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Märchenbasar

Ach, wenn es mich doch gruselte

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Es war einmal ein Schafhirte, der lebte mit seiner Frau und seinen fünf Kindern am Rande des Dorfes.
Die Jungen waren groß und kräftig und halfen ihm fleißig bei seiner harten Arbeit. Die Frau besorgte das Haus, und so lebten sie alle recht zufrieden miteinander in ihrer Schäferkate.
Des Abends gingen die Söhne und der Vater abwechselnd zur Herde, um Nachtwache zu halten, damit weder Wolf noch Bär sich über die Schafe hermachten; die anderen saßen dann zu Hause um das knisternde Kaminfeuer herum, und manch gräuliches Erlebnis mit Geistern und Untieren aus vergangener Zeit wurde erzählt.

Die vier älteren Brüder fürchteten sich nach solchen Geschichten sehr und mochten in der nächsten Nacht kaum noch auf Wache gehen. Der Jüngste jedoch schaute sie dann an und seufzte laut: „Ach, wenn es mich doch auch einmal gruselte!“
„Warte“, dachten die vier älteren eines Abends nach einem solchen Seufzer, „wir werden dir das Gruseln schon beibringen.“

In der folgenden Nacht saß der jüngste Bruder bei der Herde. Er hatte sich Proviant mitgenommen, ein kleines Feuerchen gemacht und wollte gerade einen Becher von Mutters gutem Holunderwein trinken, als er hinter sich ein furchterregendes Geifern hörte.
Er sprang auf und stand einem riesigen Wolf mit feuerroten Augen gegenüber.
Beherzt langte er nach seinem Hirtenstab und drosch auf die Bestie ein, dass dieser Hören und Sehen verging.
„Gnade, lieber Bruder“, tönte plötzlich vielstimmiges Geschrei unter dem grauen Wolfspelz hervor, „wir sind es, deine Brüder, wir wollten doch nur, dass es dich gruselt!“
Noch Tage danach sah man die blauen Stellen, wo sein Stecken sie getroffen hatte.

Einige Zeit später trat der Jüngste am Morgen vor seine Eltern und sagte: „Verzeiht, aber ich kann nicht länger bei Euch bleiben. Ich muss in die Welt hinausziehen, denn ich will das Gruseln lernen.“

Weil Vater und Mutter einsahen, dass sie ihn von seinem Vorhaben nicht abbringen konnten, gaben sie ihm alle guten Wünsche mit auf den Weg.
Der Jüngling nahm das alte Wolfsfell vom Haken, mit dem seine Brüder ihren Schabernack mit ihm getrieben hatten, hängte es sich um und dachte: „Es wird mich gegen die Kälte der Nacht schützen und sicherlich noch manch anderen guten Dienst leisten.“ An der Seite trug er seine Hirtentasche mit etwas Proviant und dem Notwendigsten für seine Reise.
Seinen Hirtenstab als Wanderstecken in der Hand, verabschiedete er sich von Brüdern und Eltern und machte sich fröhlich pfeifend auf den Weg in die nächste Stadt.

Am Abend geriet er in einen großen Wald, und es schien, als führte aus ihm kein Weg hinaus.
Also beschloss er, die Nacht in einer Baumkrone zu verbringen, damit ihn nicht irgendwelches Getier in seiner Nachtruhe störte.
Er fand auch bald eine alte Eiche und machte es sich in ihrer starken, mächtigen Krone gemütlich. In das wärmende Tierfell gewickelt schlief der Jüngling zufrieden ein.

Irgendwann in der Nacht wurde er durch laute, grölende Stimmen geweckt.
Eine Bande von Räubern hatte es sich am Fuße der Eiche bequem gemacht, ließ den Wein großzügig kreisen und verteilte die Beute ihres letzten Raubzugs unter sich.
Vorsichtig spähte der Bursche durch das dichte Laubwerk nach unten und sah im Schein des Lagerfeuers die Beutestücke; neben Gold- und Silbertalern lag zwischen den Räubern eine abgeschlagene Hand, an deren Mittelfinger ein Ring mit großem Edelstein steckte.
Jedem anderen hätte es jetzt wohl gegruselt, nicht aber dem Hirtenjungen.

