Nina, die kleine Prinzessin, besaß alles, was sich ein Kinderherz wünschte. Eine Familie, die sie liebte, eine Menge Spielsachen und ein sorgloses Leben. Und trotzdem war sie unzufrieden und traurig, weil sie noch niemals in ihrem neunjährigen Leben geträumt hatte.
Dass es Träume gab, wusste Nina, denn oft genug hatte sie zugehört, wenn sich die Menschen im Schloss gegenseitig davon erzählten. Aber warum träumte sie nicht? Vielleicht sollte sie doch einmal ihren Lehrer, der sie und ihre Brüder hier im Schloss unterrichtete, fragen? Er wusste doch so viel.
Eines Morgens im Klassenzimmer fasste sich die Prinzessin ein Herz und fragte den Lehrer, ob man nicht auch lernen könnte zu träumen. Ihre Brüder lachten sie aus und Herr Wieland meinte: „Nein, lernen kann man das nicht. Ein Traum kommt, wenn du tief schläfst, Nina. Meist in der Nacht. Dann siehst du viele Dinge, vielleicht deine Eltern oder etwas, das du dir schon so lange wünschst.“
„Ich sehe da überhaupt nichts“, erwiderte die Prinzessin und schüttelte enttäuscht und mit Tränen in den Augen ihren blonden Lockenkopf.
„Da kann ich dir leider nicht helfen“, entgegnet der Lehrer und fuhr mit dem Unterricht fort.
Ein paar Tage später ging die kleine Prinzessin wieder einmal in den Schlossgarten. Wie eine Schlafwandlerin stolperte sie den Parkweg entlang und ihre heiß geliebte Schaukel blieb unbenutzt.
Nina war so in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie weit sie in den Teil des Schlossgartens lief, in dem sie noch niemals war.
„Du kommst mich besuchen, kleine Prinzessin?“, hörte sie plötzlich eine krächzende Stimme und sie erschrak.
„Hier bin ich, gleich neben dem Ginsterstrauch.“
Die Prinzessin wagte einen Blick und wich ein paar Schritte zurück, aber sie lief nicht davon.
Ein so kleines, hässliches Männchen hatte Nina noch niemals in ihrem Leben gesehen. Seine Augen schauten sie durch kleine Schlitze an, und die dicke Knollennase war blutrot. Als es lachte, sah sie, dass es nicht mehr alle Zähne in seinem großen Mund hatte. Sein weißer Bart berührte fast den Erdboden.
„Ich bin Manniok, der Zwerg. Hast du noch nie etwas von mir gehört?“ Die Stimme des Männleins klang leicht beleidigt.
„Nein, wer sollte mir denn von dir erzählt haben?“,
fragte Nina und trat etwas näher auf Manniok zu. Er war zwar ein hässlicher Wicht, doch sie verspürte keine Angst.
„Nun, deine Familie vielleicht, oder die Diener? Aber ist auch egal, jetzt hast du mich ja kennen gelernt.“ Wieder zeigte er seine wenigen Zähne, als er lachte.
„Du bist jedenfalls nicht vor meinem Anblick davongelaufen, wie all die anderen Menschen, denen ich begegnete. Deshalb musste ich mir auch oft eine andere Bleibe suchen.“
„Und du wohnst hier?“, wollte die Prinzessin wissen.
„Ja, dort in dem großen, dicken Baum. Er ist hohl und dient mir als Wohnung. Ich würde dich gerne zu einer Löwenzahnmilch einladen, doch du bist für mein Haus etwas zu groß.“ Er lachte wieder, als er das sagte und Nina stimmte mit ein. Es war das erste Mal seit langer Zeit, dass sie so fröhlich war. Doch schon bald kehrte die Traurigkeit zurück.
Manniok berührte sie leicht am Arm.
„Was bedrückt dich, kleine Prinzessin?“, wollte er wissen.
Sie schüttelte den Kopf.
„Du kannst mir auch nicht helfen. Keiner kann das, ich bin so traurig, weil ich keine Träume habe.“ Wieder wollten diese verflixten Tränen kommen, doch sie unterdrückte sie tapfer.
„Keine Träume? Was ist daran so schlimm, dass du keine hast?“, fragte er ungläubig.
