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Alischer und Güli

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Wie man erzählt, regierte vor langer Zeit im Lande von Herat und Samarkand der Schah Hussejn Baikara. Sein Großwesir war der weise Dichter Alischer Nawoi. Es heißt auch, dass der Schah und sein Wesir seit jungen Jahren durch Freundschaft miteinander verbunden waren. Kein Tag, da Hussejn Alischer nicht zu sich rief und lange mit ihm beriet. Ohne Alischers weisen Rat am Fuße des Thrones wurde keine Staatsangelegenheit entschieden. Als der Schah einmal auf die Jagd zu reiten geruhte, verzichtete Alischer auf die Ehre, ihn zu begleiten, bestieg sein Pferd und begab sich ganz allein in ein entlegenes Stadtviertel. Diese eigenartige Zurückgezogenheit des mächtigen Wesirs hatte ihre Gründe: der weise Alischer hatte eine Abneigung gegen so grausame und blutige Vergnügungen wie eine Jagd. Außerdem hielt ihn die Schönheit eines unbekannten Mädchens in Bann. Vor vierzig Tagen war das Herz des Wesirs vom Pfeil der Liebe getroffen worden.
An einem Frühlingstag war Alischer Nawoi durch ein stilles Gässchen geritten, als er ein Geräusch hörte und unwillkürlich emporblickte. Staunend gewahrte er ein so liebliches, Antlitz, dass der Mondschein im Vergleich mit ihm wie das trübe Blinken einer abgegriffenen Kupfermünze neben der glänzenden Pracht einer Goldmünze ausgesehen hätte. Nur einen Augenblick lang konnte der ergriffene Alischer diese vollendete Schönheit genießen. Das liebliche Antlitz verschwand schnell und spurlos wie ein Spiegelbild auf dem Wasser, wenn ein Windhauch darüber fährt. Verwirrt und bewegt ritt Alischer davon, um jedoch am nächsten Tage dieselbe Straße um dieselbe Stunde wie unbeabsichtigt aufzusuchen.
Seither hatte er Schlaf und Ruhe verloren. Tag für Tag ritt er durch jenes Stadtviertel, in dem die Besitzerin der Märchenaugen wohnte. Sie wieder zu sehen gelang ihm jedoch nicht. Durch seine treuen Diener erfuhr Alischer, dass das schöne Mädchen die Tochter eines einfachen Handwerkers, des Webers Abu Salich sei und Güli heiße. Dieser Name bedeutet Rose und ähnelt ihrem Duft. Nach langem Überlegen entschloss sich Alischer, den Vater des Mädchens aufzusuchen und mit ihm zu sprechen. Am Hause des Webers angelangt, klopfte Alischer an das Pförtchen. Auf die Frage, wer da sei, antwortete er: „Ein Wanderer.“ – „Wen suchst du, Fremdling?“ – „Ich möchte wissen, ob der verehrte Abu Salich daheim ist.“ Das Pförtchen wurde geöffnet, und Abu Salich trat heraus. Beim Anblick des mächtigen Wesirs begann der arme Weber vor Angst zu zittern, denn zu jenen Zeiten versprach das Erscheinen eines allmächtigen Mannes nur Leid und Unheil. Alischer verneigte sich jedoch bescheiden und bat um die Erlaubnis einzutreten. Bestürzt und immer noch zitternd, führte Abu Salich den Wesir in sein Haus und bot ihm den Ehrenplatz an. Weil Alischer verlegen, Abu Salich aber verängstigt und erschrocken war, kam lange kein Gespräch zustande. Sie tauschten nur einige Worte der Höflichkeit aus. Als Alischer sah, dass die Dinge nicht einmal um einen Ameisenschritt vorankamen, erhob er sich, verneigte sich ehrerbietig und bat: „O kunstfertigster aller Weber, hoch verehrter Abu Salich, erlaube mir Unwürdigem, dass ich dein Sohn werde!“ Vor Verwunderung fand Abu Sahen keine Worte. Nie hätte er daran zu denken gewagt, dass der Wesir Ahscher Nawoi, Stütze und Schild des Thrones, um seine Tochter, die Tochter eines einfachen Webers, freien würde, wie schön sie auch sein mochte.
