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Märchenbasar

Bei Familie Storch

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Auf dem Gutshaus, am Rande des Dorfes gelegen, thronte ein mächtiges Storchennest. Es wurde bewohnt von Vater und Mutter Storch und ihren drei Kindern.
„Besorgst du schon mal das Frühstück, Schatz?“, fragte die Störchin ihren Mann. „Ich bringe derweil das Nest in Ordnung. Unsere Kleinen scheinen wieder einen gewaltigen Appetit zu haben.“ Sie beruhigte die langsam erwachenden Kinder, die, sobald sie die Augen aufschlugen, nach Nahrung jammerten.
„Ich fliege schon, meine Liebe.“, antwortete Vater Storch. „Hast du einen bestimmten Wunsch? Eine paar fette Mäuse oder besonders saftige Regenwürmer? Vielleicht kann ich auch ein leckeres Fischlein nur für dich aus dem Teich ergattern, bis später.“ Er lachte und flog davon. Seine sah Frau ihm hinterher, als er elegant in Richtung Wiese segelte. Er war ja so nett und immer gut gelaunt, obgleich die Futtersuche für sie beide eine große Strapaze war. Nachher würde sie ihn ablösen, damit er ein wenig verschnaufen konnte. Die beiden ließen ihre Jungen nie für längere Zeit allein, sondern wechselten sich stets ab.

Ja, es war anstrengend Kinder aufzuziehen. Wochenlang mussten die Eltern von morgens bis abends auf Futtersuche für die kleinen Nimmersatte gehen. Zärtlich betrachtete die Störchin ihre kleinen Federbällchen, die wie gebannt auf den Rand des Nestes starrten. Ungeduldig warteten sie auf ihre Mahlzeit. „Ihr kleinen Vielfrasse“, dachte sie liebevoll „Na ja, das Gröbste ist fast überstanden. Bald könnt ihr fliegen, dann geht’s gemeinsam zum Essen auf Wiese und Feld.“
Die Jungen wurden unruhig, ihr Vater landete mit dem Futter bei ihnen. Ausgehungert stürzten sie sich auf die mitgebrachten Leckerbissen. Zum Schluss hatte er doch tatsächlich, wie versprochen, noch ein silbrig glitzerndes Fischlein für seine Gefährtin mit dabei. „Hier, der ist für dich“, sagte er warm, und schon war er wieder weg, um Nachschub zu besorgen.
Sie war gerührt und freute sich sehr.

Wenn die kleinen Storchenkinder am späten Abend satt und müde schliefen, schauten die erschöpften Eltern aus luftiger Höhe über die Umgebung. Nun konnten sie sich endlich ein wenig entspannen. Die beiden hörten dem warmen Abendwind zu, der leise in den Bäumen rauschte. Rehmütter traten mit ihren Kitzen vorsichtig aus dem nahen Wald, um auf der Wiese nach Kräutern zu suchen. Ein paar Fuchsjunge tollten noch ausgelassen vor ihrem Bau herum, als der Mond langsam aufging. Einige Enten schnatterten auf dem Dorfteich und hielten ihr Abendschwätzchen. Vereinzelt zwitscherte ein Vogel in den Zweigen der alten Kastanien. Aus der Ferne vernahm man das gellende Rufen der Kraniche, die hinter einem Hügel ihr Nachtquartier bezogen hatten. Die Turmuhr der kleinen Kirche schlug, und irgendwo bellte ein Hofhund. Allmählich wurde es unter ihnen immer ruhiger, das Dorf ging schlafen.

Leise unterhielten sich die Storcheneltern.
„Unsere Kinder sind jetzt soweit, dass sie fliegen lernen müssen“, meinte der Vater.
„Ich weiß“, antwortete seine Frau, „einige aus den Nachbarhorsten haben schon mit dem Üben begonnen. Meinst du, wir sollten es morgen mal mit ihnen probieren?“
„Warum nicht?“, entgegnete er. „Je eher, desto besser, bis zu unserem Abflug ist es nicht mehr lange hin.“
„Na, das wird wieder aufregend“, sie lachte still vor sich hin.
„Ganz sicher“, schmunzelte der Storchenvater, „es ist ja in jedem Jahr so mit unserem Nachwuchs. Es ist ein weiter Weg nach Afrika und die drei müssen noch viel lernen. Lass uns also in aller Frühe mit dem Unterricht beginnen, meine Liebe.“

