Jetzt fängt ein neues Märchen an,
und wer schön zuhören kann,
bekommt ein Steinchen vom Meeresrand,
von den Meereswellen gespült an Land.
Da muss er nicht lange grübeln, überlegen,
soll nur lauschen, was die Steinchen erzählen.
Es war einmal, es war irgendwo, dort lebte ein alter Jäger, der hatte sieben Söhne. Als sie zu Jünglingen herangewachsen waren, riet der Vater ihnen, in die Welt hinausziehen, fremde Menschen kennen zulernen, Bräute zu feiern. Die Söhne reichten dem Vater sieben Pfeile, die dieser auf den Bogen spannte. In die Richtung, in die, die Pfeile flogen, wollten die Söhne ihre Schritte lenken. So nahmen sie Abschied von dem Vater und zogen los, lange – und doch nicht allzu lange gingen sie in sieben Richtungen, weit – und doch nicht allzu weit. Sie gingen einen Monat, gingen zwei Monate, und im dritten Monat kam Achmed, der jüngste Sohn des alten Jägers, zum blauen Meer. Dort stieß er auf eine Spur, so lange wie der Schuss eines guten Schützen. Dort sah er zwischen zwei Steinen seinen Pfeil, der zwischen zwei Steinen wie eine Saite vibrierte.
Achmed nahm den Pfeil an sich und begann dort, wo er ihn gefunden hatte, eine große Hütte zu bauen. Und als die Hütte gebaut war, pflanzte er einen Garten an, in dem bald die schönsten Blumen blühten, in dem er bald die ersten Feigen pflückte, in dem es für ihn, wenn er von der Jagd heimkehrte, immer reichlich zu tun gab.
Einmal aber, als Achmed von der Jagd heimkam, war in seinem Garten schon alle Arbeit getan. Und auch in seiner Hütte war der Boden gekehrt, war sein Lager mit weißen Linnen bezogen, stand in einer Schüssel für ihn bereit. Wer aber war in seinem Garten, wer war in seinem Haus gewesen? Wer hatte das Essen für ihn bereitet, dass nach allerlei Kräuter duftete und ihm schmeckte, wie nie zuvor ein anderes Essen geschmeckt hatte? Wer konnte es nur gewesen sein? Seit Achmed sich von seinem Vater und von seinen Brüdern verabschiedet hatte, war er keinem Menschen mehr begegnet. Auch an diesem Tag hatte er weit und breit niemand gesehen. Und doch geschah fortan immer das gleiche. Achmed zerbrach sich Tag und Nacht den Kopf, wer wohl so gut für ihn sorgen mochte. Und endlich beschloss er, den Dingen auf den Grund zu gehen. Darum kehrte er am anderen Morgen um, kaum dass er am Rande des Waldes angelangt war, und nahm den Weg, der in einem weiten Bogen hinter seiner Hütte endete. Dort versteckte er sich.
Als die Sonne hoch im Zenit stand und das Meer glatt wie ein Spiegel war, erhob sich aus dem Wasser plötzlich ein Schwan, der breitete seine Schwingen aus, kreiste ein paar Mal über dem Meer und flog dann geradewegs auf Achmeds Hütte zu, und dort durch die offenstehende Tür. Achmed lief auf leisen Sohlen um die Hütte herum. Und was sah er?
Der Schwan warf im Halbdunkel der Hütte sein Federkleid ab, und verwandelte sich ein wunderschönes Mädchen. Der junge Jäger wusste nicht, was er tun sollte. Würde das Mädchen ihn, wenn er sich ihm zeigte, nicht verlassen, um niemals mehr zurückzukehren?
