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Boschkwädosch

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Einst lebte ein Mann ganz allein auf der Welt. Er wußte nicht, woher er kam, nicht, wer seine Eltern waren, und auch nicht, ob es außer ihm jemals andere Menschen gegeben hatte. Er irrte ständig im Wald umher, seine Augen drehten sich forschend nach allen Seiten; was er aber eigentlich suchte, wußte er selbst nicht zu sagen.
Als er sich einst müde und erschöpft neben eine dicke Eiche gelegt hatte, schlief er sanft ein und hatte einen merkwürdigen Traum. »Nokomis«, sprach eine Stimme zu ihm, »warum bist du so trübe und traurig? Steh auf; ich will dir helfen!«
Darauf erwachte er und sah ein winziges haarloses Tierlein vor sich, das war doch so klein, daß man es kaum mit den bloßen Augen sehen konnte. »Nokomis!« schrie es mit lauter Stimme. »Hebe mich auf, und wickle mich in deine Bauchbinde, und solange du mich so bei dir tragen wirst, wird dir alles gelingen, was du anfängst.«
Das tat denn auch der gute Mann, und er wanderte darauf weiter.
Nach langem Hinundherirren entdeckte er ein großes Dorf dicht vor sich, das von einer breiten Straße durchschnitten war. Was ihm bei diesem hauptsächlich merkwürdig vorkam, war, daß die Häuser auf der einen Seite ganz mit Menschen überfüllt waren, während die auf der anderen vollständig leer standen.
Als ihn die Bewohner sahen, liefen sie alle auf die Straße und schrien: »Seht, das ist Anischinabo, der Mann, von dem uns unsere Propheten erzählt haben! Seht seine Augen, seht, wie seine Zähne im Halbkreis stehen und wie ihm die Gedärme in seinem Bauch zusammengerollt sind!« Es schien, als konnten jene Leute durch seinen ganzen Körper sehen.
Mudschikihwis, der Sohn des Königs, schien besonderen Gefallen an ihm zu finden; denn er nahm ihn mit in das Haus seines Vaters, setzte ihm allerlei nahrhafte Erfrischungen vor und gab ihm die schönste seiner Schwestern zur Frau.
Die ganze Beschäftigung jenes Volkes bestand in Jagen und Spielen, und als sich unser Held von den Strapazen seiner anstrengenden Reise vollständig erholt hatte, wünschte er ebenfalls daran teilzunehmen. Doch da sollte er zuerst eine merkwürdige Frostprobe bestehen. Er sollte nämlich mit einigen anderen jungen Leuten eine Nacht nackt auf einem zugefrorenen Teich vor dem Dorf zubringen. Zwei Jünglinge begleiteten ihn hin, zogen sich dann aus, legten sich nieder und befahlen ihm, dasselbe zu tun.
Er zog sich nun ebenfalls aus, behielt jedoch seine dünne Binde mit dem Boschkwädosch – seinem Schutzgeist – um den Leib, denn er wußte nur zu gut, daß darin seine ganze Kraft bestand. Seine Gesellschafter verlachten und verscherzten die erste Hälfte der Nacht und schienen dabei sehnlichst das Erstarren des Fremden zu erwarten. Aber eine angenehme Wärme verbreitete sich aus dem Amulett des Jünglings über seinen ganzen Körper, und als er seine Gefährten kurz nach Mitternacht anrief, waren ihnen die Zungen schon so steif gefroren, daß keiner ein Wort mehr lallen konnte. Doch er blieb ruhig liegen bis zum Tagesanbruch; dann stand er auf und rüttelte und schüttelte sie aus Leibeskräften. Aber diese waren so hart wie Eis; das Fleisch war ihnen unter den Nägeln hervorgequollen, und ihre Augen standen weit aus dem Kopf. Als er sich jedoch den Schlaf recht aus den Augen gerieben und sie etwas genauer betrachtet hatte, fand er zu seinem größten Erstaunen, daß sich beide in riesige Büffel verwandelt hatten.
Er band sie nun zusammen, lud sie auf seine Schultern und schleppte sie in das Dorf. Dort freute sich aber nur einer aufrichtig über seine Wiederankunft, nämlich sein Schwager Mudschikihwis, denn die anderen hatten alle mit seinem Tod gerechnet.
Unser Glückskind legte nun seine Bürde ruhig nieder; doch bald verschwand diese wieder vor seinen Augen auf unerklärliche Weise, und in einem gegenüberstehenden Haus, das vorher leer war, zeigten sich auf einmal zwei neue Bewohner. Weitere Frostproben, denen er sich unterziehen mußte und die einen ähnlichen Verlauf nahmen, bevölkerten jene Straßenseite allmählich vollständig.
Nun hatte sich unser Held auch noch der Probe des Schnellaufens zu unterwerfen. Er fand sich auf dem bestimmten Platz ein und begann den Wettlauf. Sein Rivale verwandelte sich aber plötzlich in einen Schwarzen Bären und riß den Boden hinter sich auf, so daß er ihn natürlich in kurzer Zeit weit zurückließ. Nun gedachte der Jüngling seines Schutzgeistes und wünschte sich die Schnelligkeit Käkäks oder des Habichts. Augenblicklich hob er sich in Gestalt dieses Vogels in die Luft und erreichte das Ziel noch eine halbe Stunde vor dem Bären.
