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Anderthalb Handvoll

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Einst lebte ein Bauer, der sich im Lauf der Jahre ein schönes, reiches Anwesen erarbeitet hatte.
So konnte er es sich sogar leisten, seinen jüngeren Bruder Joschka bei sich aufzunehmen, obwohl jener kaum zur Arbeit zu gebrauchen war.
Er konnte sich nicht die einfachsten Dinge länger als eine halbe Stunde merken und war auch nicht besonders hell im Kopf.
Eines Tages sprach der Bauer: „He, Joschka, tu mir einen Gefallen. Hier hast du drei Kupfermünzen. Geh damit in die Stadt und kauf anderthalb Handvoll Salz. Aber vergiss es diesmal nicht wieder!“
Eifrig nahm Joschka das Geld und machte sich auf den Weg. Und damit er auch wirklich nicht vergaß, was er besorgen sollte, murmelte er unablässig vor sich hin: „Anderthalb Handvoll, anderthalb Handvoll…“

Sein Weg führte an einem Feld vorbei, auf dem ein Bauer eben Korn aussäte. Bei jedem Wurf sprach er: „Mögen aus jedem Korn tausend neue wachsen!“
Da hörte er plötzlich Joschkas Gemurmel, warf den Körnersack zur Erde und stürzte sich auf den Ahnungslosen.
„He, du Tropf, willst du mich verhöhnen? Ich wünsche mir für jedes Korn tausend neue und du faselst etwas von anderthalb Handvoll! Wenn du das noch einmal sagst, gerbe ich dir tüchtig das Fell!“
Erschrocken stammelte Joschka: „A… aber was so… soll ich denn sagen?“
Der Bauer ließ ihn los und belehrte ihn: „Wenn du wieder jemandem wie mir begegnest, dann sage ‚Tausend auf eins!‘ und du wirst erfreut begrüßt werden.“

Joschka versprach, sich das zu merken und zog weiter.
Nicht lange, so kam ihm ein Trauerzug entgegen.
Eingedenk der erhaltenen Mahnung schrie der Belehrte: „Tausend auf eins, tausend auf eins!“
Doch kaum hatten die Trauernden dies vernommen, ließen sie den Sarg fallen, ergriffen Joschka und verpassten ihm eine saftige Tracht Prügel.
Jammernd fragte der Ärmste: „Wieso habt ihr mich geschlagen? Ich dachte, für meine Worte würde ich erfreut begrüßt werden.“

„Dummkopf!“, sprach ein Mann. „Wenn dir Trauernde entgegenkommen, kannst du doch nicht wünschen, dass tausend auf einen Toten folgen! Zieh statt dessen deine Mütze, tritt still auf sie zu und sage: ‚Möge dieses Unglück das letzte in eurer Familie sein.‘ So entgehst du einer erneuten Abreibung.“

Sich bedankend zog Joschka weiter, wobei er sich ab und zu seine schmerzende Kehrseite rieb.
Nicht lange darauf hörte er wieder Stimmen und ging neugierig hin, um zu sehen, was denn dort los wäre.
Eine Hochzeit wurde gefeiert, in einem großen Hof saßen die Gäste, schmausten, tranken und ließen es sich wohl ergehen.
Joschka, der ja nun wusste, was sich gehört, trat mit der Mütze in der Hand zu dem Brautpaar und sprach in tiefem Ernst: „Möge dieses Unglück das letzte sein, das eure Familie heimsucht…“ Doch kaum hatte er ausgesprochen, tanzten schon die Fäuste des Bräutigams und seiner Brüder auf dem Buckel des Pechvogels.
„Aua! Au!“ Joschka schrie wie am Spieß. „Ich habe doch nur gesagt, was mir aufgetragen wurde!“

Die Hochzeitsgäste schüttelten die Köpfe und der Brautvater sprach: „Du Tropf! Eine Hochzeit ist ein wunderbares Ereignis, das man gebührend würdigen muss. Am besten ist, wenn du deine Mütze hochwirfst und schreist: ‚Es lebe das Brautpaar!‘, dann wird man dich mit Met und Pasteten bewirten.“

Sich tief verbeugend, wobei sein Buckel fürchterlich schmerzte, dankte Joschka für die Lektion und zog humpelnd weiter.
Als er an einem Teich vorbeikam, entdeckte er im Schilf zwei Jäger, die sich dort versteckt hatten, um Enten zu schießen.
Joschka dachte: ‚Jetzt mache ich es aber richtig!‘, sprang auf die beiden zu, schwenkte seine Mütze und schrie begeistert. „Es lebe! Es lebe!“ Das Brautpaar hatte er schon wieder vergessen.
Aus dem Schilf flog schnatternd ein Schwarm Enten auf und davon, die Jäger hatten das Nachsehen und Joschka bekam zum dritten Mal an diesem Tag das Fell gegerbt.
Schluchzend saß er auf der Erde, Kopf und Glieder schmerzten und vorwurfsvoll fragte er die Jäger: „Was habe ich denn nun schon wieder falsch gemacht? Immer tue ich, was mir die Leute sagen und jedes Mal kriege ich fürchterliche Hiebe.“
Die Männer erklärten ihm, dass er mit seinem Geschrei die Vögel verscheucht und sie so um ihre Beute gebracht hätte.
„Du kannst nicht einfach so herumschreien“, sagte einer. „Halt den Mund und schleich leise vorbei, dann ärgerst du niemanden, keiner sieht dich und dein Buckel kann sich erholen.“

Das hielt Joschka für eine gute Idee und er schleppte sich, grün und blau gehauen, weiter in Richtung Stadt.
Schon sah er die ersten Häuser und plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er ja eigentlich etwas für seinen Bruder erledigen sollte. Aber was war das nur gewesen?
Grübelnd stand er da, als ein paar Häuser weiter Tumult ausbrach.
Eine Frau schrie: „Diebe, Diebe, sie haben meinen Schmuck gestohlen!“
Erschrocken duckte sich Joschka in den Schatten. Wie hatte der Jäger gesagt? Still sein und vorsichtig vorbeischleichen!
Also drückte sich der Ärmste an der Hauswand entlang um die Ecke, aber die Frau hatte ihn entdeckt und kreischte wie wild: „Da! Da ist der Dieb, er versucht sich davonzuschleichen! Packt ihn und werft ihn ins Gefängnis!“

Die Nachbarn stürzten sich auf Joschka, ergriffen ihn und führten ihn ins Gefängnis.
Unterwegs versuchte der Geplagte, den Irrtum zu erklären, aber sie sprachen: „Das sind alles Lügen, du bist ertappt!“ und knufften und kniffen ihn gehörig.

Als Joschka zum Sonnenuntergang noch nicht zurück auf dem Bauernhof war, begann der Bauer, sich zu sorgen.
Er schwang sich aufs Pferd und ritt in die Stadt, um seinen jüngeren Bruder zu suchen. Im Gefängnis fand er ihn schließlich, klärte die Sache auf und nahm Joschka mit nach Hause.
Zum Einkaufen hat er ihn aber niemals wieder geschickt.

Grusinisches Märchen

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