Würde er sich vielleicht für allezeit in den Schwan zurückverwandeln? Während Achmed dies überlegte, hatte das Mädchen, den Boden in der Hütte gekehrt, hatte es weißes Linnen über sein Lager gespannt, das Feuer im Herd entfacht und mit der Zubereitung des Essens begonnen. Aber wenn alles nun ganz anders sein würde als Achmed es fürchtete? Könnte es nicht sein, dass das Mädchen bereit war, bei ihm zu bleiben, als seine Frau? Achmed überlegte hin und überlegte her, und schließlich sagte er sich: „Es hilft alles nichts, ich muss es auf eine Probe ankommen lassen. Ich muss in die Hütte gehen und das schöne Mädchen fragen, ob es meine Frau sein möchte.“ Und das tat er auch. Er ging in die Hütte und fragte: „Mein Pfeil hat mich hier her, zu dir gebracht. Bleibe du nun bei mir und werde meine Frau.“ Die Meerjungfrau erschrak nicht, verwandelte auch nicht sich zurück in den Schwan, der aus dem Wasser aufgestiegen war. Die Meerjungfrau lächelte und sagte: „Wenn du es wünschst, will ich gerne bei dir bleiben und deine Frau werden.“
Dann reichte sie dem jungen Jäger ihre Hand, und dessen Freude war übergroß. Jetzt brauchte er sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, wer es wohl sein könne, der seit einiger Zeit alle Arbeit im Garten und im Haus für ihn verrichtet hatte. Jetzt würde er, wenn Müdigkeit ihn überkam, wieder ruhig schlafen können. Und an dem Tag, als Achmed und die Meerjungfrau Mann und Frau geworden waren, traten die Wasser des Meeres aus ihren Ufern, umschäumten ihre Füße und wünschten ihnen Glück und ein langes Leben. Und alle guten Wünsche schienen in Erfüllung zu gehen. Der junge Jäger lebte mit seiner Frau in der großen Hütte am Meer glücklich und zufrieden. Obwohl sie weit entfernt von allen Menschen wohnten, fehlte es ihnen an nichts. Achmed ging weiter jeden Morgen auf die Jagd, und seine Frau verrichtete indessen alle Arbeit, die es in der Hütte und im Garten zu tun gab.
Eines Abends nun, als Achmed mit einem erlegten Hirsch aus dem Wald zurückkehrte, sah er am Meeresufer einen Mann. Achmed ging auf ihn zu und fragte ihn, woher er komme und wohin ihn sein Weg führe. Und der Mann erzählte, er sei der Barbier des Königs.
Dieser habe ihm vor drei mal sieben Tagen die Erlaubnis gegeben, seine alten Eltern zu besuchen, die weit entfernt vom Königsschloss in einem Dorf lebten. Und jetzt, da er wisse, dass es ihnen gut gehe, dass sie an nichts Mangel hätten, kehre er guter Dinge in das Schloss zurück, das er wohl erst bei Anbruch des neuen Tages erreichen werde. Einen, der noch ein gutes Stück Weg vor sich hat und der sicher hungrig, durstig und müde ist, lässt man nicht einfach weiterziehen. Man bietet ihm an, was man anzubieten hat, ein karges oder ein reiches Mal, ein hartes oder ein weiches Lager. Und das tat Achmed. Er bot dem Barbier ein reichliches Mahl, eine gefüllte Kanne Wein und obendrein ein weiches Lager. Der Barbier nahm die Einladung nur allzu gerne an. Und während er aß und trank und Achmeds junge Frau am Feuer hantieren sah, ging es ihm durch den Kopf, dass es gewiss im ganzen Land keine gäbe, die ihr an Schönheit gliche.
„Es ist ein Glück, eine gute und fleißige Frau zu haben, und wenn sie dazu noch schön ist wie diese, so ist es ein großes Glück“, dachte der Barbier, bevor er auf seinem weichen Lager einschlief. Am anderen Morgen verabschiedete sich der Barbier, und wo er fortan ging und stand, überall pries er die Schönheit der jungen Frau, die in der Hütte am Meeresufer lebte. So hörte auch der König davon. „Wer sie schaut, glaubt in die Sonne zu schauen, o König“, hatte der Barbier gesagt.
Und fortan dachte auch der König an nichts anderes mehr, als an Achmeds Frau. Ach, und hätte doch der Barbier seine Zunge gezähmt, denn es geschah, was nicht geschehen sollte.
