaff voll Honig. Der Picki langte ins Schaff und kostete, und weil es so süß schmeckte, so langte er immer wieder hinein und leckte fort. Die andern wurden endlich sehr unwillig und wollten weitergehen. Allein der Picki wollte nicht kommen und den Weg weisen. Der Licki befahl umsonst. Der Tschicki fürchtete sich vor Räubern, und der kleine Micki sprach: „Der Picki tut seine Schuldigkeit schlecht, es wird uns übel ergehen!“ Da kam, ehe sie sich’s versahen, der große garstige Bär, der brummte erschrecklich: „Ha, ihr Diebsgesichter, jetzt habe ich euch! Wartet, ich will euch Honig geben! Gleich fresse ich euch alle!“
Da waren die Kleinen so erschrocken, dass sie nicht „eins“ sagen konnten. Endlich kam ihnen die Sprache wieder. Sie fielen vor dem Bären nieder und baten um Gnade. Sie hätten ja nicht gewusst, dass dieser Honiggarten ihm gehöre! Aber das war alles umsonst. Der Bär wollte schon dran, eins nach dem andern zu verschlucken. Indem kam dem kleinen Micki ein kluger Einfall: „Lieber Bär!“ sprach er, „wir sind fünf Brüder. Unser ältester Bruder, Tocki, ist zu Hause, wenn wir denn einmal sterben sollen, so wartet, dass ich ihn auch hierher rufe, dass wir alle miteinander sterben!“ Das gefiel dem lüsternen Bären, und er hatte nichts dawider, dass er einen guten Bissen mehr bekommen sollte. Also lief der kleine Stubedinzi nach Hause und rief den Tocki zu Hilfe. Dieser war anfangs sehr zornig und sprach: „Warum seid ihr ausgegangen, habe ich es euch nicht gesagt? Jetzt könnt ihr zappeln!“ Aber der Kleine bat so sehr, dass er sich endlich erbarmte, eine große Keule nahm und mitging. Als er mit dem Kleinen im Honiggarten ankam, fielen alle über den Bären her, und der dicke Tocki schlug ihn mit seiner Keule tot. Dann gingen alle nach Hause und waren froh.
Von da an zogen die vier andern Finger nie ohne den starken Tocki aus, und es ist ihnen auch weiter kein Unglück zugestoßen. Der Licki aber blieb immer in der Mitte, und deshalb heißt man ihn auch Mittelfinger. Der dicke Tocki und der kleine Micki gehen als Wächter an beiden Enden. Jener, weil er durch seine Kraft, dieser, weil er durch seine Pfiffigkeit die andern beschützt. Der Kleine wird noch immer zu Rate gezogen, wenn man etwas Gescheites anstellen will, und deshalb spricht man noch heute, wenn jemand einen klugen Einfall hat: „Das hat ihm sein kleiner Finger gesagt!“

Quelle: (Josef Haltrich)

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