Außer sich vor Freude verneigte er sich vor Alischer: „Seele und Körper unserer Familie liegen in Euren Händen, o Herr! Für mich ist es die höchste Ehre, dass die nichts würdige Tochter eines einfachen Webers Eure Beachtung gefunden hat.“ – „Aber was wird das Mädchen sagen?“ – „Pflicht der Tochter ist es, dem Vater zu gehorchen!“ rief Abu Salich. Da verneigte sich Alischer Nawoi nochmals und sprach: „Ich kenne die alten Bräuche und Gesetze des Schariats. Es gibt aber noch die Bräuche des Herzens und die Gesetze des Verstandes. In der Liebe ist Zwang schlimmer als der Tod. Sollte Eure Tochter nein sagen, werde ich mich mit demütig geneigtem Haupt entfernen.“ Der ehrenwerte Abu Salich eilte in die Frauengemächer seines Hauses und verkündete seiner Tochter: „Ein unvorstellbares Glück ist über dein Haupt gekommen, meine Tochter! Du wirst in einem Palast leben. Der Wesir Alischer selbst bittet um deine Hand. Ich habe ihm mein Jawort gegeben, er aber – Allah ist groß – ist ein sonderbarer Mensch und verlangt auch noch dein Einverständnis. Sage schnell zu, bevor er es sich anders überlegt hat! Er braucht doch nur die Brauen zu runzeln, und von unserem Hause zusammen mit mir und uns allen bleibt nicht einmal ein Häufchen Asche übrig!“ Güli lächelte ihren Vater liebevoll an: „Meine Pflicht ist es, meinen Eltern zu gehorchen. Ihr aber sagt dem Wesir: ‚Meine Tochter ist Eure Sklavin!'“ Erfreut kehrte der Alte zu Alischer zurück und berichtete: „Ich habe ja immer gesagt, dass Güli ein kluges Mädchen ist. Sie ist einverstanden.“ Noch am selben Tage sandte Alischer Nawoi seine Brautwerber ins Haus des Abu Salich. Alischer Nawoi war ein außergewöhnlicher Mensch. Er wollte sich von den Gefühlen des Mädchens selbst überzeugen. Deshalb kam er jeden Abend in das Haus seines künftigen Schwiegervaters.
Alischer und Güli spazierten miteinander durch den Blumengarten, wo sie einander ungestört liebe Worte sagen konnten. Alischer trug Güli seine neuen, von erhabener Liebesleidenschaft erfüllten Verse vor, und Güli sang mit ihrer Nachtigallenstimme Lieder zur Domra. Das Glück des jungen Paares schien grenzenlos. Der Hochzeitstag rückte näher. Alischer hatte dem Brautvater zehntausend Goldstücke als Kalym überreicht, und die Verlobung hatte stattgefunden. Als Alischer eines Tages im Hause seiner Angebeteten weilte, erkundigte sich Schah Hussejn bei seinem Gefolge: „Warum sehe ich meinen Freund und Wesir Alischer nicht?“ Da schlich Madsheddin, der zweite Wesir, in seine Nähe. „Leiht mir gnädigst Euer Ohr“, wandte er sich an Hussejn. „Schon vierzig und noch mal vierzig Tage lassen unsere Aufseher Euren Wesir Alischer auf Euren Befehl nicht aus den Augen, damit Ihr über sein Verhalten und seine Gedanken unterrichtet seid.“ – „Und was haben sie erfahren?“ – „O Herr und Gebieter! Die Gedanken und Regungen Eurer Untertanen müssen reiner und durchsichtiger als Kristall sein. Alischer betrügt Euch!“ – „Was sagst du da? Wie kann er das wagen?“ – „O doch! Alischer täuscht Euch vor, er befasse sich allabendlich mit dem Dichten neuer Verse. In Wirklichkeit verbringt er seine Zeit mit einem Mädchen von unvergleichlicher Schönheit. Dieser Brillant von reinstem Wasser, der in die Krone eines Padischahs gehörte, hält er vor Euch verborgen, erhabener Gebieter. Der Name dieses Mädchens ist Güli. Sie ist die Tochter des Webers Abu Salich.“
Als Alischer Nawoi vor dem Schah erschien, verkündete Hussejn: „Wir haben beschlossen zu heiraten.“ Alischer erkundigte sich: „Ist die Braut schön? Ist sie aus guter Familie?“ – „Sie ist schön und ihr Vater ein ehrenwerter Mann.“ – „Dann erlaubt mir. Euch zu beglückwünschen!“ Mit einem hinterhältigen Lächeln wandte sich Hussejn an seine Untertanen am Fuße des Thrones: „Ihr habt gehört, dass mein Großwesir unseren Beschluss zu heiraten billigt. Ich ernenne meinen Freund und Großwesir Alischer zu meinem Brautwerber. Nimm sofort die Geschenke, mein Freund, und begib dich in das Haus des Mädchens!