Der König dachte bald ohne Unterlass daran, wie er es wohl anstellen sollte, die schöne junge Frau für sich zu gewinnen. Der Barbier erschrak, als er begriff, was er, ohne es zu wollen, angerichtet hatte. Doch nun war es zu spät. Und seine Warnung, das Ansinnen des Königs würde kein Glück bringen, blieb ungehört. Der König ließ seine Ratgeber rufen, die immer nur das rieten, was der König zu hören wünschte, und das zu erraten, fiel ihnen nicht schwer. „Mein König“, sagte der erste Ratgeber, „du wünschst, dass dieser Jäger, der mit seiner jungen Frau in einer Hütte am Ufer des Meeres lebt, aus der Welt geschafft wird.“
„So ist es, ich wünsche es“ ,sagte der König.
„Mein König“, sagte der zweite Ratgeber, „ich wüsste nichts, was einfacher ist als dies. Stelle ihm eine Aufgabe. Wenn er sie nicht lösen kann, soll es seinen Kopf kosten.“
„Mein König, dieser Jäger wird die Aufgabe, die du ihm stellst, gewiss nicht lösen, und so wird es ihm gewiss seinen Kopf kosten“ ,sagte der erste Ratgeber, und er verneigte sich dabei tief. „Wenn euer Rat sich als gut erwiesen hat, will ich euch reich belohnen“ ,sagte der König, bevor er seine Ratgeber entließ. Dann ließ der König nach einem Boten rufen, und als dieser vor ihm stand, sprach er: „Reite drei Tage nach Osten, bis du an den großen Wald gelangst. Durchquere diesen Wald. Wenn er sich am anderen Ende lichtet, wirst du das Meer erblicken. Am Ufer des Meeres steht eine Hütte, in dieser Hütte lebt ein Jäger. Sein Name ist Achmed. Richte diesem Jäger aus, dass der König mit seinem Heer sein Gast sein wird. Der König befiehlt jedoch, dass man ihn und sein Heer aus einem einzigen Kessel verköstigen muss und dass er und sein Heer, während der Mahlzeit nur auf einem Teppich mittlerer Größe sitzen dürfen.“ Der Bote tat, wie ihm geheißen worden war. Er sattelte sein Pferd, saß auf und ritt drei Tage lang nach Osten, bis er zu einem großen Wald gelangte.
Und als der Wald sich am anderen Ende lichtete, erblickter er am Ufer des Meeres die Hütte. Der Bote gab seinem Pferd noch einmal die Sporen, und als er vor der Hütte anhielt rief er: „Im Namen des Königs!“
Da trat Achmed verwundert vor die Hütte und fragte den Boten, was er denn im Namen des Königs gäbe oder ob vielleicht der Barbier des Königs ihn, den Boten, zu ihm geschickt habe, mit ein paar guten Worten und einem Gruß, denn der Barbier des Königs sei ihm und seiner jungen Frau wohlbekannt. Na, was bekam Achmed da zu hören! Ob er nicht recht bei Sinnen, oder ob ihm hier am Meer der Verstand abhanden gekommen sei, ob er denn meine, so ein Barbier verfüge über einen Boten? Und dann richtete der Bote Achmed aus, was ihm aufgetragen war. Achmed erschrak. Wie sollte er dem Befehl des Königs nachkommen? Hatte je ein Mensch gehört, dass man ein ganzes Heer und einen König dazu aus einem einzigen Kessel, auf einem Teppich mittlerer Größe verköstigen konnte.