Der nächste Morgen versprach ein herrlicher Sommertag zu werden, ideales Flugwetter kündigte sich an. Nach dem Frühstück, ermunterten die Eltern ihre Sprösslinge zu den ersten Versuchen. Aufgeregt standen die Jungen am Nestrand und flatterten mit den Flügeln. Sie trauten sich einfach nicht. Ängstlich meinten sie: „Wir würden wirklich gerne fliegen, nur wie sollen wir es anstellen?“
„Na hört mal, das lernt ihr doch von uns. Wir üben solange mit euch, bis ihr ebenso gut fliegen könnt wie wir“, antworteten Vater und Mutter geduldig. Unermüdlich zeigten sie ihnen, wie man startet und landet. Die beiden brachten ihnen auch bei, wie man sich in der Luft hält, oder das schöne Segeln im Sommerwind.
„Es ist ganz einfach“, riefen sie den kleinen Angsthasen zu, „nur Mut!“
„Huch, ist das hoch“, sagte eines der Jungen immer noch zaudernd.
„Aber das muss es, sonst klappt es mit dem Fliegen nicht.“, meinte die Mutter. „Wie sollen wir denn nach Afrika kommen, wenn ihr es nicht lernt? Seht euch mal um. Der Nachwuchs der anderen Familien übt sehr fleißig. Sie sind jetzt keine kleinen Kinder mehr, sondern Jungstörche, das macht sie mächtig stolz.“

Auch auf den umliegenden Horsten herrschte reges Treiben. Die Jungvögel waren emsig bei der Sache. Einige, die schon ein wenig fliegen konnten, bekamen gar nicht genug davon. Es sah zwar noch ein wenig unbeholfen aus, und manch einer landete statt zurück ins Nest, auf dem kleinen Kirchturm oder dem Feuerwehrhaus. Aber wie lautet ein altes Sprichwort? „Übung macht den Meister“. Der Ehrgeiz packte die drei Storchenkinder: „Was die können, schaffen wir auch“, sagten sie überzeugt, „doch was ist Afrika?“
„Das ist ein Land, weit weg von hier.“, erklärte ihnen der Vater. „Wir erzählen euch später davon, jetzt wird erst geübt. Wer macht den Anfang?“
„Ich“, riefen alle gleichzeitig.
Die Eltern lachten: „Na also! Erst traut sich niemand, und dann wollen alle auf einmal. Nun los, aber bitte einer nach dem anderen, sonst gibt es ein Chaos.“

Der erste fasste sich ein Herz, und sprang vom Nestrand in die Tiefe.
„Meine Güte.“, schrie seine Mutter entsetzt auf, „öffne gefälligst deine Flügel, wofür hast du sie denn?“
Er trudelte mit klopfendem Herzchen, hin und her schwingend, genau auf die Dorfsraße zu. Die Eltern erstarrten. Da, endlich spannte er seine Flügel auf. Stolpernd landete der kleine Storch: „Hui, hui“, dachte er bei sich, „das war knapp, aber es ist ein wirklich schönes Gefühl.“
Erleichtert atmeten die Eltern auf: „So, jetzt wieder nach oben“, riefen sie ihm zu. Das war aber gar nicht so einfach, runter ging es eindeutig leichter. Nach ein paar vergeblichen Versuchen gewann er an Höhe. Jedoch schaffte er es nicht direkt bis ins Nest zurück, sondern landete unterwegs zuvor auf einem Stall. Von dort ging es dann weiter nach oben.
„Hab noch einen kleinen Zwischenstopp eingelegt“, kicherte er, jetzt schon übermütig werdend. „Scherzkeks.“, grinste sein Vater. „War aber gar nicht schlecht für den Anfang.“ „Fliegen ist ja so toll“, meinte der Kleine und bettelte, „kann ich gleich noch mal? Bitte, bitte!“
„Nö, wir sind dran“, meldeten sich seine Geschwister, die es nun nicht mehr abwarten konnten. Gleichzeitig sprangen sie aus dem Nest.
„Hatten wir nicht nacheinander gesagt?“, fragte die Mutter seufzend. Die zwei hörten es schon nicht mehr. Sie segelten, gefolgt von ihrem Bruder, in die Tiefe. Einer landete in einem Tümpel, der andere machte eine Bruchlandung auf einem Misthaufen. Die Hühner stieben erschreckt auseinander. Sie gackerten was das Zeug hielt: „Jedes Jahr dasselbe Drama mit dem Jungvolk. Einen so zu erschrecken, da vergeht unser einem ja das Eierlegen.“
Der dritte im Bunde, stürzte mitten auf eine Kuhweide. Die Kühe waren so verdattert, dass sie das Grasen vergaßen. Mit ihren großen Augen starrten sie ihn sprachlos an.
„Nichts für ungut und einen schönen Tag noch.“, meinte der kleine Storch fröhlich zu ihnen. Er rappelte sich wieder auf. „Ich lerne heute fliegen müsst ihr wissen, das ist gar nicht so einfach.“
Mit den Flügeln schlagend rannte er über die Wiese, bis es ihm gelang, wieder aufzusteigen. Verduzt sahen die Kühe ihm nach. Auf einem der Höfe stand ein Bauer in der Tür. Lachend rief er seiner Frau zu: „Du, ich glaube die Storchenkinder sind flügge geworden.“