Mit lautem Schrei stürzte er sich aus dem Baum – mitten zwischen die Räuber.
Diese meinten, ein riesiger Wolf wolle sie fressen und waren so erschrocken, dass sie Hals über Kopf davonstürzten und ihre Beute dem Angreifer überließen.

Der Bursche sammelte die Gold- und Silbertaler in seine Provianttasche, zog den Ring von der Hand und verbarg diesen in der Tasche seines Hirtenhemdes.
Die Hand selbst begrub er mit gebührender Andacht.
Den Rest der Nacht störte nichts mehr seine Ruhe, und mit dem ersten Morgenlicht fand er aus dem Wald hinaus.

Als die Sonne am höchsten stand, gelangte er in eine große Stadt, in der reges Treiben herrschte. Hier fragte er jeden, ob es einen gäbe, der ihm das Gruseln beibringen könne. Endlich schickte ihn einer der Stadtbewohner zum Pfarrer, und der lud ihn gleich zum Vesperessen in sein Pfarrhaus ein.

Als der Mann Gottes nun, beim guten Schmaus sitzend, vom Anliegen des Burschen hörte, sprach er: „Du bist hier genau richtig, mein Sohn, zum Gruseln kann ich dir wohl verhelfen. Du musst nur eine Nacht in der Kirche zubringen, noch keiner, der es versucht hat, ist wieder lebend herausgekommen. Seit Jahr und Tag halten wir dort keine Gottesdienste mehr ab, denn der Teufel hält sie besetzt. Wenn du es also wagen willst, wohlan, hier ist der Schlüssel!“

Der Bursche bedankte sich bei dem geistlichen Herrn und ging zur Kirche hinüber.
Knarrend öffnete sich das schwere Portal des Gotteshauses, und er musste sich durch einen dichten Vorhang von Spinnweben kämpfen, ehe er endlich im hohen Innenraum stand.
Auf den Kirchenbänken lag eine dicke Staubschicht, die Statuen der Heiligen waren vom Sockel gestoßen, und selbst den schweren Altarstein hatte jemand umgestürzt.
„Wohldenn, die behaglichste Bleibe ist es nicht“, dachte der Junge bei sich, „aber ich werde mir schon Bequemlichkeit verschaffen.“

In der linken Ecke des Altarraums entzündete er ein Feuerchen, holte Pfanne und eine Speckseite aus seiner Hirtentasche, und bald brutzelte ein leckeres Abendessen vor sich hin.
Er zog gerade die Weinflasche aus seiner Tasche, als er eine Stimme hörte, die höhnisch rief: „Diese Ecke ist mein!“ Er drehte sich um und sah, wie ein viertel Mensch in seine Pfanne fiel. „He, du, was soll das!“, antwortete der Bursche ärgerlich, „du kannst ja deine Ecke haben, aber fall nicht in meine Pfanne!“
Er nahm die Pfanne, öffnete ein Fenster und kippte den Inhalt in den Graben, der darunter lag. Dann begab er sich in die rechte Ecke des Altarraums und zündete da ein Feuer an. Aber kaum zog der verlockende Speckgeruch durch den Kirchenraum, da landete mit Gepolter noch ein viertel Mensch in seinem Essen. Wieder warf der Bursche den Inhalt in den Kirchgraben.

Nun ging er in den hinteren Teil des Kirchenschiffs und machte da sein Feuer an. Und wieder passierte das gleiche Spiel.
Nachdem auch in der vierten Ecke das letzte Viertel Mensch in seinem Kochgeschirr gefallen war, wurde er so wütend, dass er gleich die Bratpfanne mit nach draußen warf.
„Der Teufel selbst gönnt mir wohl mein Abendessen nicht!“, rief er wütend, als eine grässlich hohle Stimme von draußen antwortete.