Den Kopf tief gesenkt, ging er die Hütte zurück. Seine junge Frau aber, die alles mitangehört hatte, schürte, als sei nichts geschehen, das Feuer, wandte sich ruhig um und sagte: „Der König und sein Heer werden zufrieden von dannen ziehen. Es ist nichts Außergewöhnliches, ein ganzes Heer und einen König dazu aus einem einzigen Kessel zu verköstigen und alle auf einem Teppich mittlerer Größe unterzubringen. Es kommt nur darauf an, den rechten Kessel und den rechten Teppich herbeizuschaffen, und das will ich sogleich tun.“ Dann warf die junge Frau sich ein Tuch um die Schulter und lief hinunter ans Meer. Und kaum war sie dort angelangt, da teilten sich die Wasser und ein wunderschönes Mädchen erschien und fragte: „Warum hast du mich gerufen, meine liebe Schwester?“
Da erzählte die junge Frau von dem Boten des Königs. Als sie geendet hatte, lachte das Meermädchen hellauf und verschwand wieder in den Wassern. Als es zum zweiten Male auftauchte, sagte es: „Es ist ganz leicht, ein ganzes Heer und einen König dazu aus einem einzigen Kessel zu verköstigen und alle auf einem Teppich mittlerer Größe unterzubringen, wenn man den rechten Kessel und den rechten Teppich hat. Hier habt ihr beides.“ Und dann lachte sie noch einmal hellauf, bevor sie erneut in den Wassern verschwand. Drei Tage vergingen, drei Tage, in denen Achmed sich unentwegt fragte, ob denn der König und sein Heer wirklich, wie seine Frau und das Meermädchen es gemeint hatten, zufrieden von dannen ziehen würden. Dass Achmed, erfülle er die Aufgabe nicht, hart bestraft werden würde, hatte der Bote ihm nicht verschwiegen. Am vierten Tag, gegen Mittag, erreichte der König mit seinem Heer die Hütte.
„Nun“, sagte er, „eine gute Suppe und ein Platz auf einem weichen Teppich wird uns jetzt gut tun.“ Da trat Achmeds Frau aus der Hütte, breitete den Teppich des Meermädchens aus und brachte gleich darauf den mit Suppe gefüllten Kessel. „Seid willkommen“, sagte Achmed. „Und es soll euch gut tun“, sagte er auch, nachdem er sich, wie zuvor seine Frau, tief verbeugt hatte. Der König beachtete Achmed zunächst gar nicht. Er hatte nur Augen für die schöne junge Frau. Bald würde sie dem Jäger nicht mehr gehören. Wie aber staunte der König, als er begriff, dass es für Achmed offenbar nichts einfacheres auf der Welt gäbe, als ihn und sein Heer aus einem Kessel zu verköstigen, und auf einem Teppich mittlerer Größe unterzubringen. Ja, wenn er den Teppich recht besah und ihn mit denen in seinem Schloss verglich, so war dies eher ein sehr kleiner Teppich. Dem König blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zu machen, von seinem Pferd abzusitzen und auf dem Teppich Platz zu nehmen, der wirklich für alle ausreichte. Dem König, blieb nichts anders übrig, als die Suppe zu essen, die, die junge Frau zubereitet hatte und die ihm köstlich schmeckte, und die wirklich für alle ausreichte. Als der König wieder im Schloss angelangt war, ließ er die beiden Ratgeber zu sich kommen. „Es war ein schlechter Rat, den ihr mir gegeben habt“ ,sagte er barsch. „Gebt mir einen anderen.“ Die Ratgeber zuckten erschreckt zusammen, doch sogleich zogen sie ihre Stirnen in tiefe Falten und dachten nach.
Und als sie nach einer Weile nachgedacht hatten, sagte der erste: „Mein König, lass diesen Jäger ins Schloss rufen und frage ihn, wo der Schlüssel zu der Truhe ist, die, die Königin hinterlassen hat. Die Königin weilt nicht mehr unter den Lebenden und so wird niemand dem Jäger sagen können, wo der Schlüssel geblieben ist.“
„Den Schlüssel zu der Schatztruhe der Königin?“ fragte der König und seine Augen blitzten begierig. „Diesen Schlüssel, o König meinen wir“ ,sagten die Ratgeber, und sie verbeugten sich tief. „Wenn euer Rat sich als gut erwiesen hat, will ich eure schlechten Ratschläge vergessen und euch für diesen reichlich belohnen“ ,sagte der König, bevor er mit einer Handbewegung, mit der gewöhnlich die Bauern ihre Hühner von den Gemüsebeeten scheuchen, die Ratgeber entließ. Dann rief der König nach einem Boten, dem befahl er, sich sogleich auf sein Pferd zu setzen und zu diesem Jäger, der drei Tage gen Osten in einer Hütte am Meeresufer lebte, zu reiten und ihn aufzufordern, vor den König zu kommen. Der Bote tat wie ihm geheißen worden war, er ritt ohne Aufenthalt drei Tage nach Osten durch den großen Wald, bis er vor der Hütte des jungen Jägers angelangt war. Dort rief er: „Im Namen des Königs! Achmed, der Jäger soll binnen sieben Tagen im Schloss sein.“ Achmed erschrak als er hörte, was der König von ihm verlangte.