Mudschikihwis empfing ihn wieder freundschaftlich; den zu Tode erschöpften Bären aber, dem die Zunge ellenlang aus dem Hals hing, schlug er erbarmungslos mit seiner Keule nieder. Dann holte er seine dickste Kriegskeule herbei, hielt allen Leuten, die den Tod seines Freundes gewünscht hatten, eine donnernde Strafpredigt und zerschmetterte sie darauf alle ohne Gnade und Barmherzigkeit. In dem Augenblick, wo sie niederstürzten, waren sie jedoch keine Männer mehr, sondern Hunde, Füchse, Wölfe, Jaguare, Luchse, Mäuse, Ratten, Frösche usw.
Als die übrigen Bewohner des Dorfes das traurige Schicksal ihrer Brüder erfuhren, beriefen sie eine große Versammlung ein und unterzogen den Verlauf der Frostprobe und der Schnelläuferei einer eingehenden Untersuchung. Jeder strengte sein Redetalent nach Kräften an, und nach langem Debattieren wurde denn beschlossen, daß, da es bei der ersten Probe nicht mit richtigen Dingen zugegangen zu sein schien, diese noch einmal zu wiederholen sei.
Der Fremde ging abermals darauf ein, vergaß aber an dem bestimmten Tag, seinen kleinen Schutzgeist mitzunehmen. Da wurden denn gegen Mitternacht seine Glieder steif wie Eisen, sein Blut hörte auf zu zirkulieren, und als man ihn am anderen Morgen aufhob, war er mausetot. Stolz trugen ihn nun seine Feinde in das Dorf, wo sie mit Jubel empfangen wurden. Der Körper wurde in ganz kleine Stücke zerschnitten, so daß jedermann einen Bissen davon kosten konnte.
Mudschikihwis war zu Tode betrübt; seine Schwester aß und trank nicht mehr und war wie von Sinnen. Als sie nun einst weinend und schluchzend in der Nacht ihres ermordeten Gatten gedachte, kam es ihr vor, als höre sie etwas in ihrer Nähe wispern. Sie horchte aufmerksam und fand, daß jene Stimme aus der zurückgelassenen Bauchbinde kam. Sie wickelte sie auf, und das kleine haarlose Tierlein kroch hervor.
Boschkwädosch war so klein und unbeholfen wie ein neugeborenes Mäuslein, und wenn er drei Zoll weit ging, war er so müde, daß er ausruhen mußte. Dabei wiegte er sich aber immer hin und her und wurde darauf allmählich immer größer, und als er auf diese Art zuletzt die Größe eines gewöhnlichen Hundes erreicht hatte, lief er eilends fort.
Boschkwädosch besuchte nun in seiner Hundegestalt alle Häuser des Dorfes, sammelte alle Knochen seines geliebten Herrn und legte diese nach ihrer natürlichen Ordnung wieder zusammen. Bald hatte er sie auch alle beisammen; nur ein Fuß fehlte noch, der einer außerhalb des Dorfes wohnenden Frau geschenkt worden war. Boschkwädosch eilte nun zu ihr und fand sie gerade an dem bewußten Knochen nagend. Schnell sprang er auf sie zu, entriß ihr diesen samt ihren Backen, wonach er das Skelett komplettieren konnte. Dann stellte er sich vor dieses und begann so laut zu bellen, wie er nur vermochte. Da wuchsen die Knochen allmählich fest zusammen, und Muskeln und Fleisch bildeten sich ebenfalls daran.
Nun sah Boschkwädosch eine Zeitlang wehmütig den Himmel an, und bald bekam unser Held wieder Atem, konnte aufstehen und sich bewegen. »Du lieber Himmel, ich habe mich verschlafen!« sagte er. »Wer weiß, wie es jetzt um die Probe steht!«
»Probe?« erwiderte der Hund. »Die ist schon längst vorbei; da denkt kein Mensch mehr dran. Du hast sie nicht bestanden; dein erfrorener Körper ist zerschnitten und gegessen worden, und nur meiner Kunst hast du es zu verdanken, daß du jetzt wieder lebst. Nun will ich dir auch zeigen, wer ich bin!«
Darauf schüttelte sich Boschkwädosch gehörig, und sein Körper wuchs zu einem kleinen Berg; seine Beine wurden so dick wie ein Baumstamm, sein Kopf verlängerte sich zu einem gewaltigen Rüssel, und aus seinem Maul kamen zwei große glänzende Zähne hervor. Seine Haut blieb haarlos.
»Ich würde«, sagte er, »die ganze Erde füllen, wenn ich meine ganze Kraft anwendete; aber das wäre unklug, denn nichts vermöchte dann meinen Hunger zu stillen. Darum will ich dir meine übrige Kraft und meinen übrigen Einfluß über die Schöpfung verleihen, und Vögel und Tiere sollen hinfort deine Nahrung sein – aber meine Art mußt du verschonen!«

Quelle: Karl Knortz, Märchen und Sagen der Indianer Nordamerikas

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