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Der Held

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Im Lande Oberbürokratien lebte einst ein junger Hilfsbeamter namens Siegfried. Jeden Morgen stand er mit dem ersten Hahnenschrei auf, sattelte seinen Amtsschimmel und trabte fröhlich pfeifend im feinsten Beamtengewand zur Arbeit. Obwohl Siegfried in der Schreibstube des königlichen Paragraphenamtes bereits die seltsamsten und aufregendsten Abenteuer erlebte, fühlte er in sich doch die tiefe Gewissheit, dass die größte Herausforderung seines Lebens noch auf ihn wartete.

Eines Tages herrschte große Unruhe im Reich, denn ein feuerspeiender Drache war in das Schloss eingedrungen und hatte Prinzessin Tausendschön entführt, ohne vorher die Erlaubnis der königlichen Raubbewilligungsbehörde beantragt zu haben. Da rief der König alle tapferen Bürokraten auf, seine Lieblingstochter unter strenger Beachtung der Saurierschutzvorschriften aus den Klauen des Drachen zu befreien und versprach demjenigen einen goldenen Orden sowie eine lebenslängliche Anstellung als oberster Schlossbeamter, der die Prinzessin heil zurückbringen würde.

Dies war genau die Herausforderung, auf die Siegfried so lange gewartet hatte. Er las eifrig in dicken, staubigen Gesetzbüchern und studierte alle Ausführungsbestimmungen, die es zum Thema „Prinzessinnenraub durch nichtmenschliche Personen“ gab. Nach einiger Zeit hatte er endlich den Einfall seines Lebens. Er nahm eine besonders spitze Schreibfeder und beschrieb schwungvoll drei Seiten Papier, ohne einen einzigen Tintenklecks zu hinterlassen. Dann ging er zu seinem Vorgesetzten und bat untertänig darum, man möge ihm drei Tage Sonderurlaub wegen versuchter Prinzessinnenbefreiung gewähren. Als dies geschehen war, sattelte er sein Pferd, packte die drei beschriebenen Seiten in seine Brusttasche und ritt zur Drachenhöhle.

Als er sie auf dem gut ausgeschilderten Pfad endlich erreichte, konnte er vor dem Eingang schon die traurigen Überreste jener Beamten sehen, die von dem Drachen getötet worden waren. Siegfried aber stieg unbeirrt von seinem Pferd und betrat mutig die Drachenhöhle. Ein furchtbarer Gestank aus Schwefel und Fäulnis hüllte ihn ein. Siegfried hustete drei Mal, dann rief er mit krächzender Stimme: „Herr Drache, sind Sie zu Hause? Ich muss Ihnen eine Verfügung zustellen!“

Ein grauenhaftes Schnaufen war zu hören, dann folgten schwere Schritte. Schließlich streckte der Drache seinen schuppigen Schädel hinter einem Felsen hervor und brummte: „Was ist denn jetzt schon wieder los?“
Siegfried erschauderte, doch zog er tapfer das beschriebene Papier aus der Brusttasche und las vor: „Wie mir bekannt geworden ist, stoßen Sie in unregelmäßigen Abständen schwefelhaltige Rauchwolken aus. Nach § 17 der königlichen Feuerverordnung ist es aber für das Betreiben einer Feuerstelle zwingend erforderlich, die hierbei entstehenden Abgase durch einen Abzug ins Freie zu leiten.“
Der Drache warf ihm einen verwirrten Blick zu.
„Was soll ich …?“
„Wenn Sie übel riechenden Rauch in die Umwelt abgeben wollen, brauchen Sie dafür leider einen Schornstein“, erklärte Siegfried mit zitternder Stimme.
Der Drache dachte einige Zeit über die Worte Siegfrieds nach, dann funkelten seine Augen wütend, weißer Schaum trat aus seinem Maul und er schrie: „Willst du Winzling mir damit etwa sagen, ich soll mir einen Schornstein auf die Nüstern binden?“
„Ähm, völlig richtig. Und um Ihr Maul müsste auch noch …“
„Und was willst du machen, wenn ich das nicht tue?“, zischte der Drache giftig und schritt drohend auf Siegfried zu.
„Dann …, dann müsste ich Ihre Feuerstelle stilllegen“, stotterte Siegfried, hielt die beschriebenen Seiten schützend vor sein Gesicht – und fiel mit leisem Ächzen zu Boden.
„Den Quatsch muss ich mir mal selber angucken“, schnaubte der Drache und riss dem Ohnmächtigen die Papiere aus der Hand. Als er sie gelesen hatte, schüttelte er verächtlich den Kopf.
„Weißt du, was ich mit deiner Verfügung mache? Ich fresse sie auf – und danach fresse ich dich auf!“
Er knüllte Siegfrieds Papiere zusammen und steckte sie in sein Maul. Genüsslich schluckte er sie herunter, dann leckte er sich mit der Zunge über sein Maul. Im selben Moment aber verspürte er einen stechenden Schmerz in seinem Rachen. Mit heraustretenden Augen und immer verzweifelter werdend versuchte er, die Seiten wieder hervorzuwürgen, doch das wollte ihm einfach nicht gelingen. Die Büroklammer, die alle drei Blätter zusammenhielt, hatte sich in seinem Schlund geöffnet und war zusammen mit dem Papierknäuel stecken geblieben. Je mehr der Drache nun versuchte, alles wieder hervorzuwürgen, desto tiefer drang das spitze, abstehende Ende der Büroklammer wie ein Widerhaken in sein Fleisch. Der Drache lief blau an, stieß eine letzte Rauchwolke aus und erstickte jämmerlich.

Als Siegfried erwachte, blickte er in das überglückliche Gesicht von Prinzessin Tausendschön.
„Du bist mein Held und Retter“, jauchzte sie und bedeckte seine Wangen mit zahllosen Küssen.
„Ich?“, fragte Siegfried verblüfft.
„Aber natürlich“, antwortete Prinzessin Tausendschön, „der Drache liegt tot auf dem Boden und du bist der Einzige, der außer mir noch in der Höhle ist. Also musst du doch mein Retter sein!“
Da strahlte Siegfried und verbeugte sich tief vor der Prinzessin.
„Wenn Ihr es erlaubt, werde ich Euch zu Eurem Vater zurückbringen“, sagte Siegfried galant. Gemeinsam verließen sie die Drachenhöhle, bestiegen seinen Amtsschimmel und ritten vergnügt und leichten Herzens zum Schloss zurück.

Der alte König empfing sie überglücklich und überreichte Siegfried nicht nur den großen Orden, sondern ernannte ihn auch wie versprochen zum königlichen Oberbeamten auf Lebenszeit. Siegfried und Prinzessin Tausendschön fanden Gefallen aneinander und da der König keine Einwände hatte, unterschrieben beide bald einen Ehevertrag.
Siegfried jedoch arbeitete weiter in seinem geliebten Paragraphenamt. Und wenn es seine Zeit zulässt, so erzählt er noch heute allen jungen Beamtenanwärtern, wie er einst mit einer dreiseitigen Verfügung den furchtbaren Drachen besiegte.

Quelle: Josef Herzog

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