Wie sollte er je wissen, wo die Königin den Schlüssel zu ihrer Schatztruhe aufbewahrt hatte, bevor sie von den Lebenden schied.
Seine Frau sagte: „Sieben Tage sind eine lange Zeit, wenn man sie recht zu nutzen weiß. Ich will dir den Weg zu der Königin zeigen, denn ich weiß den Ort, an dem sie sich seit einem Jahr befindet.“ Dann nahm die junge Frau Achmed an der Hand und lief mit ihm hinunter ans Meer. Und kaum umspielten die Wellen ihre Füße, da teilte sich das Meer und weiße Kiesel zeigten den Weg, den sie zu gehen hatten. Kaum aber hatten sie den Weg betreten, da schlugen die Wellen über ihren Köpfen zusammen, und ein schillerndes Gewölbe entstand. „Sieh dich nicht um“ ,sagte die junge Frau, „du darfst keine Zeit verlieren.“ Und als sie an einen Scheideweg kamen, fuhr sie fort: „Von jetzt an musst du alleine weitergehen. Ich werde hier auf dich warten.“
So ging Achmed allein weiter, aber als er wieder an einen Scheideweg kam, wusste er nicht, welcher der beiden Wege der rechte war, ihn seinem Ziel näher zu bringen. War denn weit und breit niemand, den er hätte fragen können? Achmed schaute sich um und da erblickte er einen Greis mit einem weißen Bart, der zwei Ochsen weidete. Achmed rief den Alten an, doch dieser schien ihn nicht zu hören. Da ging Achmed über die große, grüne Wiese, deren Gras ihm bis zu den Knien reichte. Wie staunte er aber, als er vor dem Alten stand und sah, dass die Ochsen nicht das weiche Gras der Wiese, sondern die borstigen Haare seines Bartes fraßen.
„Hat man je so etwas gesehen?“ dachte Achmed, und dann fragte er gerade heraus: „Warum lässt du es zu, dass diese Ochsen an deinem Bart fressen? Sind diese gar so dumm, ist ihr Geschmack so abgestumpft, dass sie dein Barthaar nicht vom Gras einer Wiese unterscheiden können?“ Da blickte der Greis aus seinen vom Alter getrübten Augen zu Achmed auf, seufzte tief und erzählte: „Als ich noch bei Kräften war, fuhr ich täglich mit meinen Ochsen aufs Feld. Auch mein Nachbar fuhr dahin, sein Feld lag neben dem meinen. Mittags gab er seinen Ochsen Heu. Ich aber brachte niemals Futter für die Ochsen mit, denn kaum hatte sich mein Nachbar entfernt, nahm ich sein Heu und fütterte damit meine Ochsen. Jetzt fressen die Ochsen meines Nachbarn an meinem Bart, und ich darf sie nicht fortjagen.“ Achmed wunderte sich sehr, er hätte den Alten gern von diesem Ungemach befreit, aber er musste sich eilen. Er fragte nach dem Weg der Königin, die seit einem Jahr die Erde nicht mehr betreten hatte. Der Alte wies ihm die Richtung, und der Jäger ging weiter. Nach einer Weile verhielt Achmed den Schritt. Hier bildete die See eine kleine Bucht, tief und breit, die kein Hirsch übersprungen hatte. Schon kam ein langer Mann und legte sich quer über die Bucht. Der junge Jäger wunderte sich sehr. Aber der Mann sprach: „Nur über meinen Rücken kannst du das andere Ufer erreichen. Alle, die hierher kommen, überschreiten auf meinem Rücken die Bucht!“