Die Eltern hatten das Ganze besorgt mit angesehen, und schlugen ihre Flügel über dem Kopf zusammen.
„Wir haben ja gewusst, es wird aufregend.“, sagte der Vater. „Gott sei Dank ist keinem etwas passiert.“
Die Mutter atmete erleichtert auf, sie zog es vor zu schweigen.
„Komm mit nach unten, wir sammeln die Jugend wieder ein.“,meinte er lächelnd zu ihr. „Mach dir keine Sorgen, mein Herz. Sie haben den ersten Tag gut hinter sich gebracht, der Rest ist nur noch Fleiß.“
Später lagen die Jungen erschöpft, aber glücklich im Nest. Plötzlich kreiste eine Gruppe von Störchen über der Familie.
„Hey Leute“, riefen sie den Eltern zu, „wie weit sind eure Kinder? Bald geht’s auf die große Reise.“
„Sie üben fleißig“, riefen die beiden zurück, „ bis zum Abflug werden sie perfekt sein.“
„Müssen sie auch“, antworteten die Störche, „es ist schließlich ein weiter Weg bis nach Afrika. Wir wollen noch zu den nächsten Nachbarn. Bis bald beim Start.“ Sie drehten ab und flogen weiter.
Die drei Jungstörche waren hellwach. Schon wieder dieses Afrika. Warum sollte die Familie eigentlich auf eine große Reise gehen? Es war doch schön hier. Sie kannten die Umgebung, es gab genug Futter, und man konnte herrlich mit den anderen Storchenkindern spielen. Die Kleinen bestürmten ihre Eltern geradezu mit ihren Fragen. „Schon gut, schon gut“, lachten Vater und Mutter, „wir erklären es euch ja schon.“ Als sie begannen, wurde es mucksmäuschenstill im Horst.

„In jedem Jahr, wenn der Sommer zu Ende geht, fliegen wir Storchenfamilien zusammen in ein fernes Land, das Afrika heißt. Es ist sehr, sehr weit weg. Man braucht große Ausdauer, um dieses Ziel zu erreichen. Wir fliegen über Berge und Täler, Dörfer und Städte. Auch viel Wasser gilt es zu überqueren, bis wir endlich dort ankommen. Die Reise ist nicht gefahrlos. Manch einem von uns stieß unterwegs schon ein Unglück zu, weil er in eine der Hochspannungsleitungen, oder die riesigen Windräder geraten ist. Wir sind dann immer sehr traurig. Also merkt es euch: Vorsicht bei Leitungen und diesen Windrädern.“
„Aber wieso bleiben wir nicht einfach hier, wenn es gefährlich und anstrengend ist?“, fragten die Jungen.
Ernst fuhren die Eltern fort: „Ihr Kinder kennt in eurem jungen Leben bisher nur den Sommer mit seiner Wärme. Ihr habt täglich ausreichend Futter, Spiel und Spaß. In ein paar Wochen sieht es hier jedoch ganz anders aus. Die Sonne versteckt sich immer häufiger hinter dicken, grauen Wolken. Die Bäume verlieren ihr Laub, es regnet und stürmt viel. Etwas später wird es bitterkalt. Nahrung ist dann für uns Störche kaum noch vorhanden, wir müssten jämmerlich zugrunde gehen. Winter nennen die Menschen diese Zeit, in der die Natur schläft.
„Oh, wir möchten nicht hungern und frieren“, sagten die Kleinen erschauernd. „das wäre ja schrecklich!“ Aufgeregt klapperten sie mit den Schnäbeln.
„Ja, seht ihr, aus diesem Grunde fliegen wir so weit fort, und kommen erst mit dem Frühling wieder zurück.“, erklärten die Storcheneltern weiter. „Aber wir Störche sind nicht die einzigen, die für eine Weile fortziehen. Außer uns machen sich auch Graureiher, die ihr schon oft am Teich gesehen habt, Schwalben, der Kuckuck, die Stare und Kiebitze, und viele mehr auf den weiten Weg. Doch nicht alle fliegen mit uns bis nach Afrika. Manche bleiben unterwegs in den südlichen Ländern, die Italien und Spanien heißen.“
Neugierig wurden sie unterbrochen: „Wie sieht Afrika aus? Ist es da so wie bei uns?“
„Afrika ist ein schönes, warmes Land.“, lautete die Antwort. „Ihr werdet Tiere und andere große Vögel kennen lernen, von denen ihr noch nie gehört habt.“ Die Kleinen wurden immer unruhiger.
„Dann lasst uns schnell hinfliegen.“
Die Eltern lachten: „Langsam, langsam, erst müsst ihr noch tüchtig üben. Ab Morgen unterrichten wir euch auch im Jagen, denn auf der Reise ist jeder selbst für seine Mahlzeiten verantwortlich. So, aber nun ist Schluss für heute. Es ist spät geworden, ihr braucht euren Schlaf.“
„Wie spannend das alles ist.“, flüsterten die drei. Die Augen fielen ihnen schon fast zu vor Müdigkeit.