„Alles. Jeder träumt und erzählt dann davon. Ich möchte das auch können.“
„Und wenn du schlimme Dinge träumen würdest? Das kann nämlich auch geschehen und dann bist du am nächsten Tag traurig darüber, man nennt das Albträume.“
„Mami hat die auch manchmal, das habe ich schon gehört, wenn sie zu Papi sagt: ’Was habe ich wieder schlecht geträumt.‘ Aber sie ist deswegen nicht traurig oder böse, sondern genauso lieb wie sonst auch.“
„Naja, mag sein. Also, wenn du so gerne träumen möchtest, dann will ich dir helfen“, sagte das Männlein.
„Oh ja, lieber Manniok, bitte, hilf mir.“ Ein kleiner Hoffnungsschimmer flammte in Ninas Herzen auf. Sollte dieser Zwerg ihr wirklich dazu verhelfen, endlich Träume zu haben? Sie wagte kaum, daran zu denken.
„Komm in drei Tagen wieder zu mir, aber in der Nacht, dann ist es Neumond, das heißt, kein Mond am Himmel zu sehen.“
Natürlich hatte die kleine Prinzessin nicht gewusst, was Neumond bedeutete, aber war das nicht egal? Hauptsache, ihr wurde geholfen. Und irgendwie würde sie schon einen Weg finden, um sich heimlich des Nachts aus dem Schloss zu schleichen. Sie hatte ja zum Glück eine Taschenlampe.
Die kleine Nina wartete nun geduldig ab, bis die drei Tage vorüber waren und dann schlich sie sich durch die Schlossküche nach draußen. Tapfer unterdrückte sie die aufkommende Angst vor der Dunkelheit. Mithilfe der Taschenlampe fand sie nach einigem Suchen endlich die Stelle, an der sie den Zwerg getroffen hatte.
„Hallo?“, rief sie. Er würde sie doch nicht vergessen haben? Panik überfiel sie.
„Ich bin da, Prinzessin“, hörte sie Mannioks krächzende Stimme. Sie sah zu ihm hin und bemerkte eine Laterne in seiner Hand.
„Also, was soll ich tun?“, fragte die kleine Prinzessin.
„Es gibt nur eine einzige Aufgabe, die du zu erfüllen hast, Nina. Bist du bereit dazu?“
„Ja, nun mach doch schon“, sagte sie ungeduldig.
Es entstand eine kleine Pause. Dann stellte der Zwerg die Laterne neben sich auf den Boden und sagte:
„Du musst mich jetzt küssen, auf beide Wangen und auf die Nase.“ Wieder entstand eine Pause.
„Küssen, warum? Das tun doch nur Mamas und Papas.“ Nina war ein wenig enttäuscht.
„Die küssen anders, also, willst du nun deine Träume oder nicht?“
„Also gut, ich küsse deine Wangen und deine dicke Nase, wenn es sein muss“, erwiderte Nina.
„Mehr will ich auch nicht – und nun los!“
Nina beugte sich zu dem Zwerg hinunter, gab ihm einen Kuss auf beide Wangen und zuletzt auf die dicke Nase und erhob sich sofort wieder. Ihr Herz klopfte wie wild.
Plötzlich stieg an der Stelle, wo Manniok eben noch gestanden hatte, Rauch aus der Erde und als dieser verflogen war, war auch der Zwerg verschwunden.
Nina fror nun leicht in ihren dünnen Sommerkleidern.
„Wo bist du, Manniok?“, rief sie.
„Hier bin ich.“ Die Stimme war plötzlich nicht mehr krächzend, sondern leise und melodisch.
„Du kannst mich jetzt nicht mehr sehen, erst, wenn du eingeschlafen bist. Ich bin ein Traum, den du aus seiner Verzauberung erlöst hast. Vor vielen Jahren hat mich eine alte Hexe in einen hässlichen Zwerg verwandelt, weil sie immerzu schlechte Träume hatte. Ich sollte erst wieder erlöst werden, wenn mich ein Menschenkind auch in meiner hässlichen Gestalt mag. Die Hexe hat wohl nie geglaubt, dass dies jemals geschehen würde.“
„Und jetzt werde ich auch träumen können, so wie all die anderen?“, fragte Nina.
„Ja. Geh nur, kleine Prinzessin, lass dich einfach überraschen, denn das ist ja das Schöne an der Träumerei. Und gib am Tag gut auf dich Acht, in der Nacht werde ich bei dir sein und dich mit den schönsten Träumen beschenken.“
Und die kleine Prinzessin war fortan ein fröhliches Mädchen.
Quelle: Brigitte