„Warum baut hier keiner eine Brücke?“ fragte Achmed. „Warum lässt du das mit dir machen?“ – „Lauf hinüber, dort will ich dir Antwort geben.“ Als Achmed auf dem Rücken des langen Mannes die Bucht überschritten hatte, erzählte dieser: „Jeden Tag stahl ich von einer Brücke, die Menschen im Schweiße ihres Angesichtes gebaut hatten, ein Brett, ein Nagel. Ich tat es solange, bis die Brücke zusammenfiel. Jetzt muss ich mit meinem Körper das Wasser überspannen.“ Eine wundersame Welt war das, durch die Achmed schritt, und ungewöhnliche Menschen waren es, die Achmed begegneten. Am dritten Scheideweg goss ein Milchmann im weißen Kittel die Milch von einem Eimer in den anderen und dann wieder zurück. Schweiß rann von seiner Stirn, doch fand er keine Zeit, sich den Schweiß abzuwischen. Achmed fragte nach dem Weg zur Königin, die seit einem Jahr die Erde verlassen hatte. Der Milchmann wies ihm die Richtung. Schon wollte Achmed weitergehen, da verhielt er den Schritt und fragte: „Sag guter Mann, warum schüttest du die Milch von einem Eimer in den anderen und dann wieder zurück?“ Da seufzte der Milchmann tief und erzählte: „Diese Arbeit geschieht mir ganz recht. Viele Jahre habe ich die Menschen betrogen, habe ihnen die Milch mit Wasser verdünnt. Und jetzt tue ich mein Bestes, das Wasser aus der Milch zu schütten, damit sie wieder köstlich und fett wird.“
Achmed verabschiedete sich und ging weiter.
Wie lange er ging, wie lange er über die Meereswiesen schritt, vielleicht war es eine Stunde, vielleicht aber war ein ganzer Tag vergangen, als er sich endlich seinem Ziel nahe sah, als er einen prachtvoll mit tausenderlei Blumen geschmückten Thron erblickte. Auf dem Thron saß eine Frau.
Es war die Königin. Sie hatte Achmeds Schritte vernommen und fragte jetzt: „Was hat dich in diese Welt geführt, was führt dich zu mir? Warum kamst du auf den Meeresgrund, nach einer Königin zu suchen, die schon vor einem Jahr und einem Tag die Erde verlassen hat?“ Achmed verneigte sich tief und sagte: „Verzeiht, o Königin, dass ich Eure Ruhe störe. Aber außer Euch gibt es auf der ganzen Welt niemanden, der mir helfen kann.“
„Erzähle“ ,sprach die Königin: „Wenn ich von der Wahrheit deiner Geschichte überzeugt sein werde, will ich tun, was in meiner Macht steht.“ Da erzählte Achmed der Königin, in welche Bedrängnis der König ihn gebracht habe. Er erzählte ihr von der ersten Aufgabe, die ihm schon schier unlösbar erschienen war, ,und er erzählte von der zweiten, die er ohne die Hilfe der Königin gewiss niemals zu lösen imstande sei. Die Königin hatte aufmerksam und traurig zugehört. Sie sah Achmed eine Weile schweigend an, und endlich sagte sie:
„Ich bin von der Wahrheit deiner Geschichte ganz und gar überzeugt. Und so will ich dir geben, was du brauchst, um dein Glück zu erhalten.“
Danach reichte die Königin Achmed einen goldenen Schlüssel. Achmed nahm den Schlüssel, verneigte sich noch einmal tief und eilte den Weg, den er gekommen war, zurück. Und wieder begegnete er dem Milchmann, der, ohne aufzusehen, die Milch von einem Eimer in den anderen goss und dabei vor sich hinmurmelte: „Ach, ich hätte ich nur die Menschen nicht betrogen, denen ich die Milch verkauft habe. Ach, hätte ich die Milch nur nicht mit Wasser verdünnt.“ Achmed begegnete auch dem Mann, der einst solange die Bretter und die Nägel von einer Brücke gestohlen hatte, bis diese zusammengefallen war, und der jetzt mit seinem Körper als Brücke über das Wasser dienen musste.