Das Jagen war eine ziemlich mühselige Angelegenheit, wenn man es selbst besorgen musste. Mit großer Geduld zeigten die Eltern es ihnen, immer und immer wieder. Noch waren die Kleinen ein wenig ungeschickt, und manch ein Leckerbissen entkam ihnen. Ein aufs andere Mal seufzten die Storchenkinder: „Es ist ganz schön anstrengend, erwachsen zu werden.“
Einer von ihnen entdeckte auf der Wiese ein Kaninchen. Langsam hoppelte es vor ihm her. Was war denn das für eine große Delikatesse? Eilig nahm er mit langen Schritten die Verfolgung auf, und schnappte mit seinem Schnabel zu.
„Autsch!“, schrie das Kaninchen. „Wie kommst du dazu, mich zu zwicken? So eine Unverschämtheit. Halte dich lieber an Mäuse und Frösche, für dich bin ich eine Nummer zu groß. Einem solch einen Schrecken einzujagen.“
Empört hoppelte es davon. „Na so was!“, staunte der junge Storch. „Ich muss wohl noch viel lernen.“

Langsam ging der Sommer zu Ende. Oft stieg jetzt an kühlen Abenden Nebel über den Wiesen auf. Schwalben und Stare sammelten sich zum Abflug in wärmere Gefilde. Zwitschernd saßen sie auf den Leitungen. Die Getreidefelder waren abgeerntet, goldgelb lagen sie in der Sonne, unterbrochen von grünen Wiesen und Maisfeldern. Die Blätter der Bäume färbten sich bunt. Raschelnd schwebten sie durch den sanften Wind zur Erde. Die stacheligen Kastanien reiften langsam heran. An den Zweigen der Obstbäume, hingen rotwangige, pralle Äpfel und saftige Birnen. Dicke, weiße Flauschwolken türmten sich am tiefblauen Himmel auf. Es wurde zusehends ruhiger in der Natur.

Im Storchennest herrschte große Aufregung. Die Zeit war gekommen, Abschied vom Dorf zu nehmen.
„Also Kinder“, sagten Vater und Mutter Storch, „es ist soweit. Morgen in aller Frühe brechen wir auf. Unterwegs werden wir uns mit den anderen Familien zusammenschließen, dann heißt es: „Auf nach Afrika!“
Sie gaben ihnen noch einige wertvolle Ratschläge und ermahnten sie zu ruhen, denn anstrengende Tage warteten auf sie.
In dieser Nacht war es sehr klar. Wunderhübsche Sternschnuppen jagten über den nächtlichen Septemberhimmel, als die Störchin leise zu ihrem Mann sagte: „Ich wünsche mir sehr, dass wir alle die Strapazen dieser Reise gut überstehen. Sieh sie dir an, unsere drei, sie sind fast erwachsen. Wie schnell doch die Zeit vergeht.“
„Ja, du hast recht“, antwortete er zärtlich, „aber so ist das Leben, mein Herz. Im nächsten Sommer ziehen wir beide hier wieder Kinder auf, was meinst du?“
Liebevoll sah sie ihn an: „Natürlich machen wir das, Schatz, wie in jedem Jahr.“

Als sich Familie Storch am nächsten Morgen in die Lüfte erhob, ging die Sonne gerade glutrot am Horizont auf.
Die Dorfbewohner sahen ihnen nach und riefen wehmütig: „Gute Reise, kommt im Frühling alle wieder gesund zurück!“

Quelle: Dagmar Buschhauer

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