“ Ohne jeden Verdacht verneigte sich Alischer. „Es ist mir eine große Ehre, Brautwerber des mächtigen Schahs zu sein. Wohin soll ich mich begeben?“ – „In das Haus des Webers Abu Salich.“ Alischer erbleichte und erwiderte mit tiefer Verbeugung: „Diesen Auftrag meines Gebieters zu erfüllen, bin ich nicht imstande.“ Schah Hussejn übermannte der Zorn. „Dann ist es also wahr, dass du dein Tun vor mir verheimlicht hast? Wenn du nicht in Ungnade fallen willst, dann geh und wirb für mich um das schöne Mädchen!“ Doch Alischer war in seiner Liebe fest und unbeirrbar. Wiederum verneigte er sich und entgegnete: „Es wäre wider die Natur, wollte ein Bräutigam für einen anderen die eigene Braut werben, selbst wenn dieser andere der Padischah ist!“ Nach diesen Worten ging er davon. Sofort unterschrieb Schah Hussejn einen Firman, nach dem Alischer aus Samarkand verbannt wurde, und ernannte Madsheddin zu seinem Brautwerber.
Auf schaumbedecktem Pferd kam Alischer mit der Unglücksbotschaft zum Hause des Webers Abu Salich geritten. Unter Tränen berichtete er seiner geliebten Güli im Blumengarten inmitten duftender Rosen vom Untergang ihrer Liebe. „In dieser Welt der Tyrannei und Unterjochung gibt es für den Menschen kein Glück!“ rief er niedergeschlagen ob seiner Machtlosigkeit. „Lieber sterbe ich, als dass ich Hussejns Gemahlin werde!“ beteuerte Güli. Mittlerweile erschien im Hause Abu Salichs der Wesir Madsheddin mit den Geschenken des Schahs. Abu Salich setzte den hoch angesehenen Brautwerber auf den Ehrenplatz, ging in den Garten und sagte, ohne Alischer anzusehen: „Mein Schwiegersohn hätte ein Wesir sein können, aber das Schicksal will es, dass ich Schwiegervater des Schahs werde.“ Da wiederholte Güli die Worte, die sie eben ihrem geliebten Alischer gesagt hatte: „Lieber sterbe ich, als dass ich Hussejns Gemahlin werde!“ – „Weh über mein Haupt!“ rief Abu Salich. „Der Schah wird uns deine Weigerung nicht verzeihen. Er wird mein Haus in Rauch verwandeln, und von mir wird nicht einmal ein Häufchen Staub übrig bleiben!“ Abu Salich jammerte und weinte und flehte sie an, ihn und die Angehörigen nicht zugrunde zu richten. Doch Güli blieb unbeugsam. Da kehrte Abu Salich zu Madsheddin zurück, warf sich vor ihm zu Boden und stammelte: „Ihr Verstand hat sich verwirrt. Sie hat nein gesagt, aber ich beschwöre Euch: meldet dem Schah nichts davon! Sie wird noch einsehen, dass es besser ist, eine Sklavin des Schahs zu sein als die Gemahlin eines Wesirs!“
Madsheddin entfernte sich, nachdem er angekündigt hatte, nach dem Abendgebet um den Bescheid zu kommen. Bevor er davon ritt, drohte er mit lauter Stimme: „Ich schwöre, dass ich dieses Mädchen, wenn es nicht von selbst einwilligt, an einer Wurfschlinge in den Palast schleifen werde!“ Das Mädchen zog sich zurück und kehrte bald danach mit zwei Schalen Wein zurück. Eine reichte sie ihrem Liebsten mit den Worten: „Trennung ist bitterer als der Tod. In dieser Schale Wein sehe ich die Erlösung von dem schlimmen Los, ein Spielzeug in den Händen des Schahs zu werden.“ Noch ehe Alischer ihr Einhalt gebieten konnte, leerte Güli die Schale bis auf den Grund. „War der Wein vergiftet?“ fragte er. Das Mädchen nickte schweigend. Wortlos nahm Alischer seine Schale und trank sie aus. „Ohne die Liebe meiner Güli hat das Leben für mich keinen Sinn“, schwor er. Die Lippen der beiden Liebenden vereinten sich im Kuss. Nach dem Abendgebet erschien Madsheddin von neuem im Hause des Webers. Güli fürchtete, der grausame Schah würde seine Drohung wahr machen, ihre Angehörigen vernichten und ihr Haus verwüsten lassen, darum sagte sie zu ihrem Vater: „Ich bin einverstanden – nur unter einer Bedingung: Die Hochzeit darf erst in vierzig Tagen stattfinden.“ Schah Hussejn ließ eine prunkvolle Hochzeit richten und überhäufte Abu Salich mit Gold. Der Firman über Alischers Verbannung wurde aufgehoben. Während der Hochzeitsfeier schlich sich Alischer Nawoi als Wandermönch verkleidet in den Harem, um von seiner Liebsten Abschied zu nehmen.