„Du hast Recht, Bursche, denn ich bin der Teufel, und du hast meine Teile einfach aus dem Fenster geworfen. Doch jetzt werde ich dir das Gruseln beibringen, denn dein Leben ist verwirkt.“
Der Junge schlug das Fenster zu und drehte sich um.
Da stand ihm eine hohlwangige, schwarze Gestalt mit roten Augen gegenüber, die statt des rechten Beins einen Pferdefuß hatte. In der Hand hielt sie einen Totenschädel.

„Sieh her, du übermütiger Jüngling, du wirst jetzt mit mir um dein Leben kegeln – und um dein Seelenheil. Die neun brennenden Kerzen am Ende des Ganges sollen unsere Kegel sein. Meine Würfe löschen sie aus, deine zünden sie immer wieder an. Die Turmuhr schlägt gerade Mitternacht. Wenn Schlag eins auch nur eine Kerze brennt, werde ich weichen, und du bist gerettet. Sind jedoch alle Kerzen gelöscht, gehörst du mir mit Leib und Seele.“

„Warte, du Stelzenfuß, dir werde ich es zeigen“, erwiderte der Junge mutig, ,,eine Höllengestalt bekommt meine Seele nicht.“

Das Spiel um Leben und Tod begann, und der Totenkopf diente den beiden als Kugel.
Mal traf der Teufel sieben Kerzen, mal sechs, dann wieder vier. Der Bursche kämpfte verbissen mit seinem Widersacher und hielt tapfer dagegen. Es ging auf ein Uhr zu, ihm schwanden die Kräfte und er hatte schon dreimal an den Kerzen vorbei geworfen.
Nur ein Licht brannte noch, und der Teufel war an der Reihe.
Mit höhnischem Gelächter holte der Hinkefuß aus – da fiel dem Jüngling der goldene, funkelnde Ring mit dem großen Edelstein aus der Tasche und kollerte ihm vor die Füße.
Vor lauter Gier ließ der Höllenfürst den Schädel fallen und bückte sich nach dem Kleinod.
Schnell hob der Hirtenjunge den Totenkopf wieder auf und warf ihn mit aller verbliebenen Kraft nach den Kerzen.
Alle neun brannten plötzlich wieder!

Da schlug die Turmuhr eins, und der Teufel musste unter Geheule in die Hölle zurückfahren.
Der Bursche aber schlief, ermattet vom Kampf, auf einer der Kirchenbänke bis in den späten Morgen hinein.

Der Pfarrer, der Bürgermeister mit Familie und viele Bürger der Stadt hatten sich unterdessen vor der Kirche eingefunden, um den fremden Jüngling zu betrauern.
Jedoch, wie staunten alle, als dieser jetzt wohlbehalten und munter durch die Kirchentür auf sie zukam.
„Die Kirche gehört von heute an wieder Euch“, rief er fröhlich. „Abenteuerlich war es schon, Herr Pfarrer, aber da war nichts, was mich gruselte!“

Die Tochter des Bürgermeisters war so von ihm angetan, dass sie ihn gleich zum Essen in das Haus ihres Vaters bat; und bald darauf heirateten die beiden.
Sie waren sehr glücklich miteinander, wenn nur der junge Ehemann nicht immer wieder geseufzt hätte: „Mein Glück hab ich zwar gefunden, nur Gruseln tut es mich bis heute nicht.“
Da ließ die junge Frau die Küchenmamsell eine großen Bottich holen. ,,Gehe damit zum Gärtner,“ befahl sie, ,,er soll den Zuber bis an den Rand mit lebendigen Fröschen vom Gartenteich füllen. Deckt dann ein großes Tuch darüber, damit auch nicht einer entkommt.“
Und als ihr Mann am Abend gerade eingeschlafen war, lüftete sie die Bettdecke und leerte mit Hilfe der Köchin die volle Wanne auf seinem nackten Bauch aus!
Mit einem Schlag erwachte der junge Ehemann, drehte und wand sich vor Entsetzen und schrie mit überschlagender Stimme: „Pfui, wie glitschig und nass, welch ekliges Getier ist das! Ich habe Gänsehaut, wie nie in meinem Leben!
Ach, liebe Frau, nun weiß ich, was Gruseln heißt, und nun will ich nie wieder davon anfangen.“

Von da an lebten sie glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.

Quelle: nicht angegeben

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