Das Alpenglühen kommt freilich auch sonst im Hochgebirge vor. Wenn ein kahler Gipfel von den letzten Strahlen der sinkenden Sonne beleuchtet wird, dann „glüht“ er, das heißt, er nimmt eine rötliche Farbe an und wird immer satter, immer dunkler, bis endlich der letzte Strahl erlischt. Dieses Alpenglühen nun zeigt sich gerade am Rosengarten in ganz besonderer Schönheit. Wenn die bergumgürtete Bozner Flur mit ihren Rebgeländen, ihren Zypressen und Pinien und ihren burgengekrönten Hügeln im Abendschatten liegt, dann beginnt der hohe Dolomitberg im Osten gar wundersam zu strahlen. Die lange Zackenkette seiner Felsgipfel färbt sich rot und scheint zu glühen, als ob ein Feuer im Innern des Berges wäre. Der Hauptgipfel hat eine tiefe Mulde, deren Rand auch im Hochsommer verschneit ist; der Schneefleck leuchtet während des Alpenglühens am seltsamsten. Man nennt diese Mulde „Das Gartl“. An ihrem Grunde ist ein kleiner vereister See, der selten auftaut. Dort soll der Eingang in den Rosengarten sein – so berichtet die Sage.
Wißt ihr, was eine Sage ist? Etwas Uralt-Überliefertes, was nicht aus Büchern stammt, sondern von Leuten, die nicht lesen und nicht schreiben konnten. Wo sie die Sage her hatten, wußten sie nicht; sie war angeblich immer da und wurde erzählt und geglaubt. So ist auch der Rosengarten eine Sage; das heißt, der Berg nicht, denn der hat seine mächtige Wirklichkeit, aber die Geschichte vorn Rosengarten und vom Alpenglühen das ist eine Sage. Und sie berichtet folgendes:
Es war einmal ein Alpenkönig, der auf einem Berge voll Rosen wohnte. Diese Rosen stammten noch aus der guten alten Zeit, in der es keinen Haß und keinen Totschlag gab. Da kamen einst fremde Krieger des Weges und ihre Rosse zerstampften die Rosen. Der König, der das nicht dulden wollte, wurde überwältigt, gefangengenommen und von den fremden Kriegern fortgeschleppt. In ihrer Halle banden sie ihn an einen Pfahl, ließen ihn singen und tanzen und lachten über ihn. Einmal schliefen sie dabei ein. Da näherte sich der Gefangene dem Feuer, das in der Mitte der Halle brannte, und versengte das Lederseil, mit dem er gefesselt war. Als das Lederseil zu brennen begann, riß es, und der Gefangene wurde frei. Auf abenteuerlichen Fahrten kehrte er zurück in seine Heimat. Als er aber den Berg erblickte, der über und über voll Rosen war und in der Sonne purpurn leuchtete, da sagte der heimkehrende König: „Diese Rosen mit ihrem Schein haben mich verraten; hätten die fremden Krieger nicht diese Rosen gesehen, so wären sie nie auf meinen Berg gekommen.“
Also sprach er über die Rosen einen Zauber aus, damit sie weder bei Tage noch bei Nacht je wieder sichtbar sein sollten. Er hatte jedoch die Dämmerung vergessen, die nicht Tag und nicht Nacht ist. So kommt es nun, daß in der Dämmerung die Rosen wieder sichtbar werden, und dann steht der ganze Berg in rotem Glanze da. Das nennt man Alpenglühen.
Wenn aber das Alpenglühen aufstrahlt, dann treten die Menschen aus ihren Hütten heraus und schauen und staunen und haben eine Ahnung von der alten Zeit, wo alles schöner und besser war. –
Seht ihr, das ist eine Sage. Die Berghirten auf dem Rosengarten haben sie erzählt und gepflegt, vielleicht Jahrtausende lang, bis sie endlich aufgeschrieben wurde und in die Bücher kam. Es ist die Sage vom Alpenglühen. Aber an den Rosengarten, der so herrlich aufragt über der Bozner Flur, knüpfen sich noch weitere Sagen; von den Zwergen, von ihrem König Laurin, von der Prinzessin Similde und von dem Recken Dietrich von Berne.
Quelle:
(Dolomitens Sagen)