Er fand Güli auf dem Krankenlager. Ein schwerer, ermattender Fieberanfall quälte sie. Aber sie war schön wie zuvor, und der heiße Glanz ihrer Augen stritt mit dem kalten Flimmern der Sterne. „Ich werde niemals die Gattin des Schahs“, stammelte sie. „Das Gift wirkt schon – ich sterbe.“ In tiefer Trauer erwiderte Alischer: „Auch ich habe das Gift aus deinen Händen genommen, Liebste, fühle aber keine Anzeichen der Krankheit.“ Da gestand Güli: „Seit der Erschaffung der Welt gab es keine Liebende, die den Geliebten mit eigner Hand tötete. In deiner Schale, Seele meines Lebens, ist reiner Wein gewesen!“ – „Oh, ich Unglücklicher! Warum hast du so grausam gehandelt?“ – „Ich tat es, damit du mich niemals vergisst, Liebster!“ In diesem Augenblick kam Schah Hussejn wutentbrannt in das Gemach gestürzt. Einer der Eunuchen war in den Festsaal gegangen und hatte ihm zugetragen, dass Alischer im Harem sei. Der Schah zückte den blanken Säbel. „Wer immer es wagt, die Unantastbarkeit meines Harems zu durchbrechen, ist des Todes!“ schrie er. „Still, stört ihren Schlaf nicht!“ erwiderte Alischer und wies auf Güli. „Verlassen wir das Gemach, erhabener Schah, und lassen wir sie in Frieden ruhen!“ Da sah Schah Hussejn, dass Güli tot war, ließ seinen Säbel fallen und wankte hinaus. Alischer hob den Säbel auf, ging ins Nebengemach und wandte sich an Hussejn: „Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass die Fackel meines Lebens in den Strom des Vergessens tauche. Nimm deinen Säbel und töte mich!“ Er hielt Hussejn den Säbel hin.
Es wird erzählt, dass Hussejn seine Tat bereut und seinen Wesir Alischer nicht enthauptet haben soll. Ja, nicht nur das. Er soll ihn umarmt und ihm ewige Freundschaft gelobt haben. Der weise Alischer blieb Großwesir des Staates. Keine Angelegenheit wurde am Fuße des Thrones ohne seinen Rat entschieden. Man erzählt aber auch, dass Hussejn bis ans Ende seiner Tage in seinem Herzen Groll gegen Alischer bewahrt habe, denn wer weiß nicht, dass Menschen häufig gerade zu Feinden derer werden, denen sie selbst Böses zugefügt haben. Der feige und grausame Hussejn fürchtete, dass Alischer sich eines Tages rächen könnte. Die Freundschaft zwischen Schah und Wesir zerfiel. Viel Kummer und Leid musste Alischer deshalb durchmachen.
Seine Liebe zur schönen Güli bewahrte der weise Dichter Alischer Nawoi bis zu seinem Tode. Deshalb blieb sein Blick nie mehr an einem Mädchen haften, selbst wenn sich dessen Schönheit mit der Sonne, dem Mond und allen Sternen des Himmelszeltes messen konnte.
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Quelle:
(Usbekistan)

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