Wie das erste Mal gelangte Achmed nur über den ausgestreckten Körper des Mannes, an das andere Flussufer. Der junge Jäger hatte Mitleid mit beiden, großes Mitleid aber empfand für den Alten, der noch immer gebeugt auf der Wiese stand, an dessen Bart noch immer die Ochsen rupften. Und dann stand Achmed endlich wieder vor seiner Frau, die ihn freudig begrüßte, ihn an der Hand nahm, und zusammen eilten sie den mit Kieselstein gesäumten Weg zurück. Und als das schillernde Gewölbe sich über ihnen geöffnet hatte, als die Wellen ihre Füße umspülten und sie ihre Hütte im Sonnenlicht erblickten, wusste Achmed, dass ihm der König auch dieses Mal nichts anhaben konnte, denn er hatte die Aufgabe gelöst, er hatte den Schlüssel für die Schatztruhe der Königin.
Am Morgen des siebten Tages erreichte Achmed die Stadt. Dort ließ er sich sogleich bei Hofe melden. Der König wusste nicht, wie er Achmed empfangen sollte. Er ahnte freilich, dass Achmed auch die zweite Aufgabe gelöst hatte, und einerseits freute es ihn, denn seine Gier, alles Funkelnde zu besitzen, war grenzenlos, andererseits aber hatte er mit der Lösung der Aufgabe nicht gewonnen, was er sich erhofft hatte: die schöne junge Frau des Jägers, der ihm jetzt um keinen Preis sagen wollte, wo er den goldenen Schlüssel für die Truhe der Königin gefunden hatte.
„Nun gut“, sagte der König, „aber glaube nicht, dass alles getan sei. Du wirst noch anderes zu tun bekommen.“ Dann ließ er Achmed hinausführen und seine Ratgeber rufen, die bleich und unterwürfig in den Thronsaal traten. „Was seid ihr für Ratgeber, wenn ihr nur schlechten Rat zu erteilen wisst“, schrie der König sie an. „Mein König“, sagte der erste Ratgeber, „Ihr vergesst die guten Ratschläge, die wir bisher immer für Euch hatten.“ – „Darum zürnt nicht, o König“, sagte der zweite Ratgeber, „gebt uns einen Tag Zeit. Diesen Tag wollen wir nutzen, eine Aufgabe zu finden, die niemand, selbst dieser Jäger nicht, lösen kann.“
Und so geschah es. Die Ratgeber überlegten einen Tag, überlegten hin und her, zerbrachen sich fast ihre Köpfe darüber und meinten schließlich, sie hätten herausgefunden, wie Achmed aus dieser Welt zu schaffen sei.
„Mein König“, sagte der erst Ratgeber am anderen Morgen, „befiehl diesem Jäger, Euch ein Pferd herbeizuschaffen, von dessen Sattel aus man über die Mauern der Stadt blicken kann.“ Der König war zufrieden. Er neigte wohlwollend den Kopf. So ein Pferd gab es gewiss nicht. Und was es nicht gibt, kann man nicht herbeischaffen. Achmed ließ er durch einen Boten ausrichten, der König gebe ihm sieben Tage Zeit, die dritte Aufgabe zu lösen. Löse er sie nicht, so werde es um ihn geschehen sein, Achmed schöne junge Frau aber gehöre dann ihm, dem König. Der Jäger sah den Boten mit großen Augen an. War dies am Ende nur ein böser Traum? Hatte ihm ein Trugbild genarrt? Doch nein! Der Bote wendete sein Pferd und rief noch einmal über die Schulter zurück: „Vergiss es nicht! Sieben Tage hast du Zeit!“ Achmed ging, den Kopf tief gesenkt, in die Hütte zurück. Seine Frau aber sagte: „Es ist nichts Außergewöhnliches, ein Pferd herbeizuschaffen, von dessen Sattel man über die Mauern der Stadt weit ins Land blicken kann. Man muss nur wissen, wo man ein solches Pferd findet.“ Dann nahm die Frau Achmed an die Hand und lief mit ihm hinunter ans Meer. Und kaum umspülten die Wellen ihre Füße, da teilte sich das Meer und weiße Kiesel zeigten den Weg, den Achmed zu gehen hatte, denn dieses Mal würde die junge Frau am Ufer auf ihn warten müssen. Bevor sie sich von Achmed verabschiedete, sagte sie: „Dieser mit Kiesel gesäumte Weg wird dich zu einer großen Wiese führen, auf der Wiese tummeln sich viele edle Pferde.
