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Märchenbasar

Ängodon und Näwadaha

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Sechs Brüder, zum Stamm der kräftigen, Oberkanada bewohnenden Natowas gehörig, gingen einst an einem Morgen in aller Früh auf die Jagd, von der jedoch am Abend nur fünf zurückkehrten. Als am anderen Tag deshalb Nachforschungen gehalten wurden, fand man den Vermißten entseelt unter einem Baum liegen. Sein Körper zeigte Spuren grausamer Gewalttätigkeiten, was große Trauer in die Familie, besonders aber über seine jüngste Schwester brachte, die den Erschlagenen am meisten geliebt hatte.
Im folgenden Jahr und gerade am selben Tag wurde wieder einer dieser Brüder auf so geheimnisvolle Weise getötet, und so ging es in den nächsten Jahren fort, bis zuletzt nur noch einer übrigblieb. Das Mädchen war infolge dieser Unglücksfälle vollständig zum Skelett geworden, und als nun einst auch der letzte eines Abends nicht mehr zurückkam, wurde es beinahe wahnsinnig, wanderte Tag und Nacht im Wald herum, und verschwand zuletzt ebenfalls.
Die Tante des Mädchens, die in der Nachbarschaft wohnte, suchte täglich nach ihm, konnte aber nicht die geringste Spur von ihm entdecken. Am zehnten Tag danach, als sie sich ganz erschöpft unter einen Baum gelegt hatte, kam es ihr vor, als höre sie ein kleines Geflüster, und als sie sich umdrehte, sah sie ihre Nichte neben sich auf der Erde liegen, das Gesicht dem Boden zugekehrt. Sie rüttelte sie auf und suchte sie zu bereden, mit ihr nach Hause zu gehen, aber das wollte diese um keinen Preis, und der besorgten Tante blieb zuletzt nichts anderes übrig, als ihr hier eine kleine Hütte zu bauen und sie täglich mit Speise und Trank zu versorgen.
Als einst die Tante weggegangen war, um ihren eigenen häuslichen Pflichten nachzukommen, erschien plötzlich eine weißgekleidete Gestalt vor der Hütte des Mädchens. Sie berührte die Erde nicht, sondern schwebte leicht in der Luft und sagte zu ihm: »Meine liebe Tochter, warum grämst du dich so sehr? Siehe, ich bin zu deinem Trost gekommen. Alles, was auf der Erde kriecht und fliegt, gehört mir; ich schaffe und zerstöre, je nachdem ich es für gut befinde. Wenn du nach meinem Willen handelst, werde ich dir deine Feinde übergeben. Nun steh auf und nimm die Speise, die ich dir vorlege, zu dir; geh dann in dein Dorf zurück und erzähle all deinen Bekannten, was du gehört und gesehen hast!« Darauf verschwand die Gestalt, und das Mädchen erblickte plötzlich einen fetten toten Bären vor sich.
Nun ging die Jungfrau freudig in ihr Dorf zurück und lud alle Bewohner zu einem großen Festessen ein. Das Bärenfleisch mundete ihnen vortrefflich; keiner hatte je etwas von solchem Wohlgeschmack gekostet, und mit Freuden versprachen sie alle, ihr in Frieden und Krieg treu beizustehen. Gleich wurden Botschafter an die benachbarten Stämme, an die Natowas des Hirschtotems und die Odjibwas geschickt, die ebenfalls zu ihrer Hilfe herbeieilten. Das Mädchen führte sie selbst an. Alle Bären, die sie unterwegs töteten, wurden der Göttin geopfert.
So marschierten sie guten Mutes den Feinden entgegen, und bald hatten sie die Wigwams von Ängodon und Näwadaha, der zwei grausamen Häuptlinge vom Bärentotem, erreicht. Jene himmlische Gestalt erschien auch wieder, reichte der Anführerin die Hand und sagte: »Höre, meine Tochter: Schicke Spione in das Dorf vor dir, und laß den Kriegern vom Hirschtotem sagen, sie sollen ihre Zeichen vor die Tür hängen, damit sie der Vernichtung entgehen!«
Dieser Rat wurde pünktlich befolgt, und als Ängodon und Näwadaha am anderen Morgen erwachten, meinten sie, ihre Nachbarn müßten böse Träume gehabt haben, weil jeder ein Tierfell vor dem Wigwam flattern hatte. Gleich darauf aber erschienen die Krieger und zündeten das Dorf an allen Seiten an. Den Leuten vom Hirschtotem geschah kein Leid, aber die anderen verfielen zum größten Teil dem unbarmherzigen Tomahawk und dem Skalpiermesser.
Jene beiden Haupthalunken entkamen jedoch. Der ihnen nachgesandte Hagel von Pfeilen traf sie zwar, verwundete sie jedoch nicht im geringsten. Da eilte ihnen denn das Mädchen mit nie noch gesehener Schnellfüßigkeit nach und nahm sie beide lebendig gefangen.
Die Odjibwas banden ihnen Hände und Füße zusammen und schnitten ihnen bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Rippen, wobei sie die Entdeckung machten, daß Ängodon keine Leber hatte und das Herz Näwadahas winzig klein, kaum bohnengroß war und aus Feuerstein bestand.
Darauf zogen die glücklichen Streiter mit zahlreichen Skalpen wieder in ihre friedlichen Dörfer zurück, und das Mädchen verschwand mit der Lichtgöttin in unermeßlicher Höhe.

Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas

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