Fange jedoch keines der Pferde, sondern das Fohlen, das vor einem Monat das Licht der Welt erblickt hat.“ Als sie dies gesagt hatte, reichte die junge Frau ihrem Mann vier Eisen, Nägel und einen Hammer. Achmed schritt zuversichtlich aus, und nicht lange stand er vor der großen Wiese, auf der sich viele Pferde tummelten. Immer wieder verglich er die edlen, hochgewachsenen Pferde mit dem erst vor einem Monat geborenen Fohlen, und Zweifel überfielen ihn. Hatte seine Frau auch dieses Mal den rechten Rat gegeben? Wie sollte man denn aus dem Sattel eines Fohlens
über die Mauern der Stadt weit ins Land blicken können, wo man einem Fohlen doch gar keinen Sattel auflegen konnte. Aber dann ließ er alle Zweifel beiseite und tat, was seine Frau ihm geheißen hatte. Er fing das Fohlen ein und beschlug es mit den Eisen, die er bei sich trug. Und siehe da, als er den Fuß beschlug, bäumte das Fohlen sich auf, als er den letzten Schlag getan hatte, war es gezähmt und folgte Achmed, als sei er von jeher sein Herr gewesen. So ereichte der Jäger wieder das Meeresufer. Dort wartete Achmeds Frau mit einem roten Halfter, einer gestickten Decke, da begann es zu wachsen. Es wuchs und wuchs, als ob es von der Sonne selbst in die Höhe gezogen wurde, bis es ein riesiges Pferd geworden war. Achmed kostete es Mühe, ihm den Sattel überzuwerfen und hinaufzusteigen. Als es ihm jedoch gelungen war, stieß er einen Freudenschrei aus. Vom Sattel des Pferdes aus konnte er leicht über die Mauern der Stadt sehen. Er sah das Schloss mit den Wachen davor, er sah die Häuser, die Straßen und in den Straßen die Leute geschäftig hin und her eilen. Jetzt hielt es Achmed nicht mehr länger. Obwohl noch kein Tag vergangen war, seit er den Befehl des Königs erhalten hatte, ritt er in die Stadt, in den Schlosshof. Dort standen der König und seine Ratgeber starr vor Staunen. Immer wieder hoben und senkten sie ihre Köpfe, um die Größe des Pferdes mit ihren Augen zu erfassen, denn das war auf dem Weg in die Stadt noch einmal um ein großes Stück gewachsen. Schließlich rief der König seine Wachen und befahl ihnen, eine Leiter herbeizuholen und sie an das Pferd zu stellen.
Als sein Befehl ausgeführt war, stieg der König hoch erhobenen Hauptes die Leiter hinauf, und da sah er, dass man vom Sattel dieses Pferdes aus wirklich über die Stadtmauern hinweg das weite Land erblicken konnte. Doch als er seinen Ratgebern zurufen wollte, sie seien die dümmsten Esel, die je ein König gehabt habe, geschah etwas.
Das Pferd bäumte sich auf und warf den König im hohen Bogen ab. Und kaum hatte er sich wieder aufgerichtet, kaum hatte er den Mund aufgerissen, um Achmed nun selbst eine Aufgabe zu stellen, die er niemals lösen können würde, da verwandelte er sich in einen Hasen. „Mein König!“ rief der erste Ratgeber. „Mein König!“ rief der zweite Ratgeber. Aber dann war es auch um sie geschehen.
Sie verwandelten sich in zwei schnelle Hunde, die mit lauten Kläffen davonsprangen, den Hasen zu jagen. Und Achmed und seine junge Frau? Sie führten das Pferd auf die Meereswiese zurück und lebten fortan glücklich und zufrieden.
Welle, Welle wogt und singt,
bracht jedes Jahr ein kleines Kind.
Quelle: Ein Märchen aus Aserbaidschan